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14.02.2011
 

Stefan Stirnemann
Die Schule und ihre Rechtschreibungen im fünfzehnten Jahr der Rechtschreibreform

Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber veröffentlichen wir hier den Beitrag von Stefan Stirnemann in den Mitteilungen Nr. 1+2/2011 des Sprachkreises Deutsch (Bern), dort zu finden ab Seite 28.

«Ein Sonderfall bildet leid bzw. Leid» – so schreiben die Schweizer Reformer und Rechtschreibräte Thomas Lindauer und Claudia Schmellentin in ihrem Buch «Die wichtigen Rechtschreibregeln» (2007). Gehört zu den sprachlichen Ausdrucksmitteln, welche die Reformer den Schülern vorenthalten wollen, neuerdings auch der Akkusativ («einen Sonderfall»)? Nein, hier spricht und schreibt nachlässigerweise die Schweizer Mundart mit. Zu denken geben muss aber vor allem, dass die Autoren nicht den geringsten Hinweis auf die Schicksale für nötig halten, welche der harmlosen Redewendung «Es tut mir leid» in den Jahren 1996 bis 2006 widerfuhren. Es ging ihr nämlich so: 1996, im ersten Jahr der Reform, wurde der grosse Buchstabe obligatorisch – «Es tut mir Leid». Nachdem diese Fehlschreibung jahrelang kritisiert worden war, schrieben die Reformer in ihrem Lagebericht vom November 2001: «Die Sprachgemeinschaft hat sich nach anfänglichem Zögern an die Schreibung Leid tun mit substantivischer Interpretation von Leid gewöhnt. Eine neuerliche Änderung verunsichert unnötig und bringt die Wörterbuchverlage in Schwierigkeiten.» Am vierten Juni 2004 hiess es in einer Pressemitteilung der deutschen Kultusminister: «Für den Fall Leid tun wird die neue zusätzliche Variante leidtun eingeführt. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich eine eindeutige Entscheidung für adjektivischen und substantivischen Gebrauch nicht treffen lässt.» Im Juli 2006 war diese Entscheidung dennoch getroffen, und gemäss dem Regelwerk, das der Rat für Rechtschreibung vorlegte, war die Schreibweise wieder: «Es tut mir leid». Dieser neu-alte Stand der Dinge ist in der Schule bis heute nicht überall bekannt; noch jetzt, Januar 2011, schreibt die Untergymnasiastin Elsbeth, sehr klug und dreizehnjährig, den falschen grossen Buchstaben: «Es tut ihm Leid.» Der Fehler liegt nicht bei ihr.

Das Beispiel steht für zahllose Wörter und Wendungen, welche von den Reformern entstellt oder abgeschafft wurden und die heute, wenn auch oft nur als Variante, wieder gelten. Lehrer und Schüler wissen in diesem Durcheinander nicht Bescheid, weil es keine Liste aller Problemfälle gibt. Dazu kommt, dass die Lehrmittel, auch ganz neue, eine überholte Rechtschreibung bieten und dass wichtige und bewährte Lesetexte in herkömmlicher, für die Reformer also in falscher Rechtschreibung erscheinen. Ein paar Schlaglichter:

Im «Handbuch Rechtschreiben» (2004), verfasst von den Reformern Peter Gallmann und Horst Sitta, gehört «Leid tun» heute noch wie «Kegel schieben» zu den Verbindungen aus Nomen und Verb. Das Handbuch ist in allen Bereichen immer noch auf dem Stand des Jahres 1996, des ersten Jahres der Reform.

Im Übungsteil seines Lehrbuchs «Richtiges Deutsch» (2010) lässt Peter Gallmann die Schüler die Wendung «binnen Kurzem» in «binnen kurzem» verbessern, was zwar vernünftig ist, aber nicht dem Stand der Dinge entspricht. Solche Ausdrücke mussten herkömmlich und in reformierter Rechtschreibung bis 2004 klein geschrieben werden. Seither, und 2006 vom Rat für Rechtschreibung bestätigt, darf gross oder klein geschrieben werden. Im Theorieteil gibt Gallmann den Sachverhalt richtig an, hat es aber bis heute versäumt, den Übungsteil zu überarbeiten. Im besonders unzuverlässigen Referenzwerk der Schweizer Schule, dem Schweizer Schülerduden (2006), gilt wiederum nur die Grossschreibung als richtig: «binnen Kurzem»; Gallmann und seine Mitarbeiter, die für das Werk verantwortlich sind, wollen die Schweizer Schüler auf den grossen Buchstaben verpflichten.

Im Geschichtsbuch «Anno 1» (2009) werden Kommata weggelassen, die heute wieder gesetzt werden müssen: «Er zwingt die Königstochter Rhea Silvia Priesterin zu werden um seine Herrschaft vor unerwünschten Thronerben zu sichern.» Nach geltender Lehre ist das Komma nach «Rhea Silvia» wahlfrei (es zu setzen ist zweifellos besser), das Komma vor «um» ist wieder vorgeschrieben.

In den «Sternstunden der Menschheit» schreibt Stefan Zweig über den Komponisten Händel und sein Oratorium «Messiah»: «Jahr für Jahr führte er es in London auf, jedesmal den vollen Ertrag, jedesmal fünfhundert Pfund zum Besten des Hospitals überweisend.» «Jedesmal» ist nach neuer Rechtschreibung falsch, richtig ist «jedes Mal». Warum das so ist, ist ein Rätsel.

Besonders schädlich sind die vielen Fälle, in denen die neue Rechtschreibung eine Schreibweise als Variante aufführt, die in Wahrheit eine eigene Bedeutung ausdrückt. Laut dem Schweizer Schülerduden ist ein «wohlbekannter Schriftsteller» dasselbe wie ein «wohl bekannter Schriftsteller». Betroffen von dieser unsinnigen Verfügung ist u.a. Franz Kafkas Erzählung «In der Strafkolonie», in welcher ein von Gerechtigkeitswahn besessener Offizier einem Reisenden seine unheimliche Hinrichtungsmaschine vorführt. Der erste Satz lautet so: «'Es ist ein eigentümlicher Apparat,' sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermassen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.» Wie ein Blick in die Erstausgabe des Buchdrucks (1919) zeigt, schrieb Kafka «wohlbekannt» in einem Wort, meinte also nicht einen «doch wohl bekannten» Apparat. Auf diesen Satz Kafkas, der eine ganze Theorie der Reformer widerlegt, machte der Literaturkenner und Reformkritiker Friedrich Denk gleich 1996 aufmerksam. Nach fünfzehn Jahren ist der Fehler noch immer nicht behoben.

So müssen sich die Schüler mit ganz verschiedenen Rechtschreibungen auseinandersetzen, und sie werden den Schluss ziehen, dass Sprache und schriftlicher Ausdruck nicht gerade wichtig sind.

Dr. Konrad Hummler, designierter Verwaltungsratspräsident der NZZ, gab folgende Lagebeurteilung (NZZ, 17. November, 2010): «Sprache als spontane Ordnung – das hätte man bedenken müssen, als man vor bald 15 Jahren daranging, mit staatlichen Ordnungsvorstellungen in die bisher leidlich funktionierende Entwicklung der deutschen Rechtschreibung einzugreifen und behördlich das sogenannt Richtige zu dekretieren. Nicht nur die «behände, gräuliche Gämse» hat dieser Eingriff hinterlassen, sondern vor allem ein unsägliches Durcheinander in Schul- und Redaktionsstuben, wie man es in der Zeit vor der Rechtschreibreform nicht kannte. In Deutschland waren es die Kultusminister (die sich heute öffentlich zum Irrtum bekennen), in der Schweiz das Konkordat der Erziehungsdirektoren, die EDK, welche der Sprache Gewalt antaten und staatlichen Zwang in einen gesellschaftlichen Bereich ausdehnten, der sich der Planung, Kontrolle und Korrektur inhärent entzieht. Ungefragt, selbsternannt, unverfroren und oft auch sprachignorant vergriffen sich die Politiker mit ihren Befehlsstrukturen am vitalen Leib der Sprache. Es wäre nun Zeit, wenn nicht zum Rückzug zu blasen, dann sich wenigstens klammheimlich aus der Peinlichkeit des Versagens zurückzuziehen und die weitere Entwicklung der privaten Seite zurückzugeben. Die dafür geeigneten Strukturen gibt es bereits; in der Schweiz ist es die rührige Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), ein Zusammenschluss von berufenen Sprachexperten. Der Verzicht auf Staatstätigkeit in Bereichen, wo Staatsversagen zwingend die Konsequenz ist, hätte durchaus Vorbildcharakter. Die Geschichte der gescheiterten Rechtschreibereform lädt zum Weiterdenken ein.»

Bedenken und beurteilen muss man natürlich auch die politischen Abläufe. Was die Sprache betrifft, so lässt sich mit den Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) sehr gut weiterdenken und weiterarbeiten. Der «Wegweiser zu einer einheitlichen und sprachrichtigen deutschen Rechtschreibung», den die Arbeitsgruppe der SOK ausgearbeitet hat, ist ein Auswegweiser. Er liegt diesen Mitteilungen bei und kann auf www.sok.ch ausgedruckt werden. Unter dieser Anschrift finden sich auch zahlreiche Artikel, u.a. zum Zustand der Lehrmittel und zur Lage der Schule.

Das in der NZZ erwähnte deutsche Bekenntnis zum Irrtum lautet so: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.» Abgelegt hat es Ministerin Johanna Wanka, die Präsidentin der Konferenz der Kultusminister.

Der Autor unterrichtet Latein und Griechisch am Gymnasium Friedberg, Gossau (St. Gallen), und ist Mitglied der Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK).



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Kommentare zu »Die Schule und ihre Rechtschreibungen im fünfzehnten Jahr der Rechtschreibreform«
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Kommentar von Red., verfaßt am 13.04.2011 um 19.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=667#8593

Dr. Konrad Hummler ist seit kurzem Verwaltungsratspräsident der NZZ, d. h. ihr Herausgeber (siehe hier). Kürzlich hatte er sich für die SOK ausgesprochen (siehe unter Voll geil).



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