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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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01.10.2010
 

Akademisches
Dünnes Süppchen, nachlässig serviert

Angelika Becker/Wolfgang Klein: Recht verstehen. Berlin 2008 (Akademie Verlag) (Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften)

In Reformschreibung, aber schon im Vorwort heißt es: im allgemeinen, faßlich, verfaßt, im einzelnen. Im Haupttext andere Fehler wie soviel, lingui-stisch, ersteres – letzteres, müßte usw.

(Zur Akademikergruppe, die den Text erarbeitet hat, gehört auch Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter mit Schwäche für die Rechtschreibreform.)

Das Buch ist ganz nett, es zeigt an einer sehr kleinen Gruppe von Versuchspersonen, wie sie einen Text zur Riester-Rente verstehen bzw. nicht verstehen. Die Literatur ist einseitig kognitionspsychologisch, fast nur amerikanische Veröffentlichungen, aus denen auch sehr Banales belegt wird, und man vermißt sehr viel, was schon zur Verständlichkeit von Rechtstexten geschrieben worden ist.

Zugrunde liegt eine ganz naive Sprachauffassung nach Saussureschem Muster:

"Ein sprachlicher Ausdruck ist eine Verbindung eines Ausdrucksträgers und einer Bedeutung, die einander konventionell zugeordnet sind. (...) Grundsätzlich ist eine solche Bedeutung (...) immer eine abstrakte Entität, die irgendwo im Gehirn gespeichert ist, die sich auf Dinge der Außenwelt beziehen kann, aber nicht muss, und die sich mit bestimmten Methoden beschreiben lässt." (8f.)

Soso, abstrakte Entitäten im Gehirn! Das können wir uns gut vorstellen.

Zur Rechtschreibung weiß Wolfgang Klein, der auch anderswo sein Desinteresse schon bezeugt hat, folgendes zu sagen:

"Merkwürdigerweise gilt es für sehr wichtig, die Schreibweise zu normieren, obwohl es die Kommunikation sicher nicht bedrohen würde, wenn es jedem anheim gestellt wäre, Mänsch oder Mensch zu schreiben." (12)

Also: Wenn alle so schreiben wie ein Erstkläßler, ist das auch nicht weiter störend.



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Kommentare zu »Akademisches«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2011 um 15.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18486

Wer es lustig mag:

www.youtube.com/watch?v=vGazyH6fQQ4
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2011 um 15.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18485

Das bedeutet bei Skinner immer "physisch" oder "körperlich", also nicht-mental. Das Muster ist die Konditionierung einer Taube: Spontane Bewegung des Tieres (alle tierischen Organismen verhalten sich ständig irgendwie, solange sie leben), diskriminierende Reize (z. B. Lämpchen), Verstärkung (Futter). Dadurch werden ausgewählte Bewegungen häufiger. Das Zusammenspiel der drei Faktoren nennt Skinner "Kontingenzen der Verstärkung".
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 12.04.2011 um 13.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18484

Was für eine Bedeutung soll physical in diesem Zusammenhang haben?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2011 um 09.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18483

Hier noch Skinners eigene Worte:
"Meaning or content is not a current property of a speaker's behavior. It is a surrogate of the history of reinforcement which has led to the occurrence of that behavior, and that history is physical." (in Catania/Harnad: The selection of behavior:238)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2011 um 09.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18477

Die Konditionierungsgeschichte ist dem Sprecher selbst nicht gegenwärtig, sie ist nur für den Außenstehenden erkennbar. Bei Saussure ist sie die geheimnisvolle Rückseite des Zeichenkörpers. Das ist der Kern des "bilateralen" Zeichenbegriffs, und für diese phänomenologische Sicht gibt es unzählige Belege. Der Behaviorismus entmystifiziert sie durch die genannte geschichtliche (auch lerngeschichtliche, was Sie anscheinend übersehen) Herleitung.
Vgl. übrigens Christoph Bördleins Wiki-Artikel über "Verbal Behavior", mit Links.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 11.04.2011 um 04.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18476

Für den Bedarf der Sprachwissenschaft reicht es aus zu wissen, daß es so etwas wie Bedeutung gibt: als Voraussetzung dafür, sinnvoll über Sprache reden zu können – Sprache im Unterschied zur Logik, zu Strukturen, zu irgendwelchen Gehirnvorgängen und, ja, zu Verhalten.

Skinner ist für mich ungefähr so obsolet wie für Sie die Phänomenologie. Um so mehr hat mich das Zitat verblüfft, Bedeutung sei ein Surrogat für Geschichte. Das ist einmal etwas Anschlußfähiges. Man muß es nur leicht abwandeln: warum "Surrogat"? – Bedeutung ist gesellschaftlich-geschichtlich (Castoriadis).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.04.2011 um 17.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18472

Skinner: "Bedeutung ist ein Surrogat für Geschichte." Das heißt: Wenn man zeigt, wie ein Verhalten in der Konditionierungsgeschichte (bei natürlichen Zeichen in der Stammesgeschichte) zu seiner Funktion gekommen ist, dann ist damit alles erklärt, und man braucht keine geheimnisvolle "Bedeutung" anzunehmen.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 10.04.2011 um 15.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18470

Gegen die Übersetzung ließe sich allenfalls einwenden, daß sie die Vermutung einer Dinglichkeit der Entität nahelegt. Damit schenkt man dem Autor seine implizite Gleichsetzung von Dinglichkeit und Konkretheit, mit deren Hilfe er sich einer Definition zu entziehen versucht. Der Hase liegt in der Rede von einer "abstrakten Entität" im Pfeffer, die nur dann über eine Tautologie hinausreicht, wenn es auch konkrete Entitäten gibt. Daß man über sie nicht mehr sagen kann oder will, als daß sie da ist, macht die Entität aber gerade aus, während von einer Definition zu erwarten ist, daß sie Konkreteres bietet als die Behauptung der Existenz ihres Gegenstandes.

Die nähere Kennzeichnung der Entität "Bedeutung" als abstrakt läuft hier auf die Aussage hinaus, über Bedeutung lasse sich deshalb nichts Konkretes sagen, weil sie, grob gesprochen, nicht in der Landschaft herumliegt. Das bestätigt sich in dem Drang, ihr trotzdem eine Raumstelle zuzuweisen, nämlich "irgendwo im Gehirn". Diese Lokalisierung ist völlig belanglos, aber dennoch vulgärontologisch notwendig, um die Annahme verteidigen zu können, es gebe Bedeutung überhaupt.

So mag den einen als tiefe Einsicht erscheinen, was andere mit der Aussage "Bedeutung ist eine Entität" (kürzer: "Bedeutung ist"; noch kürzer: "Bedeutung") für bereits hinreichend dargelegt halten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.04.2011 um 08.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#18463

Als Übersetzung für "Entität" habe ich immer "Dingsbums" vorgeschlagen. Dann erkennt man gleich die Leere dieser Wortzauberei. Das "Seiende" ist kein Gattungsbegriff, wie schon Aristoteles in den Zweiten Analytiken bemerkte.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 02.10.2010 um 13.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1341#16840

Möglicherweise lesen einzelne Akademiker buchstabenweise, murmeln das so entzifferte leise vor sich hin und entnehmen erst der so entstandenen Lautekette den Sinn.
Nichtakademiker (und nicht nur die) erkennen die meisten Wörter bildhaft auf einen Blick, daher entsteht Verwirrung, wenn statt Mensch plötzlich Mänsch auftaucht.
Eindeutige Schreibung bedeutet eindeutigen Sinn, das scheinen einzelne Akademiker offenbar nicht begriffen zu haben.
 
 

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