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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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22.02.2006
 

Reinhard Markner
Sprachlogik oder Staatsgewalt

Noch besser als im Spiegel zu stehen ist – dem Spiegel etwas zu gestehen.

»Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war«, eröffnete die brandenburgische Wissenschaftsministerin Johanna Wanka jüngst den Reportern des Magazins, und zur näheren Erläuterung fügte sie hinzu: »Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.«

Nun ist es mit der Vernünftigkeit der Wirklichkeit dieses Staates, anders als Hegel sich das idealiter vorstellte, nicht immer allzu weit her. Das muß hier allerdings nicht erörtert werden. Es genügt eine kurze Folgenabschätzung anhand der soeben fürs erste abgeschlossenen Arbeit des Rats für deutsche Rechtschreibung: Was bedeutet das Politikverständnis der Kultusminister für die deutsche Sprache und ihre schriftliche Form?

Das Ergebnis läßt sich so zusammenfassen: Man schreibe mit Blick auf die Staatsgewalt auch weiterhin Trip, aber Tipp, stets Philosophie, aber entweder Orthografie oder Orthographie, Thuja, aber Tunfisch oder Thunfisch, Kuss, aber Löß oder Löss, eislaufen klein, aber Rad fahren groß, weiterkommen zusammen, aber näher kommen getrennt, Handbreit, aber Hand voll, zum Teil, aber zurzeit, die beiden, aber die Einzigen, Numerus clausus, aber Alma Mater.

Aus gut tun, leid tun, not tun, leid sein, not sein machte die Reform gut tun, Leid tun, Not tun, leid sein, Not sein. Der Rat korrigiert nun zu gut tun, leidtun, nottun, leid sein, Not sein. Der Potsdamer Linguist Peter Eisenberg, der als Abgesandter der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an den Verhandlungen beteiligt war, nennt die Vorlagen, die Anfang März den Kultusministern unterbreitet werden, »einen substantiellen Kompromiss«. Das ist merkwürdig genug. Vor allem aber verrät es die irrige Vorstellung, Sprache sei ein politischer Gegenstand wie jeder andere.

Ossietzky 4/2006



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Kommentare zu »Sprachlogik oder Staatsgewalt«
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 23.02.2006 um 16.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3016

1. Wenn die Linguistik "exakter " ist, dann muß sie wenigstens ein bißchen exakt sein, und ich wüßte gern den Grad. "Altester" und "alter" Bruder trifft es nicht ganz. Das eine ist meßbar, das andere eine Beurteilungsfrage.

2. Es ist natürlich nur die mumifizierte Seite der Kommission, auf die ich mich beziehe. Ich besuche sie auch nur, weil mich alten Romantiker von dort ein so nostalgischer Hauch anweht.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 23.02.2006 um 14.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3013

Lieber Kratzbaum, welche derzeit existente Kommissionsseite meinen Sie? Soweit ich weiß, gibt es keine offiziellen Seiten mehr, nur noch die archivierten (web.archive.org).


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2006 um 10.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3011

Ich verstehe Herrn Markners Aussage so, daß er die Linguistik exakter als die anderen Geisteswissenschaften nennt, was nicht unbedingt heißt, daß er sie exakt findet. Der älteste von drei Brüdern muß nicht alt sein. Und vor einer Diskussion über die Einordnung der Mathematik in das (ohnehin obsolete) Schema kann ich als bejahrter Philosophiestudent nur warnen.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 23.02.2006 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3010

Lieber Herr Markner, das mit der exakten Linguistik müssen Sie mir bitte erklären. Und Herr Wagner: Ich dachte bisher, die Mathematik sei eine Naturwissenschaft.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.02.2006 um 09.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3009

Vor ziemlich genau acht Jahren erklärte mir der damalige SPD-Obmann im Rechtsausschuß des Bundestages, Peter Enders, in einem langen Telefongespräch, daß er, um die Kultusminister seiner Partei zu stützen, der Rechtschreibreform zustimmen werde, obwohl er sie für "Scheiße" halte. Ich habe mich an jenem Abend ein bißchen über die Ausdrucksweise gewundert und auch noch über anderes, aber das kann man auf sich beruhen lassen. In der Bundestagsdebatte vom 23.3.1996 drückte sich der Abgeordnete etwas gewählter aus; man kann es noch einmal nachlesen, der Abstand läßt immer wieder neue Facetten aufscheinen.
Bei derselben Gelegenheit klärte mich der Abgeordnete auch darüber auf, daß nicht, wie ich vermutet hatte, der Verband der Schulbuchverlage, sondern das Bundesinnenministerium die treibende Kraft sei. Auf Kanther, Bergsdorf und Palmen-Schrübbers hatte ich zwar längst ein Auge geworfen, aber dies war doch recht interessant. Palmen-Schrübbers ist später, wie ein Insider spöttisch bemerkte, zum neuen Bundeskulturstaatsminister "hinüberfiletiert" worden und hat das Thema RSR mitgenommen. Allerdings nicht vollständig, aber die Spur der Verantwortlichkeiten, was die Bundesregierung betrifft, verliert sich sowieso im Unbestimmten.
Wie schon bemerkt, unterzeichnete das Kulturstaatsministerium die Vereinbarung das Statut des Rates, immerhin, aber das kann es eigentlich nicht gewesen sein. Man denkt auch an Schröders "Machtwort", das die Rechtschreibdiskussion im Bundeskabinett beendete. In der heutigen F.A.Z. wundert sich das Feuilleton darüber, daß dem neuen Amtsinhaber Bernd Neumann nicht einmal zur RSR ein Wort eingefallen sei, von anderen Themen zu schweigen. Vielleicht weiß er noch gar nicht, daß es in sein Ressort fällt. Ob man Christina Weiss mal darauf anspricht? Außer Dienst gestellt, könnte sie vielleicht etwas erzählen.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 23.02.2006 um 08.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3008

Wenn man die immer noch existierende Seite der Kommission für deutsche Rechtschreibung besucht, befällt einen beim Stöbern schon jetzt ein Gefühl der Wehmut. Verglichen mit dem späteren "Rat" war das doch ein ganz seriöses Gremium, wenn es auch an der ihm überragenen Aufgabe scheitern mußte. Letzeres kann man dem Rechtschreibrat nicht nachsagen. Der hat einen Kompromiß hervorgebracht, der gar nicht besser sein könnte. Nächste Woche wird das die KMK auch dem letzten Zweifler klarmachen - amtlich. – Ein Dessin am Rande: Auf der Startseite heißt es: Willkommen "im" Rat für deutsche Rechtschreibung. Unter dem 23. Februar dann "beim" Rat. Schade eigentlich - ich wäre gern beigetreten...


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 23.02.2006 um 02.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3006

R. Markner: »... wohingegen die Linguistik als die exakteste der sogenannten Geisteswissenschaften gelten darf.«

Ergänzungsvorschlag: „nach der Mathematik“. (Aber das ändert natürlich an dem Fazit der Schwererträglichkeit von Eisenbergs Verhalten nichts.)


Kommentar von R. M., verfaßt am 23.02.2006 um 02.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3005

Der Fall erinnert ein bißchen an Paul Kirchhof, der von manchen gescholten wurde, weil er sich nur unter dem Vorbehalt in die politische Arena begeben wollte, auch dort »Wissenschaftler« bleiben zu dürfen. Dabei ist Kirchhofs Steuertüftelei, auch wenn sie an einer Universität betrieben wird, natürlich allenfalls in der Anwendung gewisser statistischer Methoden wissenschaftlich, wohingegen die Linguistik als die exakteste der sogenannten Geisteswissenschaften gelten darf. Das macht die Eisenbergsche Unschärfe so schwer erträglich.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 22.02.2006 um 20.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3003

Eisenberg mag ein begnadeter Wissenschaftler sein; das kann ich nicht beurteilen. Als Politiker ist er ein blutiger Dilettant – soweit man in ihm nicht den Strategen des eigenen Nachruhms erkennen will. Wer beim Eintritt in Verhandlungen bekanntgibt, in welchen Punkten er allenfalls nachzugeben gewillt sei, wird zumindest mit diesen Punkten schon keinen Stich mehr machen. Und wenn man dann trotzdem weiterverhandeln möchte, muß man eben noch mehr zugestehen. Das hat jeder Bezirks-Gewerkschaftsbevollmächtigte im Wochenendseminar gelernt. Akademikern jedoch scheinen sich solche Einsichten seltsamerweise häufig zu verschließen; ein trauriges Beispiel in Sachen Reform hat von Hentig gegeben, dem man immerhin keine unlauteren Absichten unterstellen wird. Der tragische Konflikt Eisenbergs liegt vielleicht darin, daß er zwar klug genug war zu erkennen, daß mit dieser Reform kein Ruhm zu gewinnen ist, aber nicht Manns genug, sein Schicksal von ihr zu trennen. Da lobe ich mir Munske.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 22.02.2006 um 19.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3002

Th. Ickler: »Der DASD-"Kompromiß" stammt von einem Politiker, in allen Versionen.«

Lassen Sie mich raten: Die DASD nimmt dagegen an, er käme von einem Wissenschaftler, nicht wahr? Siehe dazu „Bericht über eine Akademie“ (hier) und vor allem „Schweren Herzens“ (hier) – was für eine eklige Alibiveröffentlichung! Blickt denn bei der DASD keiner mehr durch Eisenbergs Treiben durch?


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.02.2006 um 17.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3001

Als Wissenschaftler findet Eisenberg die Rechtschreibreform fürchterlich, das hat er in entsprechenden Arbeiten immer wieder und schon sehr früh dargelegt, und wir haben ihm herzlich dafür gedankt. Er ist aber auch Politiker und legt gesprächsweise Wert darauf, daß man in Sachen Reform "politisch denken" müsse. Daher die Bereitschaft, alle möglichen Zugeständnisse zu machen, auch als sie noch gar nicht verlangt wurden. Der DASD-"Kompromiß" stammt von einem Politiker, in allen Versionen.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 22.02.2006 um 16.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#3000

Sprache als Gegenstand der Politik haben wir 50 Jahre lang nur ein paar Kilometer weiter östlich beobachten können. Das darf nie wieder geschehen.


Kommentar von Bardioc, verfaßt am 22.02.2006 um 14.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#2999

Die Vorstellung, Sprache sei ein politischer Gegenstand, kann natürlich auch ein beliebiger Bürger haben, eben auch ein Wissenschaftler. Vermutlich ist genau das der Punkt: Vielleicht sind wir -- die Bürger -- schon so zivilisiert, daß wir letztlich fast alles als politischen Gegenstand ansehen, über den letztlich nur der Staat zu bestimmen hat. Da Sprache viel mit der Allgemeinheit zu tun hat, ist diese Auffassung auch naheliegend. Daß es nicht zwangsläufig so sein muß, ist für viele kaum mehr vorstellbar. Dabei ist das andere Konzept -- daß sich Sprache im wesentlichen selbst regelt -- viel natürlicher. Was mich verwundert, ist, daß eine Gesellschaft bzw. deren Politiker, die noch vor etwa 20 Jahren vom Umweltgedanken bewegt war und sich den Schutz natürlicher Ressourcen auf die Fahnen geschrieben hat, widernatürliche Veränderungen in ihrer Sprache durchzusetzen versucht, bzw. Sprache als Gegenstand der Machtausübung begreift.


Kommentar von Bardioc, verfaßt am 22.02.2006 um 14.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#2998

''Zur Erinnerung: Eisenberg ist Wissenschaftler, nicht Politiker.''

Ja, aber die Verantwortung für die Reform liegt doch bei den Kultusministern, und die sind Politiker! -- Oder liege ich da falsch?



Kommentar von R. M., verfaßt am 22.02.2006 um 13.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#2997

Zur Erinnerung: Eisenberg ist Wissenschaftler, nicht Politiker.


Kommentar von Bardioc, verfaßt am 22.02.2006 um 10.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#2996

''Vor allem aber verrät es die irrige Vorstellung, Sprache sei ein politischer Gegenstand wie jeder andere.''

Diese Vorstellung mag sachlich irrig sein, aber was erwarten wir denn von Leuten, die gewohnt sind, Macht auszuüben? Letztlich ist für solche Leute doch alles ein ''politischer
Gegenstand'', also ein Gegenstand ihrer Machtausübung. Genau das soll die Durchsetzung der Rechtschreibreform ja beweisen. Wenn man die Rechtschreibung ändern kann, kann man alles ändern im Staat!


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 21.02.2006 um 19.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=409#2995

Ein "substantieller Kompromiß" ist sicher etwas sehr Schönes. ("Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört..."). Interessant wäre die Abgrenzung zum "faulen Kompromiß". Dazu fällt mir immer ein Geschichtchen aus meinem Fotokreis ein. Da zeigte ein Kollege ein Bild, das von vorn bis hinten leicht unscharf war, mit der Erklärung: "Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich den Vordergrund oder den Hintergrund scharf bringen sollte." Darauf ein anderer: "Und da hast du einen Kompromiß geschlossen." Paßt das nicht ausgezeichnet auf die Reform und ihre jüngste Reparatur?



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