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20.03.2006
Back to phonics
Literalisierung in Großbritannien
In England wird für heute der Beschluß erwartet, an den Grundschulen eine neue Leseerwerbsmethode namens synthetic phonics einzuführen.
Bildungsministerin Ruth Kelly will alle Schulen verpflichten, die in Schottland entwickelte Methode einzuführen. Ein Bericht der BBC erläutert die Hintergründe.
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Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 23.03.2006 um 09.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=442#3634
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Ein Bericht der BBC erläutert die Hintergründe?
Dieser BBC-Bericht ist nicht gerade erhellend, befaßt er sich doch mehr mit der Geschichte der zitierten Methode und den beteiligten Personen sowie Regierungsplänen und Erfolgszahlen als mit der Methode selbst. Was also ist "synthetic phonics"?
"Phonics" scheint kein häufiges Wort zu sein, da es in Schul-Wörterbüchern nur selten zu finden ist. Es bedeutet einmal 'accoustics’, aber auch ‘a method of teaching beginners to read and pronounce words by learning the phonetic value of letters, letter groups, and esp. syllables’ (Webster).
"Synthetic phonics" definiert dieser BBC-Beitrag nur an einer Stelle und nur ganz kurz: "In short, synthetic phonics means children learn the sounds of letters and of combinations of letters and use them to decode words."
Was daran "synthetisch" ist, erläutert erst ein anderer Artikel, der die analytische von der synthetischen Lernmethode unterscheidet:
"Analytic phonics“ lehrt die Kinder, nach dem Schlagwort "on-set and rime" (rime = rhyme) ganze Wörter zum Lesen in sprechbare Teile aufzubrechen - das Wort "street" etwa in "str" and "eet".
"Synthetic phonics" hingegen macht Kinder zunächst mit den 44 oder 45 Lauten der Englischen Sprache vertraut, die unten aufgeführt sind. Das Wort "street" wird also aus seinen Lautbestandteilen hergestellt: /s- t- r- ee- t/.
Diese Herangehensweise liegt bei Buchstabenschriften eigentlich nahe, gerade im Englischen ist sie aber, humorvoll gesagt, durchaus mutig: Durch Lautverschiebungen und den Einfluß mittelalterlicher französischer Schreibung ist die moderne Rechtschreibung der englischen Sprache nicht gerade repräsentativ für ihre Lautung. Vor allem ihre Vokale lassen sich auf viele Weisen graphisch wiedergeben, und da Wörter meist aus mehr als einem Laut bestehen, sind für viele Wörter theoretisch erschreckend viele "korrekte" Schreibweisen denkbar (wreak, reak, wriek, riek, wreek, reek, wreke, reke), und manche unterscheiden tatsächlich Bedeutungen.
Das Problem für Schreib- und Leseanfänger liegt weniger in der deskriptiven Aussage, daß "sweet", "heat", "thief" und "these" jedesmal mit identischem Vokal zu lesen sind; problematisch wäre vor allem die präskriptive Aussage, ein Laut sei auf eine bestimmte Weise zu verschriftlichen. Dem setzt die englische Orthographie deutliche Grenzen. Das scheint sich in dem Befund der Forscher widerzuspiegeln, nach "synthetic phonics" unterrichtete Kinder seien am Ende der Grundschule:
- 3,5 Jahre weiter als traditionell erwartet im Lesen
- 1,75 Jahre weiter im Buchstabieren bzw. Schreiben
- 3,5 Monate weiter im Textverständnis.
Die mit 3,5 Jahren Vorsprung ebenso schnellen wie begrüßenswerten Fortschritte der Kinder im Lesen könnten aber auch noch einen anderen Umstand reflektieren: nämlich daß sich die Forscher in ihrem Eifer einfach mehr Mühe gegeben haben, den Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, als der (genervte) Durchschnittslehrer …
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Vokale und Beispielwörter
/a/ cat
/e/ peg, bread
/i/ pig, wanted
/o/ log, want
/u/ plug, love
/ae/ pain, day, gate, station
/ee/ sweet, heat, thief, these
/ie/ tried, light, my, shine, mind
/oe/ road, blow, bone, cold
/ue/ moon, blue, grew, tune
/oo / look, would, put
/ar/ cart, fast (regional)
/ur/ burn, first, term
/or/ torn, door, warn (regional)
/au/ haul, law, call
/er/ circus, sister
/ow/ down, shout
/oi/ coin, boy
/air/ stairs, bear, hare
/ear/ fear, beer, here
Konsonanten und Beispiele
/b/ baby
/d/ dog
/f/ field, photo
/g/ game
/h/ hat
/j/ judge, giant, barge
/k/ cook, quick, mix, Chris
/l/ lamb
/m/ monkey, comb
/n/ nut, knife, gnat
/p/ paper
/r/ rabbit, wrong
/s/ sun, mouse, city, science
/t/ tap
/v/ van
/w/ was
/wh/ where (regional)
/y/ yes
/z/ zebra, please, is
/th/ then
/th/ thin
/ch/ chip, watch
/sh/ ship, mission, chef
/zh/ treasure
/ng/ ring, sink
"Regional" bezeichnet Aussprachevarianten: das (aus dem amerikanischen Englisch bekannte) End-/r/ etwa in „car“ oder „door“ und das aspirierte /w/ etwa in Fragewörtern, das das which (‚wel-che’) von der witch (‚Hexe’) unterscheiden kann.
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 23.03.2006 um 16.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=442#3635
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Vielen Dank, lieber Herr Martin, für Ihre Erklärungen zu diesem Problem. Was Sie da zu den "ebenso schnellen wie begrüßenswerten Fortschritte[n] der Kinder im Lesen" sagen, kann ich nur bestätigen. Die Umstände bei der "Forschung" hierzu sind einfach zu verschieden von der "normalen" Situation (die es eben auch nicht mal gibt!), als daß man hier etwas so schnell verallgemeinern könnte. So sehen auch bei der kulturministerlich verschriebenen Rechtschreibreform diejenigen Leute mehr Probleme, die etwas mehr zur Verschriftung des Deutschen verstehen "als der (genervte) [und auch sehr regierungsabhängige — und oft noch ziemlich unerfahrene] Durchschnittslehrer"; und die Beurteilung solch unbedachter Reformversuche fällt dann auch dementsprechend aus. So lernen andererseits auch die Schüler *natürlich* besser (laut) lesen, deren Lehrer besser (laut) lesen können (denn Lesen ist ja an sich schon eine Interpretation des Textes); so lernen die Schüler *natürlich* besser schreiben, deren Lehrer selbst viel schreiben, um zu veröffentlichen; so sind die Schüler *natürlich* "weiter im Textverständnis", deren Lehrer mehr von Texten verstehen, welche man zur Prüfung des Textverständnisses gut heranziehen könnte, als die Schüler von Lehrern, die tagtäglich andere Sorgen haben, aber für ihre Zöglinge tatsächlich ihr bestes tun und eben nicht zuallererst ein Forschungsprojekt promovieren. Dennoch sind Ergebnisse solcher Forschung interessant, und der einzelne Lehrer sollte sie auch kennen und einiges davon gegebenenfalls anwenden. Resultate derartiger Forschung aber gleich als alleinseligmachende Methode vorzuschreiben ist wissenschaftlich einfach nicht gerechtfertigt. Derartige Vorschreiberei ist jedoch *in*, denn sonst hätten ja diese Vorschreiber gar nichts beizutragen. Auch das ist ein Zeichen unserer Zeit.
Übrigens könnte man bei all diesem die Frage stellen, wie lange sich das Wissen erhält, das bei "Textverständnis" relativ schnell nach dem Lesen geprüft wird. Hält es vor, um auch noch Tage, Monate, Jahre später das "Verstandene" mit neuen Informationen in Zusammenhang zu setzen? Es könnte ja sein, daß hier die Prüfung zum "Verständnis" etwas prüfte, was sich zwar in Zahlen ausdrücken läßt, fürs weitere Leben des Schülers aber gar nicht so relevant ist. Wichtig im Erziehungsprozeß ist für mich als Vater nämlich nicht, daß ein Forschungsresultat professionelle Vorschreiber mit Zahlen überzeugt, sondern daß es kritische Mitbürger (indefiniter Plural!) zum Mitdenken und Nachdenken anregt — und andere Forscher sowieso erst mal zum Nachvollzug des gleichen Forschungsprojektes.
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Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 29.03.2006 um 15.12 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=442#3705
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Merkwürdig an diesem BBC-Bericht ist in der Tat, wie "wordy" er ist. Darüber wird nicht so recht deutlich, wie die erstaunlichen Ergebnisse ermittelt worden sein sollen.
Die Jungen, die zu Beginn ihrer Primärschulzeit einen Einführungskurs von gut einem Vierteljahr Dauer in »synthetic phonics« mitgemacht hatten, waren am Schluß der Primärschulzeit vier Jahre weiter in ihren Lesefähigkeiten, als man es für ihr Alter erwartet hätte.
Das ist ein wirklich frappantes Ergebnis: Nach jeweils 6 Jahren Schulausbildung ist die eine Gruppe der anderen um vier Jahre voraus!
(Das würde bedeuten, sie waren auf dem gleichen Stand wie andere Jungen ein Jahr vor dem Abschluß der High School.)
Es wäre spannend, etwas zu den angewandten Untersuchungsmethoden zu erfahren: Wie wurde z.B. sichergestellt, daß man keine positive Selektion vorgenommen hatte?
Das Plakative solcher Aussagen ("4 years ahead") erweckt sofort den Verdacht, daß eíne belastbare methodische Grundlage fehlt.
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