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22.11.2005
 

Reiner Kunze
„Staatsnäher geht es doch gar nicht“

Bei der Eröffnung des zweiten Podiumsgespräches der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zur deutschen Rechtschreibung wendet sich Reiner Kunze an den Vorsitzenden des Rates für deutsche Rechtschreibung.


Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Zehetmair,

da der deutschsprechende Teil der Menschheit, so er am gegenwärtigen Zustand der Sprache leidet, auf Sie blickt, Herr Zehetmair, wird es Sie nicht überraschen, daß auch ich mich heute abend sofort an Sie wende. Erstmals darf ich Ihnen zu einem Gespräch über die Rechtschreibreform begegnen, was ich mir bereits vor acht, sieben oder fünf Jahren gewünscht habe, was damals jedoch, ich weiß, sinnlos gewesen wäre. Ich danke Ihnen, daß es heute möglich ist und daß Aussicht auf ein sinnvolles Miteinander besteht.
Bei manchen Völkern heißen auch die großen Zehen ‚Daumen‘. Ich drücke Ihnen, was die von Ihnen beabsichtigte Rücknahme falscher Schreibweisen betrifft, alle vier Daumen.

Einige Ihrer öffentlichen Äußerungen beunruhigen mich jedoch, und ich könnte es nicht verantworten, meine Bedenken, die ich mit anderen teile, heute hier nicht wenigstens andeutungsweise vorgetragen zu haben.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Dezember 2004 plädierten Sie für ‚größtmögliche Staatsferne‘, schrieben aber: „Bei aller berechtigten Kritik an der bestehenden Reform wird es eine völlige Rückkehr zur alten Schreibung nicht geben.“ Das bedeutet, Argumente für die Rückkehr zur alten Schreibung, seien sie auch noch so überzeugend, werden im Rat für deutsche Rechtschreibung von vornherein kein Gehör finden, was genau der Vorgabe der Kultusminister und Ministerpräsidenten entspricht. Staatsnäher geht es doch gar nicht.

Sollten Sie ernstlich meinen, es gäbe keine überzeugenden Gründe, zur alten Schreibung zurückzukehren – um die Überregelung im alten Duden zu beseitigen, bedarf es nicht dieser Reform –, müßte ich Sie fragen: Sollten wir nach den Erfahrungen, die wir in den vergangenen acht Jahren gemacht haben, nicht endlich aufhören, kardinale Irrtümer auszuschließen? Man muß doch zumindest darüber beraten dürfen, was von der Sache her für oder gegen die Rückkehr zur alten Schreibung spricht.

Sie beabsichtigen, „unverzüglich … einige der größten Schwachstellen der Reform zu beseitigen“. Heißt das, es gibt ‚größte Schwachstellen‘, die Sie nicht unverzüglich beseitigen wollen?
Unter den Neuerungen, die es nach Ihrer Meinung sofort zurückzunehmen gilt, vermisse ich u. a. die Auswüchse der Großschreibung. In dem Satz „Du hast nicht recht“ muß bzw. darf ‚recht‘ groß geschrieben werden. Das weiterhin als richtig lehren zu lassen, wäre doch unverantwortlich! Die Schreibung einzuüben „Du hast nicht Recht“ heißt, das Sprachgefühl auszuhebeln und die Wurzel des richtigen Sprechens, die intuitive, vom Regelwissen unabhängige Sprachkompetenz zu beschädigen. Wollen Sie das erst verbindlich werden lassen, ehe Sie es korrigieren?

Sie sprechen, Herr Zehetmair, von ‚größten‘ Schwachstellen, die beseitigt werden müssen. Und die anderen, die nur großen oder kleinen? Wie kann ein Rat für deutsche Rechtschreibung auch nur die kleinste Schwachstelle dulden wollen?
Kann man aber überhaupt von ‚Schwachstellen‘ sprechen? Die von Ihnen zu Recht als nicht hinnehmbar charakterisierte neue Getrennt- und Zusammenschreibung ist keine ‚Schwachstelle‘, sondern ein Vergehen an der Sprache und an hundert Millionen deutschsprechender, -schreibender und -lesender Menschen. Wer zweihundert Jahre bewundernswerter Orthographieentwicklung eliminiert, und sei es nur partiell, begeht einen Kulturbruch.

Übrigens suggeriert der Begriff ‚Schwachstelle‘, die Reform habe auch Stärken. Bisher wurden noch keine nennenswerten Stärken nachgewiesen. Selbst über die neue ss/ß-Schreibung, von der man sich zumindest einen didaktischen Vorteil versprochen hatte, schrieb im Dezemberheft 2004 der Zeitschrift ‚Gymnasium in Niedersachsen‘ Wolfgang Steinbrecht, Studiendirektor und jahrzehntelang Lehrer für Englisch, Französisch und Russisch, also ein Mann, dessen Erfahrungen man nicht einfach vom Tisch wischen kann: „Die Behauptung, die neue ss/ß-Regelung habe sich bewährt, ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.“

Die verantwortlichen Politiker argumentieren zum einen, die Reform dürfe nicht zurückgenommen werden, weil die Bürger ein Anrecht auf Verläßlichkeit der Politik haben. Verlaß darauf, daß der Staat von etwas, das im wesentlichen als falsch erkannt wurde, nicht wieder abgeht, kann aber doch kein Postulat sein für richtige Politik. Und die Politiker argumentieren zum anderen, sie hätten eine Sorgepflicht denen gegenüber, die die neue Schreibung bereits gelernt haben. Dem wäre dadurch abzuhelfen, daß diesen keine gesellschaftlichen Nachteile entstehen, wenn sie bei der neuen Schreibung bleiben. Die Sorgepflicht den Schülerjahrgängen oder Schülergenerationen gegenüber, für die das als falsch Erkannte künftig verbindlich werden soll, wird ausgeblendet. Dann sind die Politiker von heute nämlich über alle politischen Berge. Wieviel Schuld will man noch auf sich laden?

An der Bundestagsdebatte zur Orthographie im Dezember 2004 nahmen von sechshundertundeinem Abgeordneten vierundzwanzig teil, unter ihnen der Metallgewerkschafter Jörg Tauss, dessen Beitrag in hämischen Zwischenrufen bestand. Wären bestimmte Kultuspolitikerinnen und Kultuspolitiker oder Abgeordnete wie Herr Tauss, Bildungssprecher seiner Fraktion, nicht für Kultus und Bildung zuständig, sondern für das Schornsteinfegen, und hätten sie dazu eine ähnliche Beziehung wie zur Sprache, würde man sie kurzerhand in einen Schornstein stecken, damit sie hinterher wenigstens ahnen, wovon sie sprechen und worüber sie befinden. Sie wissen nicht, was das heißt: „Mit dem Wort am Leben hängen“.
Warum diesen Leuten, nur damit sie ihre kurzfristigen Machtinteressen und ihr kurzfristiges Macht-Gesicht wahren können, Kompromisse zum langfristigen Schaden der Sprache anbieten? Nur weil sie eben die Macht haben?

Mein Vater war ein gelernter Handwerker, kannte sich aber nicht nur im eigenen Handwerk aus. Von ihm habe ich als Junge ungezählte Male und in den unterschiedlichsten Tonlagen den Satz gehört: „Was wir machen, machen wir richtig!“, wobei ‚richtig‘ bedeutete ‚nicht nur halb, sondern ganz‘. So war er manchmal erst nach Mitternacht fertig. War dann noch aufgeräumt und saubergemacht, blickte er mich an und kniff kurz ein Auge zusammen – die einzige Äußerung von Stolz, die ich je an ihm beobachtet habe.

Herr Zehetmair, ich wünsche Ihnen und uns, daß Sie am 1. 8. 2005, und sei es erst nach Mitternacht, ein Auge zusammenkneifen können.


Eröffnung des zweiten Podiumsgespräches der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zur deutschen Rechtschreibung am 22. Februar 2005 in München.

Herr Zehetmair konnte an der Veranstaltung grippehalber nicht teilnehmen. Hätte er Reiner Kunze gehört, er wäre sogleich gesund geworden. Die Rede wird im Jahrbuch 2005 der Akademie erscheinen. Wir danken Reiner Kunze für die Erlaubnis, sie hier zu veröffentlichen.




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Kommentare zu »„Staatsnäher geht es doch gar nicht“«
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 15.01.2006 um 23.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=359#2687

Spätestens wenn die Beschlüsse des Rates zur Änderung der Groß- und Kleinschreibungsregelung vorliegen, wäre es doch Zeit, Herrn Zehetmair erneut öffentlich die hier genannten Fragen (und weitere) zu stellen. Da käme man wohl zu einem ernüchternden Fazit – und das wäre gut, denn damit würde klar werden, daß die Ratsbeschlüsse nicht zum mancherorts erhofften Ende der Reformdiskussion führen werden.



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