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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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12.02.2005
 

Bayerische Akademie der Schönen Künste
Staatsstreich gegen die Sprache – die Rechtschreibreform
Forum des Monats

Ein Podiumsgespräch mit Staatsminister a.D. Hans Zehetmair, Reiner Kunze, Hans Krieger, Horst Haider Munske und Peter Horst Neumann.
Der volle Wortlaut der Einladung liegt jetzt vor.

Als Reform ist das Unternehmen Rechtschreibreform, nach dem Urteil der Kritiker, an der Inkompetenz seiner Betreiber gescheitert.
Nun soll das mißratene Regelwerk, bevor es im August dieses Jahres unwiderruflich in Geltung befohlen wird, wenigstens „von einigen der größten Schwachstellen“ gereinigt werden. Dem damit beauftragten Rat für die deutsche Rechtschreibung gehören die sachkundigsten Kritiker und Akademien nicht an.
Hans Zehetmair, der nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt die Rechtschreibreform auch öffentlich kritisch beurteilte, leitet dieses Gremium. Mit seiner Person verbinden sich Hoffnungen auf einen Kompromiß. Kann aber unter dem von der Staatsmacht verordneten Zeitdruck an eine konsensfähige Übereinkunft überhaupt gedacht werden? Und wäre ein Kompromiß wirklich ein Ausweg aus dem Desaster?

Dienstag 22.2.2005
Beginn 19 Uhr

Plenarsaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
München, Marstallplatz 8



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Kommentare zu »Staatsstreich gegen die Sprache – die Rechtschreibreform«
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 12.02.2005 um 18.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#276

"Liebe Genossen, laßt die Tassen im Schrank!" pflegte vor Jahren der Bundeswirtschaftsminister Prof. Schiller zu sagen. Vielleicht sollte man das der Bayerischen Akademie der Schönen Künste auch zurufen. "Staatsstreich" und "Desaster", das hört sich nach einigen Schreihälsen aus der Anfangszeit der Kritik an der Rechtschreibreform an. Andere sind über "Schildbürgerstreich" oder "Köpenickiade" nie hinausgegangen. "Von der Staatsmacht verordneter Zeitdruck", "unwiderruflich in Geltung befohlen" - wenn dies alles zuträfe, würden wir in einer anderen Republik leben, die allerdings mit dieser Art von Kritik schnell fertig wäre. Für den politischen Aschermittwoch könnte man das alles noch hinnehmen, aber nun sitzen bei dieser Diskussion zwei auf dem Podium, die an der Gestaltung und der Schuleinführung des neuen Regelwerks maßgeblich beteiligt waren. Der eine hat längst tätige Reue geübt, der andere bemüht sich um Schadensbegrenzung. Was ist das aber für eine Diskussion, bei der von vornherein feststeht, wer recht und wer unrecht hat. "Inkompetenz der Betreiber" und "sachkundigste Kritiker" paßt in dieses Bild. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die wenigen veränderten Schreibungen sieht man heute überall, und einen lauten öffentlichen Protest dagegen gibt es nicht. Wer nicht mitmacht, insbesondere zwei große Tageszeitungen und die meisten Literaturverlage, erleiden dadurch keine Nachteile. Kritische Stimmen aus den Schulen und aus den Behörden sind selten. Herr Zehetmair hat eine Liste von Korrekturen vorgelegt, die die wirklich schlimmen Mißgriffe der Neuregelung aus der Welt schaffen würden. Diese müßten auch von den Schulen aufgegriffen werden, also nicht nur geduldete Varianten für halbherzig Anpassungswillige bleiben. Das wäre in der Tat ein Kompromiß. Wer den verwirft und alles haben möchte, konsolidiert den jetzigen Zustand. Täuschen wir uns nicht: Die Zeit arbeitet nicht für die Sache einer vernünftigen deutschen Rechtschreibung.


Kommentar von Jörg Metes, verfaßt am 12.02.2005 um 19.00 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#277

»Staatsstreich« paßt schon. Selbst Friedrich Dieckmann - einer, den man einen »Schreihals« nun wirklich nicht nennen kann - hat die Rechtschreibreform genau so bezeichnet: als »Staatsstreich . . . gegen die deutsche Schriftsprache« (Umgang mit einem Staatsstreich, in: Was ist deutsch? Eine Nationalerkundung, Frankfurt/M. 2003 - unvollständig auch hier im Online-Archiv der Berliner Zeitung nachzulesen).


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 12.02.2005 um 21.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#278

Auf welchen Kompromiß sollten sich die Vertreter der Reform einlassen? Und wie wollen sie diesen an die sachkundige Öffentlichkeit verkaufen?
Wenn man die wachsende Verbreitung der ss-Schreibung betrachtet, könnte man tatsächlich glauben, daß sich die Reformschreibung durchsetzt. Der Allgemeinheit sind die Feinheiten der Orthographie – der neuen wie der alten – ohnehin unbekannt, werden es auch bleiben. Deshalb sind Diskussionen auf hohem Niveau – so wichtig sie für die eingeweihten Kreise sind – praktisch irrelevant. Wenn es also um diesen Unter- und Mittelbau der Sprachbenutzer geht, ist es in der Tat unwichtig, was bis zum 1. August 2005 entschieden wird. Man wird, was immer beschlossen sein mag, schlicht nicht zur Kenntnis nehmen. Aber es gibt ja auch die sachkundigen Benutzer der Sprache. Es gibt die Deutschlernenden. Es gibt die professionellen Schreiber. Und die Sprachwissenschaftler. Diesem Personenkreis kann man nichts Halbgares vorsetzen. Da muß man schon Farbe bekennen, etwa der Art: Hier haben wir uns geirrt, oder hier müssen wir nachbessern. Oder: das können wir so nicht stehenlassen. Ist etwas anderes denkbar? Ich zerbreche mir oft den Kopf darüber. Ein Aussitzen des Problems wäre eine Möglichkeit, ist jedoch angesichts des selbstgesetzten Datums schlecht möglich.
Ich glaube, auf einen echten Kompromiß sind die Reformer gar nicht ausgerichtet. Deshalb ist es müßig, von unserer Seite darüber nachzudenken.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 12.02.2005 um 21.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#279

Gegen permanentes Fortissimo wird man allergisch oder taub. In beiden Fällen wird nicht mehr vernommen, um was es überhaupt geht. Und da der Alltag in den deutschsprachigen Ländern trotz Rechtschreibreform dem Anschein nach weitergeht wie zuvor, mag manch einer die aufgeregten Töne der leidenschaftlichsten Reformkritiker nicht mehr so ganz verstehen oder sie für übertrieben halten. Viele unserer Mitbürger leben inzwischen gar nicht so schlecht mit den durch die Reform eingetretenen Verhältnissen. In kargen Zeiten wissen pfiffige Menschen sich bald mit den reduzierten Möglichkeiten einzurichten. Wenn die Zentralheizung kaputt ist, tut es auch ein Kanonenofen, und wenn es kein Benzin mehr gibt, fahren wir mit Holzvergasern. Das hat etwas Anarchisches und Kreatives, und hier zeigt sich, wer sich zu behelfen versteht und deshalb mit der Situation am besten fertig wird.

Die Zeiten sind nun einmal so, daß in den Schulen eine Orthographie gelehrt wird, die auch die Lehrer nicht beherrschen, so daß die Kinder, und später die Erwachsenen, halt mehr oder weniger aufs Geratewohl so schreiben, wie sie es als richtig vermuten. Genauso halten es diejenigen Erwachsenen jetzt schon, denen im sogenannten Leben die Rechtschreibreform gleichgültig ist, was man inzwischen ja auch verstehen kann. Das Resultat liegt täglich in so gut wie allem, was geschrieben und gedruckt wird, vor uns. Man schreibt, wie es gerade kommt, und man holpert beim Lesen immer unempfindlicher über alle orthographischen Schlaglöcher hinweg.

Das Problem liegt in der immer eindringlicher werdenden Erkenntnis, daß es offenkundig ein so großes Problem gar nicht ist. Es reduziert sich nämlich für den Normalbürger, der andere Sorgen als die Regelung der deutschen Rechtschreibung hat, auf mehr oder weniger bedauerliche Schönheitsfehler, die viele überhaupt nicht als solche empfinden. Es geht schließlich auch so, und für die Kultursprache Deutsch ist diese verunglückte neue Rechtschreibung offensichtlich in den Augen vieler immer noch gut genug. »Gut genug«, das ist ein Prädikat, das in unserer Gesellschaft sonst kaum Platz hat, aber bei der Schreibung unserer Sprache ist das nun so.

Wenn im Staat etwas gewaltig daneben geht, dann beruft er in der Regel einen Krisenstab, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Angesichts der sehr unbefriedigend ausgefallenen Rechtschreibreform jedoch beruft er eine amtliche Institution, den Rat für die deutsche Rechtschreibung, nicht etwa, um die entstandenen Probleme von Grund auf zu lösen, sondern lediglich dafür, um »einige der größten Schwachstellen« zu beheben. Und die Mehrheit dieses »Rates« will dies sogar noch verhindern! Dies ist ein Armutszeugnis, für das es fürwahr kein adäquates Fortissimo geben kann.

Wenn man sich der trägen Masse nicht anschließen mag, der das alles so langsam immer mehr zum Halse heraushängt und die den Karren einfach laufen läßt, so bleibt einem eigentlich nur die Zuversicht, daß, anders als Herr Jochems meint, die Zeit halt doch für die Sache einer vernünftigen deutschen Rechtschreibung arbeitet. Aber das dauert dann wesentlich länger als bis zum 1. August 2005; in Wirklichkeit wird der Prozeß dann erst losgehen. Und wohin er führt, das können heute weder die Reformbetreiber noch deren Kritiker wissen. Die Vernunft wird sich schon Wege bahnen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 12.02.2005 um 23.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#280

"Staatsstreich" als Titel eines polemischen Aufsatzes mag ja noch angehen, aber in der Einladung zu einer Diskussion, in der man nach Auswegen aus dem Dilemma suchen möchte? Daß Herr Zehetmair überhaupt kommen will, ist doch schon fast eine Sensation, und nun verprellt man ihn, ehe das Gespräch überhaupt begonnen hat. Wenn diesem achtbaren und in staatlicher Kulturpflege gewiß nicht unerfahrenen Mann nur noch einmal das Sündenregister der Rechtschreibreform vorgehalten werden soll, ist die Veranstaltung überflüssig. "Staatsstreich" geht im übrigen in die falsche Richtung. Zur inhaltlichen Seite der Rechtschreibreform hat das Gros der Hochschulgermanisten und Deutschlehrer geschwiegen, und was die Verfahrensseite angeht, da haben sämtliche Landtage den Kopf in den Sand gesteckt - und Bundestag und Bundesverfassungsgericht noch dazu. Die Presse hat freiwillig die merkwürdigsten Neuschreibungen übernommen, und praktisch jede Werbebroschüre, und was man sonst noch an Gedrucktem unter die Augen bekommt, zeigt kein anderes Bild. Von solch einer Akzeptanz konnten die Urväter der Rechtschreibreform nur träumen. Enttäuscht würden sie allerdings sein, wenn sie die Hasenfüßigkeit ihrer erfolgreichen Nachfahren sähen. Wir tun letzteren einen zu großen Gefallen, wenn wir ihren Ausdruck "neue Rechtschreibung" übernehmen. Auch die Reformbegeistertsten benutzen die traditionelle deutsche Rechtschreibung, die allerdings 1996 ein paar Kratzer abbekommen hat. Von den "sich behände schnäuzenden, belämmerten und grässlich verbläuten Tollpatschen" brauchen wir hier nicht zu reden, so etwas war wohl nur zu Herrn von Friedeburgs Zeiten Teil des Schulvokabulars. Einen Scherbenhaufen haben die Reformer jedoch bei den Getrennt- und Zusammenschreibungen angerichtet, aber das war doch auch vor 1996 das Sorgenkind der deutschen Rechtschreibung und wird es gewiß bleiben. Es würde also nicht genügen, lediglich die entsprechenden Paragraphen der Neuregelung aufzuheben. In diesem Bereich gab es nur Duden-Regeln, die weder die Kultusminister noch die Kritiker der Rechtschreibreform wieder restauriert sehen möchten. Genügt das nicht, um zu zeigen, was für eine Sisyphusarbeit vor Herrn Zehetmair liegt, dazu mit einem Rat, in dem sprachwissenschaftliche Kompetenz nur eine kleine Minderheit bildet? Ob man am 22. Februar in München einen Weg aus dem Rechtschreibdilemma finden kann, ist mehr als zweifelhaft. Wer aber möchte, daß die Wiederherstellung ordentlicher Verhältnisse in der deutschen Rechtschreibung sich nicht über Jahrzehnte hinzieht, sollte solch eine Gelegenheit ehrlich nutzen.


Kommentar von Reiner Kunze, verfaßt am 13.02.2005 um 11.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#281

Zum Beitrag von Herrn Jochems vom 12.2.05, verfaßt um 18.22 Uhr

Herr Jochems schreibt: „‚Staatsstreich‘ und ‚Desaster‘, das hört sich nach einigen Schreihälsen aus der Anfangszeit der Kritik an der Rechtschreibreform an“. Ich empfehle ihm, den Artikel „Umgang mit einem Staatsstreich“ von Friedrich Dieckmann in der Berliner Zeitung vom 4. August 2000 zu lesen. Friedrich Dieckmann ein Schreihals?
Herr Jochems schreibt weiter: „‚Von der Staatsmacht verordneter Zeitdruck‘, ‚unwiderruflich in Geltung befohlen‘ – wenn dies alles zuträfe, würden wir in einer anderen Republik leben …“ Stimmt es, daß die Kultusminister und die Ministerpräsidenten verfügt haben, das in seinen wesentlichen Teilen als falsch erkannte Rechtschreibregelwerk am 1.8.2005 verbindlich werden zu lassen? Und stimmt es, daß sie dem Rat für deutsche Rechtschreibung, in dem eine Minderheit von Sachwaltern der Sprache einer Mehrheit von Vertretern ideologischer, politischer, kommerzieller und anderer orthographiefremder Interessen gegenübersteht, lediglich sieben Monate Zeit gegeben haben, dieses falsche Regelwerk in ein richtiges umzuwandeln? Wenn das stimmt, dann trifft es zu, was Herr Jochems nur in einer „anderen Republik“ für möglich hält.
Schließlich schreibt er: „Die wenigen veränderten Schreibungen sieht man heute überall …“ Die wenigen? Von welcher Rechtschreibreform spricht er?


Zum Beitrag von Herrn Jochems vom 12.2.05, verfaßt um 23.15 Uhr:

Herr Jochems schreibt: „Daß Herr Zehetmair überhaupt kommen will, ist doch schon eine Sensation, und nun verprellt man ihn, ehe das Gespräch überhaupt begonnen hat.“ Wer verprellt ihn? Bestimmt nicht die Bayerische Akademie der Schönen Künste.
In ihrem Einladungstext heißt es, daß sich mit der Person von Hans Zehetmair „Hoffnungen auf einen Kompromiß“ verbinden. Dann fragt Peter Horst Neumann: „Kann aber unter dem von der Staatsmacht verordneten Zeitdruck an eine konsensfähige Übereinkunft gedacht werden? Und wäre ein Kompromiß ein Ausweg aus dem Desaster?“ Was sollte an diesen Fragen sein, das Herrn Zehetmair verprellen könnte? Nur wenn man das, was ist, bei Namen nennt, kann man es verändern.
Da ich an diesem Podium teilnehmen werde, kann ich Herrn Jochems versichern, daß nach meinem Kenntnisstand niemand Herrn Zehetmair in den Rücken zu fallen gedenkt, im Gegenteil. Helfen können wir ihm aber nur, wenn Fragen, wie sie Peter Horst Neumann stellt, nicht tabu sind.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 13.02.2005 um 12.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#282

Zwei Aussagen möchte ich widersprechen:
1.) Herr Walter Lachenmann: "Die träge Masse, die den Karren einfach laufen läßt."
2.) Frau Karin Pfeiffer-Stolz: "Der Allgemeinheit sind de Feinheiten der Orthographie - der neuen wie der alten - ohnehin unbekannt."
Ich habe mit vielen Leuten über die Rechtschreibreform gesprochen: Die Leute haben resigniert, weil sie gegen die diktatorischen Kultusminister doch nichts ausrichten können und weil sie von den übrigen Politikern in dieser Sache maßlos enttäuscht sind und weil sie wegen ihrer Schulkinder wenigstens pro Forma das Scheiß-Spiel mitspielen müssen. Das sind die mehrheitlichen Aussagen. Die Rechtschreibreform hat nicht nur die Sprache, sondern das Ansehen der deutschen Demokratie und das Vertrauen in deren angebliche Regeln schwerstens beschädigt. Auf diesen viel schwereren Schaden muß man hinweisen.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 13.02.2005 um 14.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#283


Lieber Herr Koch,
vielleicht hätte ich die „Allgemeinheit“ besser eingrenzen sollen. Das möchte ich aber aus bestimmten Gründen nicht tun. Den Bedächtigen, den nicht ideologisch Ver-, sondern allgemein Gebildeten ist natürlich schon klar, welcher Unsinn mit der sogenannten Rechtschreibreform angezettelt worden ist. Außerdem verlassen sich mehr und mehr Personen auf das Korrekturprogramm der Computer, schreiben also gar nicht selbst „neu“, obwohl ihre „Schreibprodukte“ diesen Eindruck erwecken. Das ist auch so eine Frage: Welches Verhältnis zur geschriebenen Sprache bildet sich hier heran, wenn es nicht mehr „aus mir selbst schreibt“, sondern ich quasi „geschrieben“ werde (wobei mir von der Maschine fremde orthographische Formen untergeschoben werden). Welche Folgen dies für das Lesen haben wird, kann niemand voraussagen.

Und vielleicht hätte ich auch „Feinheiten“ besser definieren sollen: Ich dachte dabei an die in diesem Forum intensiv diskutierten Fragen der Groß- und Kleinschreibung – um ein Beispiel zu nennen. Unter „Feinheiten“ verstehe ich Bereiche der Orthographie, in denen wir uns etwas unsicher fühlen, wenn wir auch sonst über gute Rechtschreibkenntnisse verfügen.
Daß allenthalben Resignation kennzeichnend ist für die Haltung der Mehrheit, ist schon klar. „Was kann ICH denn schon ausrichten?“ so fragt man sich. Dabei kann gerade im Fall „Rechtschreibreform“ jeder einzelne ganz einfach etwas zu tun und damit auch in Bewegung setzen: die neuen Regeln mit Mißachtung strafen und wie vor 1996 weiterschreiben.

Leider üben sich die meisten Menschen im guten (aber naiven) Glauben, sie müßten sich der staatlichen Anordnung beugen, hinter der sie eine Mehrheitsentscheidung vermuten. Wer oder was diese vermeintliche „Mehrheit“ darstellt, ob sie demokratisch legitimiert ist oder nicht, diesen Fragen stellen sich die Leser und Schreiber nicht. Sie haben nicht gelernt, selbständig zu denken und verantwortungsbewußt zu handeln (obwohl sie das glauben).


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.02.2005 um 14.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#284

Zum Stichwort "Inkompetenz" möchte ich auf einen wichtigen Umstand hinweisen, der viel zu selten als Argument genutzt wird. Was bedeutet die Auflösung der Zwischenstaatlichen Kommission durch die deutschen Kultusminister? Daß Österreich und die Schweiz ihre Mitglieder sogleich wieder in den neuen "Rat" berief, war ja kaum vorhersehbar und muß hier außer Betracht bleiben. Der Zwischenstaatlichen Kommission war in regelmäßigen Abständen ihre Kompetenz bescheinigt, ihr Mandat erst im Frühsommer 2004 verlängert worden, und zwar der Absicht nach auf unbegrenzte Zeit. Sie und niemand sonst sollte in Zukunft über die deutsche Rechtschreibung wachen bzw. verfügen. Nun ist sie verschwunden. Im "Rat" sitzen hauptsächlich die Mitglieder des bisherigen "Beirates", der der Kommission ursprünglich nur beigesellt war, sie nun aber ersetzen soll. Aber die eigentlichen Reformer saßen in der Kommission, nicht im Beirat. Der Beirat und der jetzige Rat bestehen, wenn man von den wenigen Wörterbuchredakteuren absieht, aus lauter Laien, Geschäftsleuten, Verbandsfunktionären. Sind sie kompetent, über die deutsche Rechtschreibung zu wachen bzw. zu verfügen? Natürlich noch viel weniger als die durch ihre Auflösung quasi-amtlich für inkompetent erklärte Kommission.

Das sind Argumente, die man unbedingt in die Debatte werfen sollte. Außerdem muß man auch an die gerade von Herrn Zehetmair immer wieder angemahnte Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung erinnern (z.B. an die Regierungserklärung im bayerischen Landtag 1995). Geblieben ist das sehr dünne Argument, daß die Mitglieder des "Rates" (wie früherer Gremien) irgendwie demokratisch legitimiert seien, insofern sie von irgendwelchen Leuten, die von irgendwelchen Leuten, die von irgendwelchen gewählten Volksvertretern bestellt worden sind, ernannt worden sind, auf ihre Posten berufen worden sind. Ansonsten aber war noch keine der Tagungen, Anhörungen, Sitzungen usw. auch nur presseöffentlich. Es gibt in der Regel nicht einmal Protokolle, wie es noch im Kaiserreich selbstverständlich war.
Im Grunde läuft alles darauf hinaus, daß die Ministerialbeamten Krimm usw. in Zukunft die Rechtschreibung regeln, der Rat also nur Alibifunktion hat. Das verrät schon dessen Statut.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.02.2005 um 16.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#285

Friedrich Dieckmann überschrieb seinen Aufsatz in der Berliner Zeitung vom 4. August 2000 übrigens "Umgang mit einem Staats-Streich", was BZ-Chefredakteur Martin E. Süskind tagsdarauf so interpretierte: Vielleicht haben Sie gestern in Ihrer Zeitung den Text von Friedrich Dieckmann zur Rechtschreibreform gelesen. Er spricht von einem Staats-Streich in des Begriffes doppelter Bedeutung: dem Streich, der uns allen gespielt worden ist durch die Entscheidung eines Bürokratenkomitees im Jahre 1995, und der einem Staatsstreich ähnlichen Durchsetzung des seinerzeit Beschlossenen, und Rolf Seydlitz von der Saarbrücker Zeitung faßte zusammen: Der ostdeutsche Schriftsteller Friedrich Dieckmann bezeichnete die Reform als "Überrumpelung eines Volkes durch die Obrigkeit" und "Symptom für die schleichende Entdemokratisierung des öffentlichen Lebens". Ein "wirkliches Kulturvolk" dürfe so nicht mit sich umspringen lassen, redete sich der Autor in Rage. Die Neuregelung habe den "Charakter eines Staatsstreichs". Dennoch sollten "sinnvolle Regelungen der neuen Rechtschreibung bewahrt bleiben", forderte der Autor. Wirkliche Achillesferse der Reform seien die Getrennt- und Zusammenschreibungen. Anlaß zu alledem war bekanntlich die Rückumstellung der FAZ am 1. August 2000. Die Diskussion ging damals noch eine Weile weiter. Am 2. September 2000 schieb Iljoma Mangold (ebenfalls in der BZ):

Friedrich Dieckmann nannte das Verfahren, mit dem die Politik die Reform durchsetzte, in dieser Zeitung einen "Staats-Streich", aber auch ein Staatsstreich kann dauerhaft auf die Zustimmung der Mehrheit seiner Bürger nicht verzichten. Die Formen zivilen Widerstands sind in diesem Fall eben denkbar einfach: Wenn jeder weiter so schreibt, wie er es für ästhetisch überzeugend und im Sinne der Bedeutungsdifferenzierung für notwendig hält, ist zwar die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache gefährdet, die Arroganz der Macht aber zugleich blamiert: Plötzlich ist es die Politik, die ihre Ohnmacht akzeptieren muss, wenn sie feststellt, dass sich Sprache nicht auf dem Verordnungswege disziplinieren lässt: Alle Macht geht von der Sprachgemeinschaft aus.

Was aber heißt Rücknahme der Reform? Die "F.A.Z." kehrte zur alten Schreibweise zurück, um überhaupt eine verbindliche Arbeitsgrundlage zu haben, die frei ist von den Widersinnigkeiten, die die Reform der Sprachgemeinschaft zumutet. Auf längere Sicht wird sich zuletzt wohl eine reformierte Reform durchsetzen, die vor allem das bedeutungsnivellierende Dogma der Getrenntschreibung kippt: Das "frisch gebackene Ehepaar" hat sicher keine Zukunft. Friedrich Dieckmann forderte denn auch, "den rationalen Kern zu bewahren und den Rest wegzuschlagen".


Friedrich Dieckmann war übrigens in der FAZ vom 1. 8. 2000 auf den Begriff "Staatsstreich" gestoßen, und zwar in einem Bericht von Dr. Reumann:

Nicht nur, was die neuen Regeln vorschrieben, sondern auch und vor allem, wie sie „von oben herab durchgedrückt" worden seien, empöre alle freiheitlich denkenden Bürger, sagte der Schriftsteller Günther Kunert auf derselben Veranstaltung. Jemand, der einen großen Teil seines Lebens in der DDR verbracht habe, fühle sich an diktatorische Praktiken erinnert: Die Einführung der neuen Regeln wirke auf ihn wie ein Staatsstreich. Wer damit einmal Erfolg habe, sei in Versuchung, dergleichen zu wiederholen. Der Coup der Kultusminister könnte auch andere dazu verleiten, ähnlich zu verfahren. Daher gehe es nicht nur um die Regeln der Rechtschreibung, sondern auch und vor allem um die Regeln der Demokratie. Er rufe allen Bürgern zu „wehret den Anfängen", sonst fänden sie sich unversehens in einer Halb-DDR wieder. Die Rückkehr der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu den alten Schreibweisen und die begeisterte Reaktion der Leser seien daher nicht nur ein Bekenntnis zur sprachlichen Vernunft, sondern auch ein Zeichen demokratischen Selbstbewußtseins. Er hoffe auf viele Nachahmer.

Noch eins: Zum "Fortissimo" liest man am besten Dieckmanns Schlußabschnitt:

Wenn dieses ganze Reformkuddelmuddel dazu helfen würde, eine vernünftige Freiheit im Umgang mit der Schriftsprache zu befördern, dergestalt, daß kein Schüler mehr zu grübeln braucht, ob er "im Stillen" oder "im stillen" schreibt, und kein Korrektor mehr dem Autor verwehrt, nach einem Doppelpunkt auch dann klein zu beginnen, wenn ein vollständiger Satz folgt, so wäre viel gewonnen in einem Volk, das eins der Mitte nur in geographischer Hinsicht ist; statt die rechte Mitte zu suchen und zu finden, neigt es dazu, zwischen der starren Regel und schrankenloser Willkür hinundherzutaumeln. Maßvolle Freiheit - das ist fast schon die Definition von Kultur. Diese ganze teure und törichte Affäre namens Rechtschreibreform hätte sich vermeiden lassen, wenn die unbefugten Bevollmächtigten der deutschsprachigen Länder vor ihrem scheinrationalen Unterfangen einmal auf den Umgang der Engländer, Franzosen, Spanier mit ihrer ungemein komplizierten Schriftsprache geblickt hätten. Sie hätten von ihnen lernen können, was auch sonst hilfreich wäre: Gelassenheit im Umgang mit dem Herkömmlichen, auch und gerade dort, wo es Widersprüche aufweist.

Nichts anderes meint der gegenwärtige Schreiber.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.02.2005 um 22.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#287

"Staatsstreich" taucht in der Berichterstattung zum erstenmal am 26. 8. 1997 auf, und zwar - in der Berliner Zeitung: Über die Motive der Politiker (hier: überwiegend Fraktionsvorsitzende - die Landtage sind übergangen! Staatsstreich!) muß nicht gerätselt werden. Hauptsache, man ist bei den News dabei.

Anfang August 2000 bringen Günther Kunert und Friedrich Dieckmann den "Staatsstreich" ins Gespräch, die journalistische Auseinandersetzung zieht sich bis in den September hin. Darüber haben wir schon berichtet. Dann gibt es wieder eine Pause von zwei Jahren.

Erst am 23.12.2002 kommt der Jurist Bernd Rüthers in der FAZ auf den "Staatsstreich" zurück: Die Sprachgemeinschaft insgesamt und erst recht die deutsche Wissenschaftssprache brauchen um ihrer Existenz und ihres Niveaus willen ein Höchstmaß an Ausdrucksgenauigkeit und Differenzierungsvermögen. Was zu dieser Frage während des Streits um die Schreibreform von mehreren Kultusministern sowie anderen Bildungspolitikern an arroganten und ignoranten Unsäglichkeiten gegenüber kritischen Schriftstellern und Wissenschaftlern geäußert worden ist, spottet buchstäblich jeder Beschreibung. Die Zitatbelege für diesen Skandal werden eines Tages vom Geisteszustand der deutschen Bildungspolitik an der Jahrtausendwende Zeugnis geben. Ihre Einführung durch die KMK mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts war nicht nur ein Staatsstreich (von oben) gegen die bewährten Schreibregeln, sondern zugleich ein ungewollter Staats-Streich im Sinne des Karnevals nach der neu verordneten Schreibweise. Insoweit können auch Rechtschreib-Regeln verräterisch sein.

Wiederum zwei Jahre später - am 7. 8. 2004 spricht Norbert Schäbler in einem Internetkommentar erneut von "Staatsstreich":

Die Rückkehr der großen Zeitungen, die laut eigenen Angaben rund 60 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte erreichen, hat natürlich Folgen. Da wird ein Rad in Bewegung gesetzt, bei dem sich sofort Gedanken zu den Themen „Geld" und „Leid" einpendeln: „Die armen Kinder!" – „Was wird das wieder kosten?" Doch das sind unüberlegte, von den Reformbetreibern eingepflanzte Parolen. Als die Rechtschreibreformer seinerzeit ihre Machenschaft betrieben – als sie ihren Staatsstreich ausheckten – haben sie diese Fragen niemals gestellt, haben im Gegenteil die tatsächlichen Kosten heruntergespielt, um Widersprüche mit Hilfe von Lügen zu entkräften. Diese Rechtschreibdiktatoren haben seinerzeit die Demokratie mit Füßen getreten, und es kann einem Bürger, welcher der Staatsform „Demokratie" verbunden ist, nur recht sein, wenn jetzt die Larven fallen, nachdem das Rad angefangen hat, sich zu drehen.

Am 15. 8. 2004 dreht Harald Martenstein im Tagesspiegel den Spieß um - jetzt ist das "Springer-Spiegel-Komplott" staatsstreichverdächtig:

In diesem Artikel geht es nicht darum, ob die Rechtschreibreform vernünftig oder unvernünftig ist, gut oder schlecht. Das ist ein anderes Thema. In diesem Artikel geht es darum, ob es gut ist, wenn drei mächtige Männer, Personen, die durch nichts anderes legitimiert sind als durch die Macht ihrer Firma, den Beschluss einer deutschen Kultusministerkonferenz kippen können. Kippen? Nein, wegwischen. In einer Aktion, die, wenn es um etwas Wichtigeres ginge als Rechtschreibung, Züge eines Staatsstreichs hätte. Die Reform taugt nichts, weg damit, wir machen das mal eben. Wer hat die Macht? Die Parlamente und die Regierungen, die durch Wahlen bestimmt werden, oder die großen Medienunternehmen? Das ist die Frage.

Der neue Vorwurf heißt jetzt "Putsch", offenbar von Hans-Ulrich Jörges (Stern, früher Die Woche) lanciert, aufgegriffen von Wolfgang David in der Sächsischen Zeitung vom 30. August 2004:

Wer im Bürgerkrieg um die deutsche Rechtschreibung bei den Guten kämpfen möchte, hat es leicht und schwer zugleich. Leicht, weil er sie auf beiden Seiten der Front finden kann; schwer, weil die Guten, wenn sie sich gegenseitig beharken, nicht mehr sind, was sie waren, bevor sie damit anfingen. Also zurück ins Niemandsland.

Nichts deutet darauf hin, dass die Gesellschaft die Rückverwandlung der Schriftkunde in eine Geheimlehre wünscht. Schon gar nicht ist sie zu den Opfern bereit, mit denen das Streben nach der idealen Orthografie erkauft werden müsste. Doch wie viel Reform darf es sein? [...] Die Erfahrung lehrt, dass diejenige Rechtschreibung die beste ist, an die sich alle halten – und sei sie mit Mängeln behaftet. Statt in ihre Vervollkommnung zu investieren, scheint es sinnvoller, den Glauben an ihre Verbindlichkeit zu stärken.

Schon Bismarck hatte die Beamten seines Ressorts mit „gesteigerten Ordnungsstrafen" zum Festhalten an den alten Regeln motivieren wollen. Als „Tee" nicht mehr mit „h" geschrieben werden durfte, ließ sich Thomas Mann nicht beirren. Er blieb bis ans Lebensende der Schreibweise treu, die er gelernt hatte – in seinen Tagebüchern. Zu rebellieren kam ihm nicht in den Sinn. Damals sorgten die autoritären Verhältnisse in Ämtern und Schulen dafür, dass Ruhe einkehrte. Heute könnte es die Einsicht sein, dass im Reich der Verständigung jede Übereinkunft besser ist als keine. Warum hat es diese einfache Wahrheit so schwer? Statt dass sich die klügsten Köpfe weiterhin am dümmsten aller Putsche beteiligen, sollten sie wetteifern, wer als erster verstummt. Dann regelt sich die Sache wie von selbst.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.02.2020 um 16.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#11086

Ich bin gerade noch einmal auf den von Helmut Jochems eingetragenen Auszug aus Harald Martensteins unsäglich staatshörigem Angriff auf die rückkehrwilligen Zeitungsmacher gestoßen (http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#287). Hier ist der ganze Text:

Die drei Berlusconis

Springer, „Spiegel“ und „FAZ“ wischen die Rechtschreibreform einfach weg. Damit stellen sie sich über die Politik

Von Harald Martenstein
(Tagesspiegel 15.08.2004)

In diesem Artikel geht es nicht darum, ob die Rechtschreibreform vernünftig oder unvernünftig ist, gut oder schlecht. Das ist ein anderes Thema. In diesem Artikel geht es darum, ob es gut ist, wenn drei mächtige Männer, Personen, die durch nichts anderes legitimiert sind als durch die Macht ihrer Firma, den Beschluss einer deutschen Kultusministerkonferenz kippen können. Kippen? Nein, wegwischen. In einer Aktion, die, wenn es um etwas Wichtigeres ginge als Rechtschreibung, Züge eines Staatsstreichs hätte. Die Reform taugt nichts, weg damit, wir machen das mal eben.

Wer hat die Macht? Die Parlamente und die Regierungen, die durch Wahlen bestimmt werden, oder die großen Medienunternehmen? Das ist die Frage.

Die drei Männer sind der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen“, Frank Schirrmacher, der Chef des Springer-Konzerns, Mathias Döpfner, und der Chef des „Spiegel“, Stefan Aust. Zwei von ihnen haben gerade synchron und in großer Aufmachung ihren Ausstieg aus der neuen Rechtschreibung erklärt, der Dritte war gar nicht erst eingestiegen. Andere, vor allem die „Süddeutsche Zeitung“, haben sich angeschlossen. Wenn man das Gewicht dieser drei zusammennimmt, sind Schirrmacher, Döpfner und Aust fast eine Art Berlusconi. Zusammen repräsentieren sie einen guten Teil der publizistischen Macht in einem Land, in dem die Medien seit Jahren unablässig wichtiger und mächtiger geworden sind, was man unter anderem daran merkt, dass dieses Land einen Medienkanzler hat, der einmal gesagt hat, dass er zum Regieren vor allen die „Bild“-Zeitung und die Glotze braucht. Außerdem besitzt dieses Land ein Über-Parlament, das den Namen „Sabine Christiansen“ trägt.

Wie sehr das Machtgefüge sich zugunsten der Medien verschoben hat, wird einem klar, wenn man an Austs Vorgänger denkt, an Rudolf Augstein. Augstein wollte in einem bestimmten Moment seines Lebens zum politisch Handelnden werden, also ließ er sich für die FDP in den Bundestag wählen (wo er es nur kurz aushielt). Bundestagsabgeordneter! Für jeden Chef eines Medienkonzerns wäre dieser Job inzwischen ein gewaltiger Abstieg. Das macht heute keiner mehr. Volksvertreter sind viel zu machtlos.

Die drei Medien-Manager haben jedes Recht der Welt, mit Kommentaren und sogar mit Kampagnen Sturm zu laufen gegen eine Reform, die sie, aus nachvollziehbaren Gründen, für unsinnig halten. Es ist auch ihr Recht, in ihrem jeweiligen Medium an den alten Schreibweisen festzuhalten. Das ist jedermanns Recht: zu schreiben, wie man möchte. „Daß“ zu schreiben, ist nicht strafbar. Im Grunde dürfen die deutschen Kultusminister nur eines: Sie dürfen bestimmen, was an den Schulen gelehrt wird. Denn an den Schulen muss es eine geltende Schreibnorm geben, sonst verzweifeln Lehrer und Schüler. Mit ihrer konzertierten Aktion aber regieren die drei Medienmanager indirekt in die deutschen Schulen hinein. Sie wollen, kraft ihrer wirtschaftlichen und publizistischen Macht, bestimmen, wie die deutschen Schüler schreiben.

Was kommt als Nächstes? Werden als nächstes die drei größten deutschen Konzerne erklären, dass sie den Kündigungsschutz für noch unsinniger halten als die Rechtschreibreform, und dass sie sich deswegen ab sofort nicht mehr an die entsprechenden Vorschriften halten?

Der Respekt vor den Spielregeln ist nun mal eines der zentralen Prinzipien der Demokratie. Spielregeln gelten für alle. Das Gegenteil dieses Prinzips heißt: Recht des Stärkeren, Selbstjustiz.

Hinter dem Versuch der drei Manager, die Rechtschreibreform wegzuputschen, schimmert erstaunlicherweise der alte, antiautoritäre 68er-Geist, den man im Hause Springer zuallerletzt vermutet hätte. „Die Sprache gehört nicht der Kultusbürokratie“, heißt es im letzten „Spiegel“, Originalton ’68. Die Rede ist von einer „parteiübergreifenden Bürgerbewegung“. Man steht also wieder an der Spitze der Bewegung. Im Kampf gegen die Rechtschreibreform ist ein interessantes geistiges Mischprodukt entstanden – der revolutionäre Ton von einst verschmilzt mit dem neoliberalen Geist von heute. Der Neoliberale sieht im Staat ja immer und zuallererst „Bürokratie“, der Staat muss überall zurückgedrängt werden, zugunsten von – ja, was? Zugunsten der Manager. Das ist die neue revolutionäre Elite.

Die drei Manager haben eine Art magische Linie überschritten. Bisher hat als ehernes Prinzip gegolten: Journalisten sind Beobachter. Journalisten mischen nicht selber mit im Spiel der Macht. Sie beschreiben und kommentieren, mehr nicht. Seit der Rollenwechsel zwischen Politikern, Journalisten und Moderatoren eine alltägliche Sache geworden ist, galt dieses Prinzip ohnehin nur noch eingeschränkt. Jetzt muss man sich offiziell davon verabschieden. Die berühmte, in jeder Journalistenschule gelehrte Regel des Fernsehmoderators Hanns Joachim Friedrichs – Journalisten machen sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten Sache –, diese Regel gilt nicht mehr für alle.

Einen Volksentscheid würde die Rechtschreibreform bestimmt nicht überstehen. Das wäre immerhin ein demokratisches Verfahren. Das Volk entscheidet. Und nicht drei Firmenchefs, die sich zusammensetzen, in der Berliner „Paris Bar“ vielleicht, und zu dritt beschließen, mal eben einen Ministerbeschluss zu kippen.


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Also: Wenn die Kultusminister eine Rechtschreibreform für ihre Schulen beschließen, dann haben die Zeitungen gefälligst zu folgen.

Nimmt man seinen scharfen Angriff auf die Reform vom 31.7.1999 hinzu, fragt man sich, ob der Mann fünf Jahre später noch ganz bei Trost war.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2020 um 15.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=201#11087

Über Martensteins seltsamen Artikel, den er ausführlich zitiert, schreibt Michael Angele: „Mit seiner Kritik an der Hybris der Verlage hatte er ein breites Unbehagen formuliert.“ (Schirrmacher. Berlin 2018:127) – Woher will er das wissen?
Hält auch Angele es für Hybris, wenn Döpfner, Aust und Schirrmacher ihre Rückkehr zur herkömmlichen, von den Lesern mit großer Mehrheit gewünschten Rechtschreibung vereinbarten? Jedenfalls stimmt er zu, daß die Entscheidung über die Orthographie der eigenen Zeitungen Politik sei und daß die „vierte Gewalt“ dazu kein Recht habe. Zu Hubert Spiegels zähneknirschender Ankündigung in der FAZ (Unsinnigen Regeln werden wir auch in Zukunft nicht folgen: Schreibweisen wie Stängel statt Stengel oder Tollpatsch statt Tolpatsch wird es auch in Zukunft in dieser Zeitung nicht geben) sagt er: „Durch die Leserschaft dürfte in diesem Moment ein heftiges Ncken bei gleichzeitigem Kopfschütteln gegangen sein.“ (128) – Wiederum: Woher will er das wissen?

Die Zitate sind übrigens typisch für Angeles Buch. Er schreibt auch:

"Und ein wenig wie damals, als Stefan George auf den Straßen von Schwabing seine Jünger rekrutiert hatte, fischte Schirrmacher nun im World Wide Web. Er wollte schräge, begabte Blogger für die FAZ gewinnen." (181)



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