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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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16.05.2009
 

Dufte
Schreiben nach Gerüch(t)en

"Zum Einen wurde das Thema bis zu diesem Zeitpunkt nicht explizit im Deutschunterricht behandelt, zum Anderen war den Schülern bei der Produktion der Rohfassungen durchaus bewusst, dass es sich um vorläufige Versionen handelte, die sie im Anschluss überarbeiten würden. Somit erklärt sich möglicherweise der sorglose Umgang mit Rechtschreibung und Zeichensetzung."
(Ursula Brock: Kreatives Schreiben im vielsprachigen Deutschunterricht, Nürnberg 2003 – Dissertation bei Gabriele Pommerin-Götze, der Zabel-Schülerin und Gattin von Bertelsmannautor Lutz Götze)

Doktorarbeiten sollte man grundsätzlich mit Nachsicht lesen, aber als Symptome sind sie manchmal recht aufschlußreich.
Das "kreative Schreiben" wird bei uns ja von Deutschdidaktikern gelehrt, anderswo von Schriftstellern. Skinner bemerkte in seiner Autobiographie:
"'Creativity' was one of the shabbiest of explanatory fictions, and it tended to be used by the least creative of people." (A Matter of Consequences)
A propos Skinner – Frau Brock schreibt:

"Skinner vertrat, ausgehend von der These, verbales Verhalten sei immer stimuluskontrolliert, die behavioristische Ansicht, die Primärsprache werde durch Imitation in Form von 'habits' erworben."
(Die Verfasserin verweist auf Skinner 1957, also "Verbal Behavior", kann aber offensichtlich das Buch nicht in der Hand gehabt haben.) Über Chomsky weiß sie:
"Chomsky ging mit seinem narrativen Konzept davon aus, dass der (Erst-) Spracherwerb ein autonomer Reifungsprozess sei."
Ich grübele, was Chomskys "narratives" Konzept bedeuten könnte. In Texten von Brocks Doktormutter habe ich einen ähnlich kreativen Fremdwortgebrauch gefunden.

"Geschriebenes ermöglicht die Weitergabe und die Rezeption von Informationen. Daher erscheint es klar, weswegen das Lesen und das Schreiben, die Kunst des Umgangs mit geschriebener Sprache, lange Zeit Privileg ausgesuchter Personen war. Aus der Sicht dieses elitären Kreises, der an einer Verbreitung von Wissen und einem demokratischen Zugang zu gewissen Sachverhalten nicht interessiert war, lag es nahe, die Mehrheit der Menschen auszuschließen und ihnen das Recht, die Schrift zu erlernen, zu versagen."
Das ist wieder die Legende vom Schreiben als Privileg der Mächtigen. Die Schreibsklaven der Antike und die armen Benediktinermönche wären wohl sehr verwundert gewesen, wenn man ihnen dies erzählt hätte. In Ägypten genossen einige Hieroglyphenkünstler hohes Ansehen, aber sonst? Man ließ schreiben, wenn man es sich leisten konnte.

Nun zum Kreativen:

"Das Schreiben nach Gerüchen unterscheidet sich grundlegend von den bisher aufgeführten Verfahren, da es eine Transformation eines Inhaltes von einer künstlerischen Darstellungsform in eine andere darstellt. Den Schreibanlass bildet hier ein Geruch. Die Schreiber assoziieren in einem individuellen oder einem gemeinschaftlichen Cluster frei zu dem Geruch und entwickeln aus dem Cluster eigene, individuelle Texte. Der Zugang zum Text fällt vielen Schreibern leicht und stellt sich schnell ein. Gerüche sind stark mit Erinnerungen behaftet und rufen Assoziationen hervor. Leider ist dieses Verfahren im Unterricht vergleichsweise schwierig zu bewerkstelligen, da der Geruch jedem Schreiber auf gleiche Weise präsent sein sollte. Die Arbeit mit Duftölen, getränkten Wattebäuschchen oder Objekten, denen der gewünschte Geruch zu Eigen ist (Orangenschalen, Turnschuh...) gestaltet sich aufwendig und hat möglicherweise eine lange und hartnäckige Anwesenheit des Geruches im Raum zur Folge, was unter Umständen eher unangenehm sein kann. Dennoch ist das Verfahren gut geeignet, da Gerüche zu sehr individuellen und auch emotionalen Assoziationen führen können und damit auch zu sehr authentischen, emotionalen und persönlichen Texten. Auch schreibungeübte Lerner oder Schreiber, die noch keine oder wenig Erfahrung mit kreativen Schreibverfahren haben, finden über dieses Verfahren schnell zum eigenen Text."

Bevor Sie Ihre alten Turnschuhe wegwerfen, sollten Sie sie also lieber fürs Kreative Schreiben an der nächsten Schule clustern.

In den Literaturangaben findet man "Viehweger, P.: Textlinguistik. Tübingen, 1977". Gemeint ist vielleicht Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter: Textlinguistik. Eine Einführung.



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Kommentare zu »Dufte«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.05.2009 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1157#14493

In einem unwichtigen Aufsatz las ich neulich den Titel einer neuen Wissenschaft: "Morphosoziopragmatik". Es würde mich nicht wundern, wenn es bald Professuren für diese nichtexistente Disziplin gäbe. Das haben wir schon oft erlebt. Besonders natürlich in den Philosophischen Fakultäten, wo manches gelehrt wird, ohne daß es die entsprechende Forschung gäbe oder auch nur geben könnte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.05.2009 um 17.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1157#14494

Die Berliner Morgenpost hat erkannt, was die Bundespräsidentenwahl war:

"Es war eine Bundespräsidentenwahl, nicht weniger, aber auch nicht mehr." (23.5.09)

Häufiger liest man „nicht mehr, aber auch nicht weniger“. Aber in welcher Form auch immer, der Satz eignet sich bestens als Kommentar zu allem und jedem, denn wer wollte eine Tautologie bestreiten?

Die Formel liegt ganz unten in meiner Kiste mit Ausdrücken, die ich niemals verwenden werde. Andere Stückchen:

"im tiefsten Sinn des Wortes"
"spätestens hier wird deutlich ..."
"es ist kein Zufall, daß ..."

Leider kann ich nicht ausschließen, daß mir das eine oder andere in einer schwachen Stunde dennoch unterlaufen ist.

Mir scheinen solche Floskeln von einem anderen Kaliber zu sein als die grundlos verpönten "ausgehen von ..." usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.06.2012 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1157#20886

Drei Jahre später kann ich nicht erkennen, daß zur "Morphosoziopragmatik" (s. unten) weitere Beiträge erschienen sind. Das war wohl nichts. Manchmal gelingt es ja, mit dem eigenen Namen ein Schlagwort so fest zu verbinden, daß man damit einen Riesenerfolg hat ("Risikogesellschaft" usw.). Aber wenn der Versuchsballon am Boden bleibt, wirkt es nur noch lächerlich.
 
 

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