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Nachrichten rund um die Rechtschreibreform

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20.01.2005
 

„Das Thema Rechtschreibung ist zu lange vernachlässigt worden.“
VERA führt zu erstaunlichen Erkenntnissen

Zu dieser Feststellung, die nach acht Jahren angeblich problemlos an den Schulen umgesetzter Rechtschreibreform auch bei einem SPD-Politiker gewisse Zweifel an deren Zweckmäßigkeit aufkommen lassen könnte, kommt Bremens Bildungssenator Willi Lemke (SPD).

Die »Kids«, für deren Schulbildung er zuständig ist, dümpeln beim Ländervergleichstest VERA im Fach Deutsch beim Lesen und in der Orthographie am Tabellenende.

An der Sinnhaftigkeit solcher Tests mag ja manch einer seine begründeten Zweifel haben. Das ganze Grauen aber, das mit VERA einhergeht, bringt die kinderliebe taz auf den Punkt: Nicht nur mangelndes Einfühlungsvermögen der Bildungspolitik in „kindische Seelen“ beklagt die alt und selbst kindisch gewordene linke Tante, sondern sie brandmarkt das Übel messerscharf: Es ist nichts Geringeres als Folter an Unmündigen.

Auch in Berlin herrscht bildungspolitische Katerstimmung: Den Lehrern will es nicht gelingen, den Kiddies das Rechnen beizubringen, und auch die Segnungen der Rechtschreibreform bleiben weiterhin aus.

In Mecklenburg-Vorpommern könnte man mit dem VERA-Ergebnis zufrieden sein. Ausgerechnet dort aber wollen PDS und SPD das offensichtlich erfolgreiche dreigliedrige Schulsystem abschaffen.



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Kommentare zu »„Das Thema Rechtschreibung ist zu lange vernachlässigt worden.“«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2005 um 19.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#180

Das Thema Rechtschreibung ist in den letzten Jahren nicht vernachlässigt, sondern im Gegenteil ganz außerordentlich intensiviert worden. Sogar in zehnten Klassen wurde wochenlang nichts anderes als Rechtschreibung unterrichtet. Da sich jedoch alle Bemühungen auf eine mutwillig verworrene, geradezu ins Gegenteil des rechten Schreibens verkehrte Reformorthographie richtete, kann das Ergebnis nur unbefriedigend sein. Die Schüler gewinnen den Eindruck, daß fast alles möglich ist und daß die Lehrer sich selbst nicht mehr zurechtfinden (was buchstäblich zutrifft, ich habe es nun acht Jahre lang an den Deutschlehrern meiner Töchter beobachtet, und zwar täglich!). Je "problemloser" die Umsetzung, desto schlechter das Ergebnis.
Nach diesem Meisterstück macht der Staat sich nun daran, die deutsche Orthographie ein weiteres Mal zu reformieren, und zwar in Rekordgeschwindigkeit.


Kommentar von Ulf Bose, verfaßt am 20.01.2005 um 20.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#181

Wie ein Bildungspolitiker davon reden kann, die Rechtschreibung sei in den letzten Jahren in den Schulen vernachlässigt worden, wo doch gerade dort in einem kinderverachtenden Massenexperiment in diesen letzten Jahren die Rechtschreibreform mit beispiellosem Aufwand und Trotz durchgedrückt worden ist, das verschlägt dem Otto Normalrechtschreiber schlicht die Sprache. Zur politischen Kultur unserer Zeit scheint es zu gehören, daß es völlig gleichgültig ist, was die Verantwortlichen zum allgemeinen Geschehen sagen. Die Verblödung scheinen sie in der Bevölkerung für bereits so weit verbreitet zu halten, daß sowieso keiner kapiert, wovon die Rede ist. Demokratie scheint nur noch darin zu bestehen, daß Politiker sich überhaupt zu ihrem Tun äußern. Despoten würden sich diese Mühe ersparen.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 21.01.2005 um 15.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#182

Das sagte zum Beispiel ...
Siegfried Jäger, [damals] Sprachwissenschaftler an der Gesamthochschule Duisburg
Anläßlich des Kongresses „vernünftiger schreiben“ in Wien, 18. bis 19. Oktober 1973:

„Für das irrationale Herangehen an die Probleme der Rechtschreibung scheint mir auch das folgende mit verantwortlich zu sein: Schreiben galt lange Zeit hindurch als eine Art Geheimwissenschaft. Je undurchschaubarer die Prinzipien der Schreibung sind, desto leichter kann sie diesen Charakter behalten, desto leichter kann sie als Mittel sozialer Distanzierungen verwendet werden.“

„Ferner ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß die Fähigkeit zu schreiben noch bis in das vorige Jahrhundert [19. Jh.] hinein den gebildeten Ständen, will sagen den Reichen*, vorbehalten geblieben ist. Schreibenkönnen wurde daher mit Intelligenz gleichgesetzt. Das geschieht auch heute noch. Eine Vereinfachung der Orthographie wäre geeignet, diesen Mythos zu zerstören. Sie würde die Rechtschreibung als soziales Kanalisierungsmittel unbrauchbar machen.“

„Die Folgen der ausgebliebenen Reform sind unter anderem ... Vergeudung notwendiger Zeit für einen vernünftigen Deutschunterricht, dessen primäres Ziel die Erweiterung der kommunikativen Kompetenz der Schüler darstellt. Die Rechtschreibung spielt hier eine völlig untergeordnete Rolle.“

Seit wann gehört die Rechtschreibung nicht zu den Grundvoraussetzungen der ‚kommunikativen Kompetenz’ ? Wir kommunizieren nicht nur mündlich, sondern vor allem schriftlich – unsere Kultur basiert auf der Schriftsprache. Rechtschreibung spielt also für den Leser und Schreiber eine völlig untergeordnete Rolle? Das wäre genauso, als wenn jemand behauptete, das deutliche Sprechen spielte beim mündlichen Kommunizieren keine Rolle, es käme allein darauf an, was der Sprecher denkt und meint!

Die Textzitate stammen aus:
Vernünftiger schreiben. Reform der rechtschreibung. Fischer Taschenbuch 1974
Der Text ist in „gemäßigter Kleinschreibung“ verfaßt. Der besseren Lesbarkeit willen habe ich ihn in herkömmliche Groß- und Kleinschreibung übertragen.

_________

*Konsequenterweise müßten nicht nur Intelligenz, Fleiß und Wohlstand, sondern auch das Schön- und Gesundsein amtlich untersagt werden. Ist das doch eine Ungerechtigkeit gegenüber weniger Schönen und Kranken!


Kommentar von Johannes Hauberger, verfaßt am 21.01.2005 um 21.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#183

Merkwürdigerweise wird in der Diskussion um "Humankapital" übersehen, daß dieses "Unwort des Jahres" bereits in der Kritik an der Rechtschreibreform eine Rolle gespielt hat. Vor vier Jahren schrieben Manfred Tietzel und Christian Müller in Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Heft 3/2001 (gekürzt auch im Handelsblatt v. 21.8.2001) über die Kosten der Rechtschreibreform:

Die neue Rechtschreibung wird sich nur dann zu einer Konvention verfestigen, wenn eine hinreichend große Zahl der Sprachanwender sich für sie entscheidet, also für die große Mehrheit der Schreibenden die individuellen Nutzen eines Umstiegs seine individuellen Kosten übersteigen. Als zentrale Nutzenkomponente führen die Reformer an, die Schreibreform mache die Rechtschreibung einfacher und konsistenter. Freilich lehnen nach Umfragen drei Viertel der Deutschen die Rechtschreibreform ab. Das hat Gründe: Sie müssen wesentliche Teile ihres bisherigen Humankapitals abschreiben, neues Wissen ausbilden und hohe Kosten für die Umstellung von Büchern oder Computerprogrammen auf sich nehmen. Den geringen Nutzen aus der - überdies fraglichen - Schreibvereinfachung stehen also hohe Kosten gegenüber.

Th. Ickler bezieht sich in seiner "Kurzen Bilanz der sogenannten Rechtschreibreform" (November 2001) auf diesen Text. Wenig später, am 12. 1. 2002, kommentiert ihn W. Scheuermann:

Dazu kommt noch, daß die Rechtschreibreform sich auch „nicht rechnet": Die einzige Untersuchung zu dieser Frage, von Christian Müller und Manfred Tietzel, kam letztes Jahr zu dem Ergebnis, daß die Rechtschreibreform „Humankapital" (i.S. erworbener Kenntnisse in der Bevölkerung) vernichte und es höchst fragwürdig sei, wann (wenn überhaupt) dies wieder zurückgewonnen werden könne. Eine völlige Rücknahme der Reform sei mit Wahrscheinlichkeit die auch ökonomisch vernünftigste Lösung.

Der Ausdruck taucht genau zwei Jahre später wieder auf bei Christoph Kukulies:

Vergeudung von Humankapital, unsere Kinder einem solchen Regelwerk zu unterwerfen.

Dies alles auf einer befreundeten Webseite. Die FDS kommt im Oktober 2004 in Rechtschreibschreibreform - eine Bilanz auf Tietzel/Müller zurück und ergänzt:

Inzwischen werden die bereits getätigten Ausgaben als beinahe einziges noch übriges Argument gegen eine Rücknahme der Reform geltend gemacht. Wobei man, wie gesagt, vergißt oder verschweigt, daß diese Reform unausweichliche Nachbesserungen, d. h. weitere Reformen und damit auch weitere Kosten, nach sich zieht.



Kommentar von Der Tagesspiegel - Ulrike Simon, verfaßt am 22.01.2005 um 11.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#184

Seit zehn Jahren ist Aust Chefredakteur des "Spiegel". Weitere drei sind ihm nach Ablauf des aktuellen Vertrags Ende 2005 sicher, danach können ihm die Gesellschafter erstmals kündigen, die Höhe der in diesem Fall zu zahlenden Abfindung wurde kürzlich bei der Vertragsverlängerung bereits festgelegt. Bleibt Aust weitere zwei Jahre und findet in dieser Zeit einen geeigneten Nachfolger für sich, den er als seinen Stellvertreter einarbeitet, wird ihm dies zusätzlich versilbert. Am Ende könnte er eine Amtsdauer verbuchen, die der von Altkanzler Helmut Kohl gleichkommt. Bis es so weit ist, bestimmt er, wo es langgeht, denn "ich halte den Kopf hin, wenn etwas schief läuft", sagt Aust. Welche Entscheidung er in seinen zehn Jahren beim "Spiegel" am meisten bereut? Es sind keine falschen Personalentscheidungen, auch nicht die Affären und Skandale, die, anstatt vom "Spiegel" enthüllt zu werden, aus anderen Zeitungen, Magazinen oder Sendern zu erfahren waren. Was Aust bereut, ist etwas anderes. Etwas, das ihm viel Kritik einbrachte, weil ihm vorgeworfen wurde, gemeinsam mit Springer Politik zu betreiben: 'Der 'Spiegel' hätte die neue Rechtschreibung von Anfang an nicht übernehmen sollen."


Kommentar von Ulf Bose, verfaßt am 22.01.2005 um 11.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#185

Bei der Wahl von "Humankapital" als "Unwort des Jahres" hat die Jury wohl das getan, was dem Schüler auch den besten Aufsatz verhagelt: Sie hat das Thema verfehlt. Denn nach eigener Definition sollen mit dieser Wahl "sprachliche Mißgriffe" genannt werden. Nun ist "Humankapital" an sich noch lange kein sprachlicher Mißgriff, wie die Beispiele von Herrn Hauberger zeigen.

Da diese Kommentare aber zu einem Thema der Schulpolitik gehören, fällt mir ein "Unwort" ein, das einem dort begegnen kann: "Schülermaterial". Davon sprach die Lehrerin unserer 10jährigen Tochter in der Elternsprechstunde, als es um deren Übertritt aufs Gymnasium ging. Man könne in ein "Schülermaterial" "nicht investieren", wenn da nichts vorhanden wäre. Vielleicht ist das ja nur ein harmloser Fachjargon der Bildungsinvestoren, aber daß unsere Tochter von ihrer Lehrerin als "Material" bezeichnet wurde, in das zu "investieren" sich nicht lohne, fanden wir schon ziemlich betrüblich. Die Investition hat sich aber schließlich doch gelohnt, die Investitionsexpertin hatte sich getäuscht.


Kommentar von Johannes Hauberger, verfaßt am 25.01.2005 um 12.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=187#191

Heute beschäftigt sich die New York Times mit einem ähnlichen Problem:

The larger story is the one Lincoln defined over a century ago, the idea that this nation should provide an open field and a fair chance so that all can compete in the race of life. [...] Now, the upper class doesn't so much oppress the lower class. It just outperforms it generation after generation. Now the crucial inequality is not only finance capital, it's social capital. Now it is silly to make a distinction between economic policy and social policy. We can spend all we want on schools. But if families are disrupted, if the social environment is dysfunctional, bigger budgets won't help.

Wir sollten nicht übersehen, daß unsere Rechtschreibproblematik ähnliche Koordinaten hat. Aus der Tatsache, daß die Reformer daraus die falschen Konsequenzen gezogen haben, folgt nicht, daß wir das Problem außer acht lassen dürfen. Wer in diesem entscheidenden Jahr etwas erreichen will, sollte außer Prinzipientreue auch Fingerspitzengefühl zu bieten haben.




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