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Beiträge zum Thema

»Wer erklärt uns die neue Rechtschreibung?
FAZ, 7. Oktober 2003«

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Jan-Martin Wagner
Jena

Dieser Beitrag wurde am 18.12.2006 um 20.51 Uhr eingetragen.
Adresse: http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=96#1210


Stefan Stirnemann

Wer erklärt uns die neue Rechtschreibung?

Sieben Jahre sind vergangen, seitdem die „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ unterzeichnet worden ist. In dieser langen Zeit ist am Regelwerk und in den Wörterbüchern unaufhörlich geändert und „verbessert“ worden, und noch immer sind viele Fragen offen. Sieben dieser Fragen haben wir gemeinsam mit den Schweizer Monatsheften ausgewählt, Zweifelsfälle, die ein Licht auf das ganze Ausmaß der Verwirrung, Willkür und Inkonsequenz dieser mißglückten Reform werfen.

Es ist Zeit, daß sich die Verantwortlichen der Öffentlichkeit erklären. Wer gibt uns eine Erklärung? Die Reformkommission? Die Dudenredaktion? Die Kultusministerkonferenz? Die Befürworter der Reform sind hiermit aufgefordert, kurze Antworten auf die von Stefan Stirnemann formulierten Fragen bis zum 20. Oktober an eine der folgenden Adressen zu schicken: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturblatt, 60327 Frankfurt am Main; literatur@faz.de beziehungsweise Stefan Stirnemann, Schweizer Monatshefte, Vogelsangstrasse 52, CH-8006 Zürich; info@schweizermonatshefte.ch.

Eine Auswahl der Antworten wird abgedruckt. Unterdessen protestieren jetzt erstmals auch internationale Autoren gegen die Rechtschreibreform. Harry Mulisch, Stanislaw Lem und andere wollen, daß ihre Bücher in der alten Rechtschreibung übersetzt und gedruckt werden. Wir dokumentieren den von der Forschungsgruppe Deutsche Sprache angeregten Aufruf.

I. Heißersehnt?

Das Wort heißersehnt gilt den neuen Wörterbüchern als „alte Schreibweise“, es soll gemäß Paragraph 36 E1 (1.2) des neuen Regelwerks getrennt geschrieben werden: heiß ersehnt. Nun lesen wir bei Erich Kästner: „Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande“ (in: „Notabene 45. Ein Tagebuch“). Dieser Satz bot bis 1996 keine Schwierigkeiten, widerspricht aber heute der amtlichen orthographischen Norm. Wir fragen: Hat Kästner wirklich falsch geschrieben, oder stimmt etwas mit der neuen Regel nicht? Falls die neue Regel falsch ist: Wie lange wartet man, bis man sie berichtigt, indem man nicht eine „alte“, sondern die gute Auffassung wieder zu Ehren zieht? Wer gibt uns eine Erklärung? Die Reformkommission? Die Dudenredaktion? Die Kultusministerkonferenz?

II. Eszett?

Die nagelneue Regelung des Eszett geht zurück auf Johann Christian August Heyse (1764 bis 1829). Sein erfolgreiches „Lehrbuch der deutschen Sprache“ wurde zuerst von seinem Sohn Karl Ludwig überarbeitet, später von Otto Lyon. Nun lesen wir im Protokoll der II. Orthographischen Konferenz von 1901, daß sich Otto Lyon „entschieden gegen die Einführung der Heyseschen Schreibweise erklärt“ habe. In der sechsundzwanzigsten Auflage der Grammatik Heyses von 1900 schreibt Lyon: „Der Schreibgebrauch hat sich in überwiegender Weise dafür entschieden, am Ende einer Silbe wie auch vor einem t, das ss in ein ß zu verwandeln.“ Die Beschlüsse der Konferenz trugen dem Rechnung. Im Jahr 1901 wurde also der Schreibgebrauch bestätigt; er ist seither natürlich noch allgemeiner geworden. Wir fragen: Warum soll ein so allgemeiner Brauch plötzlich nicht mehr gelten? Und welcher alte und allgemeine Schreibgebrauch wird als nächster aufs Korn genommen?

III. Gräulich?

Das Wort greulich wird nach dem Stammprinzip neu „gräulich“ geschrieben. Im Duden-Taschenbuch 26 steht dazu: „Man muß das Wort also in der Schreibung nicht mehr vom gleich lautenden Farbadjektiv gräulich unterscheiden.“ Nun lesen wir in der neuesten Ausgabe von Thomas Manns Idylle „Herr und Hund“ vom Flusse, der „unter anderen Umständen aber ein geradezu gefährliches Wesen annimmt, zum Strome schwillt, sein weites Bett mit gräulichem Toben erfüllt“. Der Text wurde anhand der Erstausgabe von 1919 neu durchgesehen. Die Stelle ist allerdings nicht eindeutig, denn ein kurz vor der Erstausgabe erschienener bibliophiler Druck bietet „greuliches Toben“, und das Manuskript ist seit dem 6. August 1921 verschollen. Wie immer es sich verhält: Nach den neuen Regeln ist es nicht einmal mehr möglich, die Wahl auszudrücken, die hier getroffen werden muß. Wir fragen: Warum verbietet man eine Unterscheidung, für die der Leser nur danken kann, wenn gleichzeitig im amtlichen Wörterverzeichnis gewissenhaftest „anstrengen“ von „ansträngen“ unterschieden wird?

IV. Wer informiert uns korrekt?

Der Paragraph 63 der neuen Regeln schreibt vor, die Fügung „Erste Hilfe“ wie viele andere klein zu schreiben: „erste Hilfe“. Die Nachrichtenagenturen befolgen diese Vorschrift freilich nicht. In der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ vom 2. Mai 2002 lasen wir, daß der Präsident der Reformkommission „Erste Hilfe“ für einen Begriff der Fachsprache hält, der außerhalb der neuen amtlichen Norm liege. Und dem „St. Galler Tagblatt“ vom 17. Mai 2003 entnehmen wir, daß ein anderes Mitglied der Reformkommission die Schreibweise „ohne Weiteres“ einführen möchte, obwohl Paragraph 58 (3) ausdrücklich die Kleinschreibung festlegt. Gehen die Änderungen jetzt gar nicht mehr in die Regelwerke ein, sondern werden nur noch auf Zeitungspapier gedruckt? Wir fragen: Welches Medium muß man konsultieren, welche Zeitung beziehen, um rechtzeitig zu erfahren, was gilt, nicht mehr gilt oder gelten wird?

V. -ig/-isch/-lich.

Laut Regelwerk sollen zweiteilige Adjektive, „bei denen der erste Bestandteil eine Ableitung auf -ig, -isch, -lich ist“, getrennt werden. Das klingt wie die Eselsbrücke eines Schulmeisters. Nun lesen wir alte und neue Wörter wie: winzigklein, rötlichgelb, prächtigbunt, zornigverachtungsvollst. Wir fragen: Da auch Wörter auf -ig, -isch, -lich mit anderen Wörtern eine Verbindung des Begriffs eingehen können, warum soll man diese Verbindungen heute nicht mehr als Wort schreiben? Überbrückt diese Eselsbrücke nicht die Sprachwirklichkeit?

VI. Der Drache?

Im Zuge der Vereinfachung unserer Rechtschreibung hat man die Zusammensetzung „furchteinflößend“ durch „Furcht einflößend“ ersetzt. Folgerecht ist der Drache nach dem Duden des Jahres 1996 ein Furcht erregendes und Feuer speiendes Tier. Vier Jahre später hat man weiter vereinfacht, und gemäß Duden 2000 ist der Drache ein furchterregendes, Feuer speiendes Tier. Nun lesen wir im Duden-Bedeutungswörterbuch von 2002, daß der Drache ein Furcht erregendes, Feuer speiendes Tier sei. Wir fragen: Ist das ein halber Rückschritt oder ein geheimnisvoller Fortschritt? Und welche Schritte sind noch geplant?

VII. Was wohl?

In einer Übersetzung des frühen sechzehnten Jahrhunderts spricht Alkinoos zu Odysseus von dessen „wolbekanten gesellen und helden“. Im späten zwanzigsten Jahrhundert hat die neue amtliche Norm alte und harmlose Adjektive wie wohlbekannt oder wohlgeraten zu Knacknüssen gemacht: wohlgeraten (Duden 1996)? Oder wohlgeraten, auch wohl geraten (Duden 2000)? Oder doch wohlgeraten (Wahrig, Bertelsmann 2002)? Nun lesen wir folgenden Satz eines Literarhistorikers in neuer Rechtschreibung: „Wie haben wir uns diese doch wohl bewußte Abweichung von einer wohl bekannten Regel zu erklären?“ In guter Rechtschreibung ist der Satz auf den ersten Blick verständlich; in „Orthografie“ liest man ihn dreimal und kann vermuten, was gemeint ist. Wir fragen: Schreiben wir, um einander Rätsel aufzugeben oder um einen Sinn möglichst unzweideutig zu vermitteln? Und wenn es die Möglichkeit gibt, die Vermittlung durch Zusammenschreiben zu sichern: Wer will diese Möglichkeit jetzt verbieten? Wer gibt uns eine Erklärung? Die Reformkommission? Die Dudenredaktion? Die Kultusministerkonferenz?

(F.A.Z., 7. 10. 2003, Seite 44)
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Christoph Schatte
Poznan

Dieser Beitrag wurde am 18.12.2006 um 22.28 Uhr eingetragen.
Adresse: http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=96#1211


Die neue Rechtschreibung liegt außerhalb der Dimension von Erklärlichem. Sie ist hinsichtlich ihres Entstehens und Werdens wie auch hinsichtlich ihrer verlogenen Eintrichterung durch Nicht-Schreiber und ihrer jämmerlich auf die Staatsmacht zurückgreifenden Oktroyierung nur auf eine unheilige Komplexion von Irrationalem zurückführbar. Dieser totalitär installierte Flickenteppich wird einer Nation zugemutet, die bis dato als halbwegs bei Sinnen galt. Soll das mit diesem Staatsstreich gegen die deutsche Kultur geändert werden?

– "Wenn die Vernunft schläft, ..." – Der Maler war in Deutschland (übrigens) schon einmal eingeschlafen. Hoffen wir das Beste!
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