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06.07.2005
 

Reinhard Markner
Das unstrittig Strittige
Der Rat für Rechtschreibung laviert

Laut Dekret der Kultusministerkonferenz vom 8. April gliedert sich die Reform der deutschen Rechtschreibung neuerdings in zwei Teile: den »unstrittigen« und den »strittigen«. Zu letzterem gehören die Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung.

Immerhin aber haben sie es dem von ihnen eingesetzten Rat für deutsche Rechtschreibung unter der Leitung ihres vormaligen Kollegen Hans Zehetmair gestattet, über den Komplex der Getrennt- und Zusammenschreibung zu beraten.

Am vergangenen Freitag gab nun Zehetmair in Mannheim das Ende der Verhandlungen zu diesem besonders schwierigen Komplex bekannt. Wie schon nach den voraufgegangenen Sitzungen des Rechtschreibrats betonte er, daß sich aus den mit großen Mehrheiten gefaßten Beschlüssen eine Tendenz zu vermehrter Zusammenschreibung ergebe. Das entsprach den Erwartungen und Hoffnungen der meisten Beobachter, die deshalb die Arbeit des neuen Gremiums bisher ganz überwiegend freundlich begleitet haben. Zehetmair bekräftigte zudem die Absicht des Rates, sich in seinen Entscheidungen vom Schreibgebrauch leiten zu lassen. Kein Zweifel, die Richtung stimmt. Aber ein Blick in die bisher veröffentlichten Arbeitsergebnisse – sie betreffen die Schreibung der Verben – zeigt, daß der Rat noch lange nicht das gesetzte Ziel erreicht hat (www.ids-mannheim.de/gra/texte/para34.html).

Die Reformer waren von dem Grundsatz ausgegangen, »dass die getrennte Schreibung der Wörter der Normalfall und daher allein die Zusammenschreibung regelungsbedürftig« sei. Deren Festlegung wiederum war an »formalen Kriterien« ausgerichtet. Bedeutung und Betonung – und im Endeffekt das Sprachgefühl – sollten bewußt ausgeklammert werden.

In der Präambel der Neufassung sind diese beiden Leitsätze ersatzlos gestrichen, obwohl der erste nicht einmal neu war. »In Zweifelsfällen schreibe man getrennt«, riet schon früher der Duden. Bloß verstand das niemand als Aufforderung, »richtigstellen« oder »energiesparend« in ihre Bestandteile aufzuspalten. Daß die Reformer Wörter wie diese auf ihre Hackbank legten, hatte bekanntlich die fatale Folge sollübererfüllender Getrenntschreibungen (»herum stehen«, »Tier liebend« und dergleichen).

Während der Rat also die geheiligten Prinzipien der Reform über Bord wirft, hält er sich andererseits strikt an die Aufteilung der Neuregelung von 1996 in sechs Paragraphen. Unweigerlich verstrickt er sich dadurch in den von den Reformern hinterlassenen Regelwust.

Der erste Paragraph etwa ist nur wenig verändert, das allerdings nicht zu seinem Vorteil. Paragraph 33 betrifft die im Grunde selbstverständliche Zusammenschreibung von ohnehin »untrennbaren« Verben wie »maßregeln«, »sonnenbaden«, »langweilen« oder »widersprechen«. Er enthielt bisher den Hinweis, daß Verben wie »brustschwimmen« oder »notlanden« in der Regel nur im Infinitiv oder im Partizip gebräuchlich seien.

Das war richtig, soll aber entfallen zugunsten der Erläuterung, daß man im Indikativ »er schwimmt Brust« zu schreiben habe. So hielt es zwar schon ein deutscher Filmverleih, als er im Jahre 1967 einem Italowestern den abstrusen Titel »Der Tod schwimmt Brust in Nevada« gab. Daß nach Auffassung des Rates »eislaufen« und »er läuft eis« zu schreiben wäre, »brustschwimmen« und »er schwimmt Brust«, »Rad fahren« und »er fährt Rad«, kann aber insgesamt nicht als höhere orthographische Weisheit gelten.

»Eislaufen«, um ein weiteres Problem herauszugreifen, zählt der Neufassung von §34 zufolge zu jenen Fällen, »bei denen die ersten Bestandteile die Eigenschaften selbstständiger (!) Substantive weitgehend verloren haben«. Welche Eigenschaften das sein mögen, bleibt dunkel. Erst recht aber ist befremdlich, daß dieselbe Begründung für die Schreibung »leidtun« herhalten soll. Das Adjektiv »leid« – es muß offenbar noch einmal wiederholt werden – ist nicht und war nie identisch mit dem Substantiv »Leid«.

Noch ein Beispiel: Schon bisher schließt das Kapitel Getrennt- und Zusammenschreibung des Regelwerks mit der Freigabe der Schreibung bestimmter »Fügungen in adverbialer Verwendung«, darunter »zustande/zu Stande bringen« und »zutage/zu Tage fördern«. Von dieser Wiederbelebung archaischer Getrenntschreibungen tückischerweise nicht erfaßt sind unter anderem »zugute halten« und »zuhanden kommen«. Und dabei soll es bleiben, da der Rat den betreffenden Abschnitt des Regelwerks nicht angerührt hat. Wohl deshalb, weil er fürchtet, daß der gesamte Paragraph zu Staub zerfallen könnte.

Und schließlich: Die Revision durch den Rechtschreibrat soll endlich die amtliche Rehabilitierung zahlreicher ganz gewöhnlicher Verben wie zum Beispiel »aneinandergeraten«, »auseinandersetzen«, »schwerfallen« und »vorwärtskommen« bringen. Dagegen hatten sich die Reformer bis zuletzt, als ihre Geheimkommission aufgelöst wurde, gesträubt. Mit amtlichen Regeln, die immer noch offensichtlich fehlerhaft sind, wäre dieser Gewinn allerdings teuer bezahlt. Sie blieben, was die gegenwärtigen allemal sind: weiterhin strittig.

Der Autor ist Vorsitzender der Forschungsgruppe Deutsche Sprache und arbeitet als Historiker in Halle und Berlin.


Quelle: Süddeutsche Zeitung, 6. 7. 2005


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Kommentare zu »Das unstrittig Strittige«
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Kommentar von Süddeutsche Zeitung, 14. 7. 2005, verfaßt am 18.07.2005 um 22.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1225

Schreib doch, wie du willst Getrennt und zusammen / SZ vom 2./3. Juli

werden, wenn ein einfaches Adjektiv eine Eigenschaft als Resultat des Verbalvorgangs bezeichnet". Daraus ergäbe sich, dass man sowohl "jemanden totschlagen" als auch "jemanden tot schlagen", "jemanden bewusstlos schlagen" als auch "jemanden bewusstlosschlagen" schreiben kann. Prinzip: Schreib doch, wie du willst.

[...] durch den Arzt krank wird, das Adjektiv "krank" hier also gerade nicht eine Eigenschaft als Resultat des Verbalvorgangs bezeichnet. Nach alter Rechtschreibung galt deshalb auch nur die Schreibweise "jemanden krank schreiben [...]

denn "es wird zusammengeschrieben, wenn der adjektivische Bestandteil zusammen mit dem verbalen Bestandteil eine neue idiomatisierte Gesamtbedeutung bildet". Als Beispiel hierfür wird dann tatsächlich "jemanden krankschreiben" aufgeführt. Der Rat für Rechtschreibung will uns also weismachen, dass jemand erst durch das [...]

[...] Ergebnis: Nach den Vorstellungen des Rates für Rechtschreibung sollen wir künftig wahlweise also "jemanden totschlagen" oder "tot schlagen", jedoch nur "bewusstlos schlagen". Anschließend soll dann ein Arzt den Gemarterten zusätzlich "krankschreiben".

Klaus Schübel, Weilheim


Kommentar von Forum von rechtschreibreform.com, verfaßt am 12.07.2005 um 16.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1164

Prof. Ickler am 25.7.2002 im Forum:
"Das kommt von der Doppelnatur des Infinitivs, der ja ursprünglich ein Substantiv war und es in gewissem Sinn immer noch ist, d.h. nur unvollkommen ins Verbparadigma integriert. Es gibt kaum eine Form, die dem Sprachwissenschaftler so viele Rätsel aufgibt."


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 11.07.2005 um 20.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1157

Ist die Diskussion über "Rückbildung" nicht längst überholt? Die Diskussion an dieser Stelle hat doch - wenn daran überhaupt jemals Zweifel bestehen konnten - überdeutlich gemacht, daß der Begriff "Rückbildung" als Rechtschreibkriterium nichts taugt. Dies scheint ja erfreulicherweise selbst der RSR schon vor geraumer Zeit erkannt zu haben. Jedenfalls ist die Erwähnung von "Rückbildungen" (im Rückverweis auf § 33) in der verabschiedeten Fassung von §34 ja entfallen. Zwar ist mir nicht klar, was der Rat eigentlich zu § 33 "abschließend" entschieden hat, da die Neufassung m.W. noch nicht veröffentlicht ist (muß da eigentlich noch sehr lange "redigiert" werden?), jedenfalls scheint die "Rückbildung" nun aber doch vom Tisch zu sein.
Dennoch habe ich diese Diskussion mit großem Interesse verfolgt, und ich gebe gerne meinen eigenen, laienhaften Senf dazu, und zwar zu den Infinitivbildungen:
Bei zusammengestzten substantivischen Infinitiven wie "Bergsteigen" gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Bildung: zum einen als Substantivierung eines Verbs "bergsteigen", zum anderen als Zusammensetzung des Substantivs "Berg" mit dem substantivierten Infinitiv "Steigen". Im ersten Fall wäre es natürlich unsinnig, beim Verb von einer "Rückbildung" zu sprechen, im zweiten Fall aber keineswegs. Allgemein bestehen nun bei Substantiven sehr viel größere (wenn nicht unbegrenzte) Möglichkeiten der Zusammensetzung als bei Verben. Die Annahme, daß das Substantiv "Bergsteigen" zuerst da war, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen. Allerdings kann man sich die "Rückbildung" des nachträglich entstanden Verbs nicht als ein Art von "Ableitung" vorstellen, denn eine solche Ableitungsregel gibt es ja wohl nicht. Durchaus möglich wäre es aber, sich die "Rückbildung" als ein Mißverständnis, eine Verwechslung des Substantivs in bestimmten Wendungen mit einem Verb, vorzustellen. Dies würde ja auch zwanglos erklären, warum viele derartige Verben nur im Infinitiv gebraucht werden. Die Unterscheidung des substantivischen vom verbalen Infinitiv ist schließlich keineswegs so einfach. Dies hat der Duden ja schon seit jeher erkannt, wenn er die Varianten "kopfrechnen üben" und "Kopfrechnen üben" zuließ. Prof. Ickler hat sich darüber gewundert, daß in dem berühmten "Mogeldiktat" fast die Hälfte der Schüler "ich wollte Radfahren" geschrieben haben. Aber ist das wirklich gar so abwegig? Wenn man "ich will Spaß" sagen kann, warum sollte man nicht auch "ich will Radfahren" sagen können?
Dies führt mich abschließend zu der Frage, ob die Vorstellung vom "substantivierten Infinitiv" überhaupt angemessen ist. Was ist der Infinitiv denn eigentlich? Handelt es sich ursprünglich um eine Substantiv- oder um eine Verbalform? Können mir die Grammatiker/Sprachhistoriker darüber Aufschluß geben?




Kommentar von Hanauer Anzeiger, 9. Juli 2005, verfaßt am 11.07.2005 um 12.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1156

Zum Artikel "Dem Volk aufs Maul schauen" (HA vom 2. Juli) schreibt Günter Loew in "der bewährten bisherigen Rechtschreibung":

Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, findet gegenwärtig ein Machtkampf zwischen der KMK und dem von ihr selbst eingerichteten Rat für deutsche Rechtschreibung statt, weil sich der Rat „unbotmäßig“ verhält und sich von den Kultusministern nicht vorschreiben läßt, mit welchen Themen der maroden Rechtschreibreform er sich kritisch auseinandersetzen darf und mit welchen nicht. Die Kultusminister wollen die angeblich „unumstrittenen“ Teile der Reform, darunter auch die mit schweren grammatischen Fehlern belastete Groß- und Kleinschreibung, am 1. August 2005 ohne jegliche Korrektur verbindlich einführen und den Kompetenzbereich des Rates damit drastisch beschneiden. Es ist deswegen eine Kampfansage, wenn der Vorsitzende des Rats, der frühere bayerische Kultusminister Zehetmair, laut dpa nach der letzten Sitzung des Rates der Öffentlichkeit mitteilte, daß sich der Rat auch in der Folgezeit mit strittigen Fällen der Schriftsprache befassen werde: „Die Sprache ist ein lebendiger Organismus“, betonte der CSU-Politiker. „Der Rat klammert keine Themen aus. Es darf keine Tabus geben.“

Die deutschen Kultusminister haben offensichtlich noch immer nicht begriffen, daß ihr Ansehen durch die Rechtschreibreform aufs schwerste beschädigt worden ist und daß sie durch den Konflikt mit dem eigens zur Schadensbegrenzung von ihnen selbst einberufenen Rat im Begriff sind, ihre wahrscheinlich letzte Chance zu verspielen, das Gesicht noch halbwegs zu wahren. Wenn es dem Rat, der dank der herausragenden sprachwissenschaftlichen Kompetenz einiger seiner Mitglieder bisher überraschend gut gearbeitet und das Kapitel der Getrennt- und Zusammenschreibung inzwischen schon weitgehend repariert hat, nämlich gelingen sollte, auch in den übrigen Bereichen dafür zu sorgen, daß wenigstens keine falschen Schreibungen zu verbindlichen Vorschriften gemacht und keine bisher richtigen Schreibweisen als Fehler deklariert werden, könnte man der Öffentlichkeit gegenüber wenigstens so tun, als ob nach vielen Wirrungen letztendlich doch noch eine erfolgreiche Reform der deutschen Orthographie stattgefunden habe.

Die Wahrheit sieht allerdings ganz anders aus, weil sich auch der Rat nach den Vorgaben der Kultusminister richten muß und die deutsche Sprache nur auf der Grundlage des von der ursprünglichen Rechtschreibkommission entworfenen Konzepts wiederherstellen darf. Auch der Rat ist damit gezwungen, die deutsche Orthographie mit Hilfe von (überwiegend) rein formalen, sich nur auf grammatische Kriterien stützenden und die Bedeutungsebene so gut wie ganz ausklammernden Regeln darzustellen und das organisatorische Konzept des bisherigen Reformwerks zu übernehmen. Das Erlernen der deutschen Orthographie wird aber genau dadurch unmöglich gemacht, weil sich kein Mensch die Vielzahl der in dem sogenannten amtlichen Regelwerk enthaltenen Bestimmungen merken und erst recht nichts mit den Kriterien anfangen kann, nach denen er sich richten soll. 1997 schon entlarvte der Mainzer Sprachwissenschaftler Werner H. Veith im Diskussionsband „Pro und Kontra / Die Rechtschreibreform“ die Behauptung der Reformer, im amtlichen Regelwerk seien die 212 orthographischen Regeln des Dudens auf 112 Regeln reduziert worden, als eine Lüge: „In Wirklichkeit handelt es sich um eine Mogelpackung mit einer schier unübersehbaren Zahl von Anwendungsbestimmungen in Form von Unterregeln, Spezifikationen, Kannbestimmungen, Bedingungen, Listen und Verweisen. Dadurch ergeben sich zu den 112 Regeln nicht weniger als 1.106 Anwendungsbestimmungen. Will man den zum Erwerb und zur Anwendung der deutschen Orthographie erforderlichen Lernaufwand aber einigermaßen richtig einschätzen, dann sind auch die 105 Wortlisten einzubeziehen, die zusammen 1.180 einzelne Wörter enthalten, welche mangels Effektivität der Regeln im Gedächtnis behalten oder in einem Wörterbuch nachgeschlagen werden müssen.“ Und vor kurzem erst stellte der Journalist Eckhard Hoog, der die neueste Version des amtlichen Regelwerks aus dem Internet herunterzuladen versuchte, in der Aachener Zeitung entsetzt fest: „Die so genannte ‘Vereinfachung’ der Rechtschreibung, die den Schülern das Leben erleichtern sollte, breitet sich mit ihren Paragraphen auf sage und schreibe 270 (!) DIN-A4-Seiten aus.“

Die Folge ist eine immer weiter um sich greifende Zerstörung der orthographischen Kenntnisse der Schüler. Die Reformfolgen haben inzwischen, wie der Aachener Linguist Christian Stetter unlängst an geradezu haarsträubenden Beispielen zeigen konnte, auch schon die Hochschulen erreicht. Seine knappe Bilanz lautet: „Das Sprachgefühl ist kaputtgegangen, die Morphologie bricht zusammen.“

Man kommt an der Feststellung nicht vorbei, daß die deutschen Kultusminister in ihrem Wahn, sie besäßen die Regelungsgewalt über die deutsche Orthographie, einen Dekultivierungsprozeß in Gang gesetzt haben, der nicht nur die orthographische Kompetenz der Schüler und Studenten vernichtet, sondern sie auch der (deutschsprachigen) Literatur entfremdet, weil man die fast auschließlich in der bisherigen Orthographie gedruckten Werke der Vergangenheit nicht alle umdrucken kann und so gut wie sämtliche bedeutenden Schriftsteller der Gegenwart sich beharrlich weigern, der „sprachlichen Kompetenz“ der deutschen Kultusminister zu folgen.

Wie lange wollen die Ministerpräsidenten der Länder den kulturzerstörerischen und zudem in großem Stil geldvernichtenden Aktivitäten der KMK noch tatenlos zusehen?



Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.07.2005 um 07.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1153

"Rückbildung" als virtuelles Phänomen der Wortbildung

Theodor Ickler:
Es ist nicht möglich, in jedem einzelnen Fall "Rückbildung" nachzuweisen. Darauf kommt es auch gar nicht an. Wenn das "Programm" der Rückbildung einmal existiert, kann man analog auch neue Wörter dieses Typs bilden und dabei die Zwischenstufe überspringen – sie ist dann gewissermaßen nur virtuell gegeben.

Das entspricht ziemlich genau meinem naiven Eindruck von der Sache, wobei ich mich frage, ob man nicht sogar noch weitergehen und zu dem Fazit gelangen kann:
In manchen Fällen wird das Konzept der "Rückbildung" nur als passendes Muster von Linguisten genutzt, um Wortbildungen in eine übersichtliche Anordnung zu bringen. Auf die tatsächliche Entstehung einer Bildung kommt es dabei gar nicht an. Wenn das "Programm" einer Wortbildung einmal existiert, kann man analog auch neue Wörter desselben Typs bilden – irgendwelche Zusammenhänge zwischen Ausgangsform, Zwischenstufen und angeblicher Neubildung zum Beispiel nach dem Muster der Rückbildung sind dann gewissermaßen nur virtuell gegeben.

Nehmen wir an, im Sprachschatz sei zuerst der substantivierte Infinitiv das Bergsteigen aufgetaucht, dann erst das Verb bergsteigen. In so einem Fall wäre die Bezeichnung "Rückbildung" angemessen, denn normalerweise betrachtet man das normale Verb als Basis und die Substantivierung als Ableitung. Sobald nun aber ein Verb wie bergsteigen existiert –
Ich will heute bergsteigen gehen –,
kann man anschließend dieses Muster nutzen und für beliebig viele weitere Bildungen heranziehen, etwa:
Ich will heute eisklettern gehen
Ich will heute felsklettern gehen
usw.

Natürlich existiert dann auch der substantivierte Infinitiv hierzu – oder er kann ebenso gebildet werden. Es ist aber offensichtlich gar nicht nötig, diese Substantivierung jedesmal vorauszusetzen, um das einfache Verb abzuleiten, nur weil es bei einer ursprünglichen ersten Bildung, etwa Bersteigen > bergsteigen, so gewesen sein könnte. Auch bergsteigen selbst könnte nach dieser Auffassung analog zu einem parallel gebauten Begriff gebildet worden sein und braucht daher nicht zwingend eine Erklärung als "Rückbildung" aus Bergsteigen. Nur der Grammatiker, dem an konsistenten Ordnungen gelegen ist, geht nun her und stellt eindrucksvolle Listen auf, die den Reichtum der Rückbildungen belegen sollen:
das Bergsteigen > bergsteigen
das Eisklettern > eisklettern
das Felsklettern > felsklettern
usw.

Ich nehme an, daß es Notschlachtungen gab und damit auch das (rückgebildete?) Verb notschlachten, bevor es Notlandungen gab. Ein Grammatiker vom Typ "Rückbilder" würde hier etwa folgende Liste aufbieten:
Notschlachtung > notschlachten
Notlandung > notlanden
etc.

Denkbar ist jedoch, daß eine (hier als Beispiel konstruierte) Ausgangsform wie notschlachten als Muster für weitere Verben mit not... genutzt wurde, so daß Zuordnungen der Art
Notoperation > notoperieren
Notwasserung > notwassern
gar nichts mehr mit der tatsächlichen Abstammung der Formen zu tun haben müssen.

Interessant ist zum Beispiel, daß notwassern bei Google ca. 6000 Treffer ergibt, Notwasserung nur ca. 750. Sollte notwassern tatsächlich eine "Derivation" von Notwasserung sein? Es scheint mir, daß hier eine Rückbildung nicht nur nicht nachweisbar, sondern unwahrscheinlich ist. Plausibler erscheint mir eine Analogiebildung notlanden > notwassern und die "normale" Ableitungsbeziehung Verb > Substantivierung, also notwassern > Notwasserung.

Oder noch plausibler ist: Man kann oft überhaupt nicht sagen, was die Basis und was die Ableitung ist – solche Zusammenhänge bestehen nur noch formal. Wer will sagen, welche Form bei notentbinden und Notentbindung aus welcher Form "entstanden" ist? Könnte es sich nicht einfach um gleichzeitige Bildungen zu analogen Konstruktionen handeln? Sobald es zum Beispiel Schutzimpfungen gab, wurden eben alle brauchbaren Vertreter der Familie impfen entsprechend erweitert:
Impfung > Schutzimpfung
impfen > schutzimpfen
geimpft > schutzgeimpft,
denn es gab ja jeweils schon genügend analog konstruierte Vorgänger.

So gesehen, wären die etwa von Fleischer/Barz unterstellten Rückbildungen
Schutzimpfung > schutzimpfen oder
schutzgeimpft > schutzimpfen
nur konstruierte Beispiele für ein virtuelles Konzept, das hauptsächlich dazu taugt, Wortformen anschaulich zu ordnen. Das hat durchaus seinen Zweck, etwa um bei ganzen Klassen solcher "rückgebildeter" Formen die defektive Konjugation zusammenfassend zu besprechen oder auch um eine übergreifende Regel für die Rechtschreibung zu formulieren.

Es fragt sich dann nur, warum zumindest in den hier vorzufindenden Zitaten alle möglichen Formulierungen dafür sprechen, daß die Rückbildung etwas mit der tatsächlichen Reihenfolge der Abstammung zu tun haben soll. Schon Rückbilder formulierte dreimal hintereinander: "Aus A entsteht B". Fleischer/Barz schreiben: "... wobei der Eindruck entsteht, das 'rückgebildete' Wort sei die – kürzere – Ausgangsform". Sie scheinen Wert auf die korrekte Zuordnung zu legen, was die Basis und was die Ableitung ist. Die historische Dimension taucht auf in ihrer Formulierung: "Die departizipiale Konversion wird zur Bereicherung des adjektivischen Wortschatzes stark genutzt" [Hervorhebung von mir]. "Rückgebildete Verben entstehen aus/durch ...", "die entstehenden Verben" – die ganze Rede von "Entstehung aus" und schon der auf die Einzelfälle angewandte Begriff der "Rückbildung" sind also zumindest stark irreführend, wenn es "gar nicht darum geht", ob nun eine Rückbildung nachzuweisen ist oder nicht (Theodor Ickler); oder, wie ich glaube, wenn es nicht einmal darum geht, ob eine Rückbildung im Einzelfall überhaupt stattgefunden hat.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.07.2005 um 09.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1150

Es ist nicht möglich, in jedem einzelnen Fall "Rückbildung" nachzuweisen. Darauf kommt es auch gar nicht an. Wenn das "Programm" der Rückbildung einmal existiert, kann man analog auch neue Wörter dieses Typs bilden und dabei die Zwischenstufe überspringen - sie ist dann gewissermaßen nur virtuell gegeben.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 09.07.2005 um 22.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1148

Niemand ist gezwungen, es Herrn Upmeyer gleichzutun und Fleischer/Barz für das letzte Wort zu halten. Eisenberg etwa drückt sich bewußt vorsichtiger aus: »Bergsteiger - bergsteigen und Notlandung - notlanden könnten solche Rückbildungen sein.«


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 09.07.2005 um 11.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1146

Herrn Wrase sei ausdrücklich dafür gedankt, daß er auf einen hier immer wieder auftretenden Übelstand, der von vielen Teilnehmern beklagt wird, auf seine gescheite Weise aufmerksam gemacht hat.

Es steht dem Ernst unseres Anliegens, der hier geführten anspruchsvollen Diskussion und dem Niveau unserer in der Öffentlichkeit sehr intensiv wahrgenommenen Internetseite nicht gut an, wenn sich Diskutanten hinter wechselnden, mehr oder weniger witzigen Karnevalsmasken verstecken. Dies gilt insbesondere für solche, die hier besonders häufig das Wort ergreifen, bei sporadisch Vorbeikommenden mag man da zunächst darüber hinwegsehen. Wer aus persönlichen Gründen nicht unter seinem wirklichen Namen diskutieren will, sollte dies dann zumindest immer unter demselben Pseudonym tun und seine Identität der Redaktion mitteilen.

Und noch einmal: Für Diskussionen steht das Diskussionsforum zur Verfügung.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 09.07.2005 um 10.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1145

Wichtiger als alle theoretischen Betrachtungen erscheint mir persönlich immer wieder die Frage: Wie wirkt sich die sogenannte Rechtschreibreform auf die Praxis des Schreibens, auf das Denken, auf die Schriftkultur als solche aus. Und allein darum muß es gehen. Die inhaltlichen Brüche wurden zur Genüge diskutiert. Nicht mehr das ist heute die Frage, welche Einzelteile der Reformschreibung „unstimmig“ seien, sondern vielmehr, was wir praktisch unternehmen können, um der fortschreitenden Verstümmelung unserer Schriftsprache Einhalt zu gebieten.
Man darf davon ausgehen, daß sich die meisten Lesenden und Schreibenden – auch wenn sie wenig über die Hintergründe der Schreibreform wissen – in ihrer Sprache nicht mehr zu Hause fühlen. Sie erfassen das Zerstörungswerk intuitiv, können sich aber nicht erklären, woraus ihr Unbehagen resultiert. Hans Krieger und Reiner Kunze haben das in ihren Veröffentlichungen gut herausgearbeitet.
Was ist los mit meiner Sprache? Diese Frage bewegt jeden durchschnittlich gebildeten Leser und Schreiber. Er ahnt also die Zusammenhänge, glaubt aber nicht, daß er etwas daran ändern kann. Hier tun sich Parallelen auf zu anderen Lebensbereichen – zum Beispiel dem der körperlich-geistigen Gesundheit. Wir alle wissen, daß letztere nur durch gesunde Ernährung befördert und erhalten werden kann, trotzdem geht kein Ruck durch die Gesellschaft angesichts der zunehmenden degenerativen sogenannten Zivilisationskrankheiten, die allein verzögertes Ergebnis jahrzehntelanger Mangelernährung durch Vitalstoffe sind. Die Nahrungsindustrie produziert weiterhin „tote“ Lebensmittel, wir kaufen im Supermarkt, Hauptsache preiswert, das Sattwerden ist wichtiger als das Gesundbleiben. Der heutige Mensch stellt all sein Handeln unter den Primat der Wirtschaftlichkeit, der Schnelligkeit und der Bequemlichkeit mit dem Ziel, etwas zu gewinnen: Zeit, Geld, Lust. Die FOLGEN solchen Handelns sind meist unkalkulierbar und werden im alltäglichen Handeln so gut wie ganz ausgeblendet. Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat diese menschliche Eigenschaft in einem seiner jüngsten Bücher beklagt: „In der Falle des Kurzzeitdenkens“. Ein übrigens sehr empfehlenswertes Buch.
Die sogenannte Rechtschreibreform ist ein Paradigma für irrationales Handeln im Sog des oberflächlichen, hilflosen und gleichgültigen, unverantwortlichen Heute-Denkens. Jeder einzelne hätte die Möglichkeit, für sich selbst eine Änderung anzustreben (wie auch bei der Ernährung), doch fehlen anscheinend hier die Kraft und vor allem der ernsthafte Wille, tieferen Erkenntnissen gemäß zu handeln. Es scheint, als brauche der Massenmensch die Katastrophe, um seine Richtung zu ändern.
Die Rechtschreibreform entfaltet ihre negativen Wirkungen ebenso schleichend wie eine jahrzehntelang praktizierte Fehl- oder Mangelernährung. Am Ende wird kaum noch jemand den Zusammenhang zwischen dem Verfall der Literalität und der verderblichen Rolle des Schildbürgerstreichs von 1996 sehen (wollen). Diesem Vergessen aber kann man erfolgreich entgegenwirken. Das ist unsere Aufgabe.

Wir dürfen daher nicht müde werden, diese Zusammenhänge öffentlich aufzuzeigen. Dieses Forum als Anlaufstelle und Informationsplattform spielt dabei eine gewichtige Rolle: Die wertvollen und entlarvenden Einblicke, die Theodor Ickler der Öffentlichkeit durch die Einträge in sein Rechschreibtagebuch gewährt, besitzen eine starke Überzeugungskraft und sind wertvolles Zeitdokument, wahrscheinlich von beträchtlichem historischen Wert. Auch möchte ich an dieser Stelle Reinhard Markner, Horst Haider Munske, Reiner Kunze, Hans Krieger, Stefan Stirnemann und allen anderen, deren Namen einzeln aufzuzählen mir hier nicht möglich ist, herzlich dafür danken, daß sie immer wieder mit Veröffentlichungen dafür sorgen, daß die Kritik an der Rechtschreibreform nicht in wirkungslose private Vereinzelung zurückfällt. Es besteht eine durchaus berechtigte Hoffnung, daß wir unserer Sprache zur Genesung verhelfen und sie aus den Klauen der Verflechtung aus Wirtschaft und Politik befreien können.
Alle freiheits- und sprachliebenden Menschen sind dazu aufgerufen, bei dieser Aufgabe aktiv mitzumachen!


Kommentar von Zeugen-Jehovas-Ablehner, verfaßt am 09.07.2005 um 05.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1144

Was heißt da "Also noch ausführlicher"?

Rückbilder, Sie haben zu Ihrem Fleischer/Barz, aus dem Sie zum x-ten Mal zitieren, offensichtlich ein Verhältnis wie die Zeugen Jehovas zu ihrer Heiligen Schrift. Jedes Wort in dem betreffenden Werk wird angebetet und ersetzt daraufhin das eigene Denken. Außerdem ist der Zwang erkennbar, ohne Unterlaß das Evangelium wenigstens in Häppchen unters Volk zu bringen. Ich bin nicht der einzige, der dieses völlig servile und zugleich unerbetene Missionieren als auffällig empfindet.

Wenn mir jemand auf meine Ausführungen kritisch antwortet, sehe ich mir normalerweise noch einmal genau an, was ich geschrieben habe, und dasjenige, was mir geantwortet wurde. Das tun Sie nicht, sondern schreiben reflexartig "also noch ausführlicher" aus Ihrer Heiligen Schrift ab.

Fleischer/Barz ist sicherlich vernünftiger als der blanke Blödsinn, den die Rechtschreibreformer an vielen Stellen zur Grundlage ihrer "amtlichen" Rechtschreibung gemacht haben. Aber auch bei der Lektüre von Fleischer/Barz könnte es nicht schaden, die eigene Vernunft zu befragen, bevor man daraus irgendwelche Passagen abtippt.

Mir kann niemand erzählen, das Wort notlanden sei aus dem Wort Notlandung rückgebildet worden. Das bedeutet ja in jedem Fall eine Ableitung ("Derivation"): Zuerst sei Notlandung dagewesen, daraus entstand angeblich notlanden. Das halte ich wie gesagt für abwegig. Ich halte eine parallele Entstehung für viel plausibler: Im selben Moment, als es das Phänomen der Notlandung gab, kam Not gleichzeitig zu beiden Begriffen hinzu: Landung und landen. Google ergibt für beide Wörter eine annähernd gleichrangige Häufigkeit, was gegen eine Ableitungsrichtung spricht, mit leichtem Übergewicht beim Substantiv (ca. 52.000 zu 36.000, nicht bereinigt), was bei der Vorliebe der Techniksprache für Substantive kein Wunder ist.

Das Phänomen der Rückbildung ist insgesamt und bei den meisten zitierten Beispielen (etwa Kurpfuscher > kurpfuschen) überaus einleuchtend (man könnte auch ohne das Verb kurpfuschen leben, siehe etwas die äußerst mageren Vorkommen bei Google im Vergleich zu Kurpfuscher). Aber auch Fleischer/Barz machen m. E. den Fehler, der Vollständigkeit halber Fälle aufzuführen, die der Anwendung der Theorie dienen statt ihrer Herleitung. So behaupten sie gar, bei schutzimpfen lasse sich die Ableitung aus schutzgeimpft feststellen – ein Totalausfall des Sprachgefühls, wie mir scheint. Denn im selben Moment, als jemand erstmals als schutzgeimpft gelten konnte, war bereits der Vorgang schutzimpfen abgeschlossen und in der Welt. Derselbe Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand liegt vor, wenn Rückbilder behauptet, notlanden sei aus Notlandung über den Umweg notgelandet (und zwar in der passivischen Verwendung das notgelandete Flugzeug [!]) entwickelt worden.

Schließlich ist festzuhalten, daß der umfängliche Rekurs auf die "Quelle" Fleischer/Barz keineswegs alle Behauptungen von Rückbilder deckt. Selbst bei angenommener Unfehlbarkeit dieses Gewährsbuchs müßte also noch mehr zitiert werden, um etwa die Verantwortung für die zentrale Aussage abzuwälzen, man müsse "die Wortfelder Technik einerseits und Sport, Hobby, Verben der Bewegung andererseits unterscheiden".

Vielleicht muß man auch einen vernünftigen Umgang mit Sprache, Rechtschreibung und grammatischen Autoritäten einerseits von den Betätigungsfeldern Fremdworttechnik, Zitiersport, Hobbygrammatik und Bewegung hinter einem Pseudonym andererseits unterscheiden. Sonst wird aus der Rückbildung von Komposita schnell eine Rückbildung des Verstandes.

Wolfgang Wrase



Kommentar von Rückbilder, verfaßt am 08.07.2005 um 19.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1142

Also noch ausführlicher:
"Rückbildung" ist Derivation nicht durch Hinzufügung, sondern durch Tilgung oder Austausch eines Wortbildungssuffixes mit gleichzeitiger Transposition in eine andere Wortart, wobei der Eindruck entsteht, das "rückgebildete" Wort sei die - kürzere - Ausgangsform: sanftmütig -> Sanftmut, Notlandung -> notlanden.
Wortbildung des Adjektivs
Das Partizip II der transitiven Verben hat passivische, das der intransitiven Verben aktivische Bedeutung.
Das Partizip II kann auch wie ein Adjektiv gebraucht werden, und zwar als Attribut (Beifügung) zu einem Substantiv. Das Partizip II kann in der Regel dann nicht wie ein Adjektiv gebraucht werden, wenn das Verb intransitiv ist (keine Akkusativergänzung haben kann) und das Perfekt mit haben bildet. Das Partizip II von transitiven Verben kann uneingeschränkt wie ein Adjektiv gebraucht werden.
Die Konversion der attributfähigen Nominalformen des Verbs (Partizip I und II) zu Adjektiven ist besonders ausgeprägt.
Die departizipiale Konversion wird zur Bereicherung des adjektivischen Wortschatzes stark genutzt. Dabei kann der adjektivische Gebrauch sich vom verbalen weiter syntaktisch unterscheiden: ergriffenes Schweigen (das Schweigen ergreift), gelernter Dreher (hat gelernt), verschwiegener Mensch (der Mensch verschweigt), eingebildete Person (bildet sich etwas ein), gedienter Soldat (hat gedient), ausgelernter Handwerker (hat ausgelernt), studierter Herr (hat studiert), verschlafener Junge (hat verschlafen), aber: verschlafener Tag (wurde verschlafen).
Nur bis zum Partizip II sind gelangt: Mißstimmung -> mißgestimmt, Bewußtseinstrübung -> bewußtseinsgetrübt.
Wortbildung des Verbs
Rückbildung beim Verb: Basen für rückgebildete Verben sind Nomina actionis (komplexer substantivierter Infinitiv wie das Bruchrechnen -> bruchrechnen oder komplexe Substantive auf -ung wie Notlandung -> notlanden), Nomina agentis (Kurpfuscher -> kurpfuschen) und zusammengesetzte Partizipien II mit einem Substantiv oder Adjektiv als Erstglied (zweckentfremdet -> zweckentfremden). Begünstigt wird die Bildung eines Infinitivs in den Fällen, in denen sowohl der substantivierte Infinitiv geläufig ist (das Korrekturlesen) als auch das zusammengesetzte Partizip II (korrekturgelesen). Morphologisch sind die entstehenden Verben meist defektiv, sie werden nicht in den finiten Formen verwendet.
Rückgebildete Verben entstehen
1) aus substantivischen Basen auf -ung oder -er durch Suffigierung mit Transposition (Zwangsräumung -> zwangsräumen, Kurpfuscher -> kurpfuschen);
2) durch Transposition zusammengesetzter Substantive mit einem Substantiv als Erstglied und einem substantivierten Infinitiv oder einem impliziten Derivat als Zweitglied (Kopfrechnen -> kopfrechnen, Ehebruch -> ehebrechen, letzteres evtl. auch aus Ehebrecher, dann 1);
3) durch Ableitung des verbalen Infinitivs aus einem zusammengesetzten Partizip II mit adjektischem oder substantivischem Erstglied (ferngelenkt -> fernlenken, schutzgeimpft -> schutzimpfen).
Zahlreiche Verben lassen sich jeweils zwei Modellen zuordnen, z.B. korrekturlesen 2), 3); mähdreschen 1), 2).
Einige Rückbildungen haben (noch) kein vollständiges Verbalparadigma ausgebildet: ehebrechen, segelfliegen stehen nur im Infinitiv, generalüberholen, kunststopfen, staubsaugen, zweckentfremden nur im Infinitiv und Patizip II.
Es stehen z.B. folgende Formen nebeneinander: brust-, rücken-, seitenschwimmen, dazu ich schwimme Brust, Rücken, Seite (mit unterschiedlicher Orthographie des Erstgliedes), brustzuschwimmen, brustgeschwommen, seitenzuschwimmen/ Seite zu schwimmen, seitengeschwommen/ Seite geschwommen.
Gebrauchsanalysen und Informantenbefragungen belegen insgesamt bei diesen Schwankungsfällen eine zunehmende Tendenz zu untrennbarem Gebrauch der Verben in den finiten Formen sowie zur Vervollständigung der Paradigmen. Die Bildung des Partizip II bzw. des Infinitivs mit zu erfolgt bevorzugt nach dem Muster für trennbare Verben: Erstglied + ge-/zu + Zweitglied.
Quelle: Fleischer/Barz, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache


Kommentar von Ausbilder, verfaßt am 07.07.2005 um 02.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1135

In Notlandung ist Landung kein substantivierter Infinitiv. Auch ist nicht einzusehen, daß Notlandung zuerst existiert haben soll und dann erst notlanden daraus rückgebildet oder "transponiert" worden wäre; ich nehme an, die beiden Begriffe traten zugleich auf. Kein Pilot sagte doch Ich muß eine Notlandung machen, nur weil es leider das Verb notlanden noch nicht gab. Dasselbe gilt für sandstrahlen, wo nicht einzusehen ist, warum die Substantivierung erst die Erschaffung des zugrundeliegenden Verbs ermöglicht haben soll, nur weil die Technik gerne mit Substantiven umgeht.

sandgestrahlt und notgelandet sind keine Adjektive, sondern Partizipien. "Rückbilder" behauptet, diese "attributiv verwendbaren Adjektive" stünden in in der behaupteten Entwicklung als Zwischenstadium sogar noch vor dem zugrundeliegenden Verb - also zuerst Notlandung, dann das "Adjektiv" notgelandet, das notgelandete Flugzeug, dann erst die Krone der Schöpfung: notlanden. Der Begriff des "passivischen Gebrauchs" ist bei Adjektiven übrigens unsinnig.

Daß brustschwimmen scheinbar bei Ich schwimme Brust "zerlegt" werden kann, liegt daran, daß der letztere Ausdruck auf die Frage antwortet: Welchen Stil schwimmst du? Antworten: Ich schwimme Schmetterling, Rücken, Brust. Das hat mit der Zerlegung eines Kompositums nichts zu tun. Unabhängig davon bietet sich unter geeigneten Umständen, hier: Kürze der determinierenden Erstglieds, die Bildung des Verbkompositums an: brustschwimmen, rückenschwimmen, delphinschwimmen, aber nicht schmetterlingschwimmen. Daß diese Ausdrücke vorrangig substantiviert auftauchen, bedeutet m. E. nicht, daß die Substantivierung zuerst da war. Noch häufiger dürften Brust, Rücken, Delphin, Schmetterling sein, woraus sich ja auch nicht eine Entwicklungslinie ableiten läßt. Sondern Brust, Delphin, Schmetterling waren zuerst da, weil es die damit bezeichneten Erscheinungen schon gab, bevor die entsprechenden Schwimmstile auftauchten. Sobald es etwa das Delphinschwimmen gab, hieß es gerade im Sport aber schlicht Delphin.

Hingegen antwortet notlanden nicht auf eine Frage Welchen Stil landest du? oder ähnliches. Deshalb kann es nicht "zerlegt" werden; mit Technik im Gegensatz zu Sport, Hobby, Bewegung hat das alles nichts zu tun. Man darf sich nicht aus mehr oder weniger zufälligen Häufigkeiten dazu verleiten lassen, irgendwelche grundsätzlichen Regeln daraus zu verabsolutieren. Das tun die Rechtschreibreformer schon genug; nicht zu ihrer Ehre.

Wolfgang Wrase


Kommentar von R. M., verfaßt am 06.07.2005 um 22.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1134

Berggestiegen immerhin gibt es (zumindest im Flachland): »Hier muss also berggestiegen werden und man darf alpenglühen, wenn die denn in Finnland wüchsen.« (Kieler Nachrichten, 16. 3. 2005)


Kommentar von Rückbilder, verfaßt am 06.07.2005 um 20.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1133

Bei den rückgebildeten Verben, die durch Transposition zusammengesetzter Substantive mit einem Substantiv als Erstglied und einem substantivierten Infinitiv als Zweitglied entstehen, muß man die Wortfelder Technik einerseits und Sport, Hobby, Verben der Bewegung andererseits unterscheiden:
Im Wortfeld Technik entstehen aus solchen Komposita wie das Sandstrahlen, die Notlandung zuerst auch attributiv und passivisch verwendbare Adjektive: sandgestrahlt, notgelandet - und daraus trotz der Anfangsbetonung echte Verbkomposita, die in den einfachen Zeiten ungetrennt bleiben: er sandstrahlt, er notlandet.
Im Wortfeld Sport, Hobby, Verben der Bewegung entstehen aus solchen Komposita wie das Bergsteigen, Brustschwimmen, Radfahren, Eislaufen keine auch attributiv und passivisch verwendbaren Adjektive - und dann unechte Verbkomposita, die in den einfachen Zeiten in ihre Bestandteile zerlegt werden.
Deshalb ist notlanden mit brustschwimmen nicht vergleichbar.


Kommentar von Gabriele Ahrens, verfaßt am 06.07.2005 um 11.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=291#1131

Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg hat festgestellt, daß der Rat für deutsche Rechtschreibung für Schülerinnen und Schüler nur von Nachteil sein kann. In einem Rundschreiben an die staatlichen Schulämter schreibt Frau Dr. Jutta Thiemann am 11. Mai 2005, weil sie noch nicht weiß, was die Kultusminister am 3. Juni beschließen werden:

„Wie Sie sehen, kann ein solcher Beschluss ggf. in Ihre Ferienzeit fallen und Sie entsprechend schwer erreichen. Deshalb empfehle ich Ihnen - unabhängig von der gegenwärtigen Beschlusslage - im neuen Schuljahr die Toleranzregel für die drei o. g. Bereiche [Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung und Silbentrennung] und alle damit verbundenen Zweifelsfälle anzuwenden; denn es ist m. E. nicht hinnehmbar, dass Ihren Schülerinnen und Schülern ein Nachteil aus den Erörterungen des ‚Rates für deutsche Rechtschreibung’ erwächst.“




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