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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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03.06.2012
 

Littfelder Archiv
Aus der Sammlung Helmut Jochems

Vor 12 Jahren hat mir unser verstorbener Mitstreiter Helmut Jochems sein "Littfelder Archiv" überlassen, Dateien im Umfang von 622 MB, eine unschätzbare Dokumentation. Darunter befinden sich auch viele hundert Briefe und Mails, sowohl von Jochems selbst als auch an ihn gerichtete.
"Bei der Aufzeichnung habe ich nichts zurückgehalten. Es finden sich also auch Texte darauf, die vorläufig vertraulich zu behandeln sind. Wenn einmal die Geschichte des mißglückten Unternehmens der Rechtschreibreform geschrieben wird, dürfen fremde Augen alles sehen." Das schrieb er mir dazu. Übrigens war er damals noch zuversichtlich, daß die Reform abgebrochen werden würde. Das Verhalten der FAZ bestärkte ihn in dieser Haltung.

Die beiden frühesten Briefe an den Siegener Kollegen Augst möchte ich heute hier einrücken.



Helmut Jochems
Littfeld, 1. 10. 1988



Herrn Professor
Dr. Gerhard Augst
Im Backenborn 19

6301 Biebertal 4



Lieber Herr Augst,

herzlichen Dank für Ihren Aufsatz zur Rechtschreibreform mit der darauf bezogenen Dokumentation! Wenn auch in den Reaktionen auf Ihre Ausführungen gelegentlich Takt und Objektivität auf der Strecke bleiben, handelt es sich doch insgesamt um eine interessante Diskussion. Daß sie stattgefunden hat und wohl noch stattfindet, können Sie mit Recht als Ihr Verdienst verbuchen.

Was Sie über die Geschichte der „Verbindlichkeit“ des Dudens sagen, habe ich mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen. Ich erzählte Ihnen ja schon einmal, daß ich keine Seite eines für fremde Augen bestimmten Typoskripts schreiben kann, ohne ein paarmal in die entsprechenden Auskunftsmittel zu sehen. Vor der Reinschrift geht meine Frau noch einmal den ganzen Text durch und findet immer etliches, was verändert werden muß. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es mir alleine so geht, denn ähnlich äußert sich ja auch Karl Adam, auf dessen Artikel Ihr Aufsatz indirekt antwortet.

Wenn ich aber angesichts meiner eigenen durchaus als unnötig empfundenen Schwierigkeiten lese, die Dudenredaktion stehe fest hinter dem staatlich verordneten Chaos, weil „die moderne, kommunikationsorientierte Gemeinschaft auf eine weitgehend einheitlich geregelte Rechtschreibung angewiesen“ sei, dann schwant mir hinsichtlich der von dieser Seite zu erwartenden Reformen Schlimmes. Recht hat daher Günther Gillessen, wenn er feststellt, daß die jetzigen Vorschläge des Instituts für deutsche Sprache in unserer deutschen Sprachgemeinschaft nicht konsensfähig sind. Selbst wenn die Kultusminister auf den abenteuerlichen Gedanken kämen, sie für die Schulen verbindlich zu machen, würden die Neuregelungen mit Sicherheit in der unkontrollierbaren Öffentlichkeit (besonders in der Publizistik) einfach ignoriert werden. Das wäre am Ende doch schade, denn mit etwas Augenmaß ließen sich tatsächlich „Bereiche“ finden, in denen der Wunsch nach Vereinfachung auf breite Zustimmung stößt.

Gerechterweise muß man einräumen, daß auch in dem Mannheimer „Paket“ manches in die richtige Richtung weist. Ein paar Anmerkungen in der Reihenfolge Ihres Referats:

Daß „st“ bei uns nicht getrennt werden darf, ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als in der Frakturschrift hier eine Ligatur gesetzt wurde. Die Regelung „s-t wie s-p“ ist also konsequent und praktikabel.

Die Freigabe der Trennung nach Sprechsilben bei allen Fremdwörtern legalisiert nur, was viele Schreiber ohnehin tun. Welcher Durchschnittsbürger trennt wohl im Ernst „Pro-blem“ und „Inter-esse“? Merkwürdigerweise war für deutsche Wörter immer schon das Sprechsilbenprinzip verbindlich also „Leh-re-rin“ , obwohl hier die Morphemgliederung allen halbwegs gebildeten Schreibern bewußt ist. Man sollte deshalb eine umgekehrte Regelung einführen: In deutschen Wörter darf auch nach Sprachsilben getrennt werden. „Wor-an“ / „wo-ran“ wäre dann nur ein Grenzfall dazu.

Getrennt oder Zusammenschreibung in mehrgliedrigen Aus drücken bzw. in phraseologischen Gruppen: Hier sollten generell alle Möglichkeiten erlaubt sein:

Wir haben das in Kauf zu nehmen.
Wir haben das inkauf zu nehmen.
Wir haben das inkaufzunehmen.

Die neuen Kommaregeln: Gut, aber nicht weitgehend genug. Wie wäre es, wenn man sich auf folgende Formulierung verständigte: „Kommas setzt man, um den Satz nach Sinngruppen zu gliedern. Im allgemeinen wird die Sprechpause durch ein Komma markiert.“ Genauso verfahren die europäischen Nachbarsprachen.

„Fässer/Fass“: Dieser Vorschlag ist wenig sinnvoll, da er dem Grundsatz zuwiderläuft, daß im (Reichs)deutschen „ss“ am Ende von Wörtern nicht vorkommt, sondern durch „ß“ zu ersetzen ist. Daß die Schweizer anders verfahren, hat einen praktischen Grund. Da die dortigen Schreibmaschinen für deutsche und französische Texte geeignet sein müssen, kann man sich neben dem unbedingt notwendigen „ç“ den Luxus von „ß“ nicht leisten. Wegen „é“, „è“ und „à“ fehlen ja auch „Ü“, „Ö“, und „Ä“, d. h. hier müssen „Ue“, „Oe“ und „Ae“ aushelfen.

„daß“ > „das“ dramatisiert unnötig ein elementares Schreibproblem im Deutschen. Das Gespräch darüber ist im Unterricht häufig der erste Einstieg in schlichte Formen der Sprachreflexion, die im Hinblick auf sprachliche Bildung nicht unwillkommen ist.

Die Drei-Konsonanten-Regel betrifft nur Peripheres und ist so oder so akzeptabel.

Anders sehe ich das doppelte „h“ an der Ableitungsfuge. Da Wörter wie „Roheit“ und „Rauheit“ von den Schreibern fix und fertig gelernt und nicht erst durch Ableitung gebildet werden, ist dieser Fall ohnehin nicht sonderlich problematisch.

Mit „Kaiser“ > „Keiser“ verscherzt sich die Mannheimer Kommission unnötig die Sympathie solcher leidgeprüfter Schreiber, die einigen der obigen Vorschläge durchaus zustimmen könnten.

Zum letzten Punkt will ich etwas weiter ausholen: Die lautgetreue Schreibung hat bei uns bekanntlich einen ideologischen Hintergrund: Auf dem Höhepunkt des wilhelminischen Nationalismus wurde das Prinzip kodifiziert, daß das deutsche Sonderwesen sich auch in erkennbar deutschen Schreibungen ausdrücken solle. Mit „Kultur“ statt „Cultur“ und „Zirkus“ statt „Circus“ setzte man sich bewußt von den Schreibkonventionen der westlichen Nachbarn ab. Diesen galt die neue Orthographie freilich eher als ein Ausdruck deutscher Barbarei. Inzwischen hat es eine Reintegration gegeben. Gegen Ende der nationalsozialistischen Periode flogen dem europäischen Gedanken zuliebe die Frakturtypen auf den Schrotthaufen, und unter angelsächsischem Einfluß haben sich die Deutschen längst an Schreibungen wie „Center“ und „Centrum“ (sogar auf „amtlichen“ Verkehrsschildern) gewöhnt. Wer schreibt denn wohl *Komputer, und sieht Kode nicht merkwürdig aus? Heute kann man gewiß nicht mehr generell vor 1901 zurück, d. h. man kann nur festlegen, daß für neu in die deutsche Sprache eindringende Fremdwörter die international übliche Schreibung erhalten bleibt. Von „v“ > „w“ in Fremdwörtern hat man 1901 übrigens die Finger gelassen, weil man die schönen „deutschen“ Sonderschreibungen „Vogel“, „Vater“, „vor“ und „ver“ nicht zugunsten von „v“ > „f“ opfern wollte. Heute das zu tun, was die Nationalisten der wilhelminischen Ära nicht wagten („Malwe“, „Frefel“), ist folglich anachronistisch.

Vielleicht sagt jemand, hier ginge es doch nur um zaghafte Eindeutschungen, anderswo sei man da konsequenter. In der Tat finde ich im „Shorter Technological Dictionary English-Polish“ (Warszawa: 1979) folgende Einträge:


calibration kalibrowanie
capacitance kapacytancja
cathode rays promienie katodowe
converter konwertor
varistor warystor
voltameter woltametr


So konsequent sind die Polen, aber sie sind es schon seit dem 16. Jahrhundert. Hier wird also keine Neuerung eingeführt, sondern eine Tradition fortgesetzt. Ob das heutzutage noch sinnvoll ist, wäre eine andere Frage. Immerhin aber: Die Sache liegt anders als bei uns. Daraus ziehe ich eine Folgerung: Wer weiß, wie ein Fremdwort in der Herkunftssprache geschrieben wird, sollte im Deutschen nicht eine Verballhornung benutzen müssen. Die Schreibung „Resümee“ wird man in meinen Texten nicht finden; erst recht nicht „Träner“ und „Teiming“.

Ich glaube nicht, daß ich mit diesen Ansichten unter den „Gutwilligen“ isoliert dastehe. Auf Zustimmung können Vorschläge zur Orthografiereform heute in den deutschsprachigen Ländern nur in solchen „Bereichen“ hoffen, in denen tatsächlich der Schuh drückt. Für Experimente wie die lautgemäße Scheibung oder gar für einen erneuten Versuch in Sachen Kleinschreibung gibt es keine Mehrheiten. Die Mannheimer Kommission verwechselt hier Emotionen mit dem ästhetischen Sinn. Wer wird eine Schreibung aufgeben wollen, an der sein Herz hängt? Lediglich der philologische Quatsch der letzten hundert Jahre sollte über Bord geworfen werden, und damit wäre schon Beachtliches erreicht.

Ich will Ihnen als Beispiel einer unsinnigen Reform eine Veränderung auf einem verwandten Gebiet vorführen, für das ich mich besonders interessiere: in der Stenografie. Von 1834 bis 1968 schrieb man bei uns das Wort „Kultur“ so:


Dann fand man, angesichts der sinkenden allgemeinen Schreibfähigkeit des Nachwuchses in den schreibtechnischen Berufen müsse man von Gabelsbergers Aufstrich „t“ zumindest in Fremdwörtern Abschied nehmen. Seit 1968 schreibt man in der Bundesrepublik und in Österreich so:



In der DDR ging man 1970 noch einen Schritt weiter: Auch das Lautfolgezeichen „ur“ wurde gestrichen. Es blieb nun:


Vergleichen Sie die drei Schreibungen und bilden Sie sich ein Urteil, was in Deutschland mit der stenografischen Schreibkultur passiert ist! Lieber Herr Augst, solche Erfahrungen liegen meinem Wunsch zugrunde, daß sich dergleichen in der für alle Bürger unendlich wichtigeren „gewöhnlichen“ Orthografie nicht ereignen sollte.

Das an „Schreibkultur“ anklingende Wort „Sprachkultur“ finde ich in der Einleitung zum „Deutschen Universalwörterbuch“ (Dudenredaktion):

Ganz bewußt stellt sich das „Deutsche Universalwörterbuch“ in den Dienst der Sprachkultur. Es will dazu beitragen, daß die deutsche Standardsprache nicht in Varianten zerflattert, sondern weiterhin als Trägerin der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung verläßlich bleibt.“

In der angelsächsischen Welt gibt es etliche nationale Varianten der Schriftsprache (nicht nur in orthografischer Hinsicht), und nirgendwo sorgt ein Institut für englische Sprache für Einheitlichkeit. Man müßte also sagen: Sowohl innerhalb der nationalen Kommunikationsbereiche wie auch bei grenzüberschreitender oder gar internationaler (d. h. nicht-muttersprachlicher) Kommunikation kommt es auf Schritt und Tritt zu Mißverständnissen. Von solchen sprachbedingten Kommunikationsstörungen ist jedoch nichts bekannt - es gibt sie nämlich nicht. Gebildete Schreiber des Englischen (wo immer sie leben) würden deshalb über den zitierten Satz aus der Einleitung des „Deutschen Universalwörterbuchs“ nur den Kopf schütteln.

In Ihrem Aufsatz ist von „Liberalität“ die Rede, und das ist in der Diskussion falsch verstanden worden. Ich würde lieber von einer unpedantischen Haltung unserer Orthografie gegenüber sprechen. Viel wäre doch gewonnen, wenn man den engstirnigen Beckmessern die Möglichkeit nähme, gebildete Mitmenschen nur deshalb zu verachten, weil sie Haarspaltereien nicht mitmachen. Vielleicht sollte man dem Institut für deutsche Sprache einmal empfehlen, in dieser Richtung sein Glück zu suchen.

Mit freundlichem und kollegialem Gruß






Siegen, 9. 12. 1989

Herrn Professor
Dr. Gerhard Augst
Im Backenborn 19

6301 Biebertal 4



Lieber Herr Augst,

dieser Tage fand ich in meinem Brieffach Ihren neuesten Aufsatz zum Thema Orthografiereform, diesmal zur orthografischen Integration des englischen Geminatenwechsels. Wie schon bei vorangegangenen Gelegenheiten nehme ich die Lektüre gern zum Anlaß, Ihnen eigene Eindrücke mitzuteilen.

Ich fange mit Ihrem Postskriptum an:

Auch hier sei der Wunsch der Kommission nach Diskussion wiederholt; nur: argumentativ sollten die Beiträge sein. Was bisher in den öffentlichen Medien von der Bildzeitung bis zur Frankfurter Allgemeinen gelaufen ist, hat meist mit Ratio wenig, aber viel mit Emotion zu tun.

Ich halte dieses Urteil für ungerecht. Aber selbst wenn es zuträfe: Wundert es Sie, daß gebildete Sprachbenutzer die orthografische Form ihrer Schreibe als Ausdruck der gemeinsamen Kultur und zugleich als Projektion ihrer eigenen Persönlichkeit sehen, beides Aspekte, die größte Behutsamkeit in der gewiß notwendigen weiterführenden Pflege verlangen? Wenn aber, wie die gegenwärtigen Reformvorschläge erkennen lassen, bestenfalls mit technokratischem Dilettantismus und schlimmstenfalls mit autoritärer Überheblichkeit vorgegangen wird, hat man dann Grund, über die heftigen Reaktionen überrascht zu sein? In meinen Augen ist das ganze Unternehmen so schrecklich verfehlt, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß selbst die dickfelligste Kultusbehörde es wagen wird, damit vor die Lehrerschaft oder vor die weitere Öffentlichkeit zu treten. Auch das kommerziell denkende Bibliographische Institut wird es sich dreimal überlegen, ob es ein Wörterbuch drucken soll, das als Gegenstand allgemeinen Spottes nur Sammlerinteresse fände, während die bisher unprivilegierten Wörterbücher anderer Verlage dann die entstandene Lücke ausfüllen würden.

Wo die deutsche Rechtschreibung zur Zeit tatsächlich schlimme Mängel aufweist, sind diese doch genau so entstanden, wie sie jetzt abgestellt werden sollen: durch die Willkür selbsternannter Autoritäten. Vielleicht hätten sich Hochschulgermanisten älterer Art, die noch kompetent die literaturwissenschaftliche und die sprachwissenschaftliche Seite ihres Faches zu vertreten wußten, an eine solche Aufgabe heranmachen dürfen. Linguisten haben dafür einfach keine Legitimation, weil sie von der Beschränktheit ihres Arbeitsbereiches her nicht über die Spracherfahrung verfügen können, die hier verlangt ist. Die Orthografie einer Sprache sollte von ihren kompetentesten Schreibern festgelegt und weiterentwickelt werden, also von solchen Schriftstellern und Journalisten, die sich allgemeiner Wertschätzung erfreuen. Damit ihre kreativen Vorstellungen nicht in den auf Normierung ausgerichteten Lektoraten hängen bleiben, müßte in orthografischen Fragen (aber nicht nur darin) ein Klima der Toleranz herrschen. Angesehene Persönlichkeiten sollten öffentlich dafür eintreten. [...]

Das gebildete Deutschland müßte sich also vorweg von dem schlimmen Beckmessertum lösen, das bei uns seit dem Beginn des Jahrhunderts und jetzt als völlig anachronistisches Überbleibsel des wilhelminischen Untertanenstaates herrscht. Vor 1900 wurden viele wissenschaftliche Arbeiten in gemäßigter Kleinschreibung publiziert, schöngeistige Literatur mit der traditionellen Großschreibung der Substantive. Wäre eine solche liberale Praxis nicht auch heute eine Möglichkeit?

Gibt es Ihnen im übrigen nicht zu denken, daß weder in England noch in Frankreich ein dem Duden vergleichbares verbindliches Rechtschreibewörterbuch existiert, und dennoch weiß man in den Schulen, zu welcher Schreibform man die Schüler anhalten soll, und wissen die Schreiber, welchen Rahmen sie in ihrer kreativen Gestaltung von Texten nicht überschreiten sollten. Ist denn in Ihrer Kommission kein Sprachgeschichtler, der seine Kollegen dahingehend belehren könnte, daß Engländer und Franzosen mit einer historischen Orthografie außerordentlich gut leben? In beiden Fällen entspricht die Laut-Buchstaben-Beziehung den Verhältnissen des ausgehenden Mittelalters, was nun wiederum bedeutet, daß die gesamte Literatur der Neuzeit modernen Lesern ohne Schwierigkeiten zugänglich ist. Nun könnte man einwenden, durch die „Reform“ von 1901 sei in Deutschland der Traditionsbruch längst vollzogen, und angesichts dieser Tatsache käme es auf ein etwas mehr oder weniger an Geschichtslosigkeit nicht mehr an. Wenn das die übereinstimmende Meinung der Deutschschreibenden wäre, könnte man einem solchen Argument nicht widersprechen. Aus den Reaktionen auf Ihre bisherigen Kommissionsvorschläge wissen Sie aber, daß Ihnen der Wind sehr ins Gesicht bläst.

Ein Verzicht auf die obrigkeitsstaatliche Reglementierungswut macht die Arbeit der Linguisten nicht überflüssig: Sie sollten weiterhin sammeln und aufgrund sich abzeichnender Konsense Empfehlungen aussprechen. Die schlimme Zeit des kleinkarierten Spießbürgertums, das Mitmenschen zu verachten wagt, nur weil diese nicht bei jeder Briefseite dreimal in die Kuriositätensammlung der Nachfolger des Herrn Duden schauen, sollte dagegen bald ein überwundenes Kapitel unserer Geschichte sein.

Und nun zu Ihren Vorschlägen: Unsere Gesellschaft wird immer mehr zu einer multilingualen. Damit wächst die Neigung, wirklich gekonnt im fremdsprachlichen Kontext verwendete Wörter gelegentlich oder dauernd auch in die eigene Sprache zu übernehmen. Will man solchen gebildeten Sprachbenutzern allen Ernstes zumuten, verballhornende Schreibungen für Wörter zu verwenden, die sie bei schriftlicher Kommunikation in der anderen Sprache selbstverständlich nach den Konventionen eben dieser Sprache zu schreiben pflegen? [...]

Die Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache sollte sich auflösen, denn ihr fehlt sowohl die faktische wie die demokratische Legitimation, um der deutschen Kulturgemeinschaft und damit den Sprechern und Schreibern der deutschen Sprache derart einschneidende Vorschriften zu machen. Oder sie sollte sich der freiheitlichen Grundstimmung unserer Zeit anpassen und das tun, was nach wie vor sinnvoll ist: den Sprachgebrauch beobachten und aufgrund der Beobachtungen Empfehlungen geben.

Lieber Augst, verzeihen Sie mir, daß ich so temperamentvoll (aber hoffentlich nicht verletzend) für die Lösung der Orthografiefrage auf der Grundlage eines demokratischen Konsenses plädiere. Einer Zeit, die Exerzierreglemente überwindet, stehen Orthografiereglemente sehr schlecht zu Gesicht. Auch entspricht es doch wohl eher dem Ethos der Wissenschaft, emanzipierend und eben nicht bevormundend zu wirken. Wissenschaftler verspielen ganz gewiß ihr Ansehen in der Öffentlichkeit, wenn sie sich in den Dienst einer Sache stellen, die nicht auf die Zustimmung der Mehrheit der gebildeten Zeitgenossen rechnen kann.

Nichts für ungut! Mit den besten adventszeitlichen Wünschen und herzlichen Grüßen

bin ich Ihr



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