08.09.2008


Theodor Ickler

Abfall für alle

Fortsetzung der Rezension schlechter linguistischer Einführungsbücher

Römer, Christine (2006): Morphologie der deutschen Sprache. Tübingen.
(Verf. arbeitet in Jena, bedankt sich bei Gallmann.)

"Das Buch ist in der amtlichen Orthografie abgefasst." (XI) Das trifft nur teilweise zu:

In seinem Epoche machenden „Cours (...)“

so genannt (meist getrennt, manchmal zusammen)

Sonst ist die Orthographie einigermaßen eigenwillig:

Appelativum (meist so, einmal auch Appellativum)

Eisenbergs Grundriß hieß 1998 noch nicht Grundriss. (Weitere Anachronismen dieser Art kommen vor.)

Genus verbi

die Genus verbi-Einordnung

Zu Vertrauen ist schön (53)

Pöpelwahlkampf (103)

Beschränkung der nicht Passivierbarkeit (111)

... teilt die Menge der Prädikate in zwei Gruppen, in Ereignis und nicht Ereignisprädikate (187)

ein Ereignis, dass keine inhärenten Grenzen hat (187)

Maria ist am Schal stricken (189)

Ein mehr an sprachlicher Form ist oft mit einem mehr an Bedeutung verbunden. (212)

Obligatorische Kommas fehlen sehr oft, manchmal auch andere Satzzeichen. Es gibt aber auch überzählige Kommas, gelegentlich sinnstörend (57).

Eigennamen sind oft falsch geschrieben:
Eberhardt Stock (statt Eberhard)
Sigfried Lenz (mehrmals)
Rolf Hochhut (mehrmals)
Behagel (durchgehend so)
Ernst Häckel (statt Haeckel)
Wolfgang Ulrich Wurzel (statt Ullrich)
Daniele Clement (im Register, statt Danièle Clément)

Dionysios Thrax hieß Dionysios und nicht Thrax oder Trax, wie die Verfasserin den Beinamen durchgehend schreibt (auch als „Familiennamen“ im Register). Außerdem war er vielleicht der Verfasser der ersten Grammatik des Abendlandes, aber nicht der ersten Grammatik einer indoeuropäischen Sprache; Panini ist viel älter.


Für Framework gibt es doch sicher auch einen deutschen Ausdruck? Und Subarten sind einfach Unterarten.

Durchgehend herrscht ein naiver Psychologismus, mit „mentalem Lexikon“ usw.

Seit geraumer Zeit ist es allgemein gültiges Wissen, dass Sprachzeichen aus zwei Hauptkomponenten bestehen: aus einer Laut- und einer Bedeutungsseite. (3) Die übliche Mystifikation!

Am Ende einer Silbe treten laut Römer maximal vier Konsonanten auf; aber das gilt doch nur, wenn man pf monophonematisch zählt, sonst sind es fünf wie in schrumpfst usw. (zu S. 7)

Bei sehen soll die silbische Gliederung mit der morphologischen nicht übereinstimmen:
vs. seh-en. Aber das stimmt doch gar nicht, nur graphisch!


Die Stammbaumtheorie Schleichers hat nichts mit Wortstämmen zu tun – warum wird sie hier überhaupt so ausführlich erwähnt? (36)

Der Text ist manchmal banal, manchmal bis zur Unverständlichkeit verklausuliert:

„Simplifiziertes Subkategorisierungsprinzip
In einem phrasalen Zeichen resultiert der SUBCAT-Wert des Zeichens aus der Verkettung der SUBCAT-Werte der Konstituenten. Ein phrasales Zeichen ist nur dann wohlgeformt, wenn es gesättigt ist, wenn die SUBCAT-Liste leer ist.“ (39)
Die Begriffe sind an der betreffenden Stelle nicht eingeführt oder gar erklärt, der Student kann damit nichts anfangen.

Die Ausführungen über Numeralia in der Rechtschreibreform (46) sind unverständlich.

„Wenn die Modalverben wollen und sollen (...)“ (96) Hier muß es statt sollen anscheinend möchten heißen, sonst gibt der Satz keinen Sinn.


Das Wort vollkommen soll ein Partikelpräfixverb sein (116) – es ist nicht zu erraten, was hier wirklich gemeint ist.

Die Deklination der Substantive zeigt nicht das Genus an (120).

In Er gab ihr einen Kuss soll einen Kuss das „Thema = das Ausgesagte“ ausdrücken. (124) Das ist unverständlich. (Mit Morphologie hat es, wie das meiste, natürlich auch nichts zu tun.)

„Abstrakta haben keine gegenständliche Bedeutung. Sie bezeichnen Konzepte über Erscheinungen in der Welt und Vorgestelltes.“

Dieser Abschnitt wird ausdrücklich als Lehrsatz markiert, ist aber verständlich bzw. allzu naiv. Später erfährt man, daß z. B. Jahr ein Abstraktum ist.

Strumpfhose wird als „Strumpf in Hosenform“ gedeutet und damit als Beispiel umgekehrter Determinationsrichtung. Das ist aber unnötig, „Hose in Strumpfform“ ist völlig normal.

„Von Rückbildungen spricht man dann, wenn das Verb älter ist als das Nomen (schauen > Schau).“ (137) Das ist nicht der übliche Sinn von „Rückbildung“.

Das Kapitel über Adjektive wird eingeleitet durch essayistisches Geschwätz über Mark Twain und die Entbehrlichkeit der Adjektive. (138)

Die Verfasserin behauptet, das Adjektiv werde gebraucht
„- attributiv beim Adjektiv in der Adjektivphrase: (...) dass er tatsächlich lieb ist.“ (139)
Hier ist tatsächlich aber Satzadverb und bildet mit dem Adjektiv (an dessen Stelle auch etwas ganz anderes stehen könnte) keine Phrase. Ein ähnlich krasser Fehler auf der folgenden Seite:
„- prädikativ zum Dativobjekt in der Verbphrase: Die Redewendung war den Studenten nicht geläufig.“
Hier regiert das Adjektiv in Wirklichkeit die Nominalphrase.

141: „Adjektive ohne Aktanten können nicht attributiv auftreten.“ Das ist hier tautologisch. Die Valenz der Adjektive ist unzulänglich behandelt, gehört ja auch gar nicht zur Morphologie.

„Nach den neuen Rechtschreibregeln müssen kopulativ verstandene Farbadjektive (in amtlichen Texten) mit Bindestrich geschrieben werden. Damit ist eine Eindeutigmachung bezüglich der angelegten Lesart möglich.“ (145)
Hier ist alles falsch: Die Reformorthographie gilt nicht nur für amtliche Texte, sie enthält keine Regeln für Farbadjektive, unübersichtliche (!) kopulative Adjektive können (müssen aber nicht) mit Bindestrich geschrieben werden, und die angeblich neue Regel war gerade die alte (Duden 1991, R 40; dort ausdrücklich über Farbadjektive). Die Eindeutigmachung war also damals möglich, heute ist sie es nicht mehr.

gelbsüchtig und bleichsüchtig sind nicht als Adjektiv+Adjektiv zu analysieren (146), sondern als Ableitungen von Gelbsucht, Bleichsucht. Auch bei schmähsüchtig, schwatzsüchtig, putzsüchtig liegt jeweils das Substantiv voraus. Bei ichsüchtig, selbstsüchtig (ebd.) könnte man eine Zwischenstufe der Substantivierung des Pronomens bzw. der Partikel ansetzen (selbst ist entgegen der Verfasserin kein Pronomen). draußensüchtig und außerhalbsüchtig mögen belegt sein, sind aber abweichend gebildet und sollten nicht einfach zwischen den geläufigen Bildungen aufgelistet werden.

Warum sollte der „reihenbildende Charakter“ für Derivation und gegen Komposition sprechen (147 zu Adjektiven mit nicht-, nichts-)?

148: Zusammenbildungen wie dickleibig werden so zerlegt: (dick + leib) + ig. Aber wie stellt sich das beim ebd. angeführten schwerhörig dar?

Von Pronomen wird allgemein behauptet, daß sie stellvertretend gebraucht werden. (150) Aber was vertritt das Pronomen in Ich bin Adam (150)? pro nomen ist übrigens kein möglicher lateinischer Ausdruck (159).

151: Die Verfasserin unterscheidet nicht zwischen Possessivpronomen und Possessivartikel.

Artikel sollen immer unbetont sein, „bei Betonung (z. B. 'das Kleid gefällt ihr) kommt es zur Demonstrativpronomenlesart.“ (152) Das ist unrichtig, denn das Demonstrativpronomen bleibt auch vom betonten Artikel formal verschieden: den Kleidern vs. denen.

Das Suffix -weise ist aus Weise und nicht aus „Art und Weise“ entstanden. (159)

161: Daß den Partikeln in der Vergangenheit „keine Relevanz zugesprochen“ wurde und sie als Füll- oder Flickwörter bezeichnet wurden, trifft so allgemein nicht zu, sondern wird allenfalls von der kleinen Gruppe der Abtönungspartikeln stereotyp behauptet, weil einige Sprachpfleger sich in diesem Sinne geäußert haben.

„Engel, der sich u. a. in der germanistischen Sprachwissenschaft tiefgründig mit der Modifizierung der Partikeln beschäftigt hat ...“ (162) – Wo sonst sollte er sich damit beschäftigt haben, und wieso mit der „Modifizierung“? Gemeint ist offenbar die Klassifizierung.

Das Wort nicht in den Beispielsätzen (168), S. 167 soll einmal Teilnegation, einmal Satznegation sein: Warum Männer nicht zuhören vs. Kontakt zu ihrer Familie hat sie nicht. Ich sehe keinen Unterschied.

Das Wort leider in den Beispielsätzen (176), S. 170 soll einmal Partikel, einmal Modalwort sein: Sie landeten leider nur auf dem 5. Platz vs. Gesunde Inhaltsstoffe, aber leider kalorienreich. Ich sehe wiederum keinen Unterschied.

173: „Dass es sich bei den Interjektionen um Wörter der deutschen Sprache handelt, steht außer Frage.“ Wenige Zeilen vorher hat die Verfasserin mit Zitaten belegt, daß es umstritten ist, und sie hat auch keine neuen Argumente vorgelegt.

176: Präpositionen mit schwankendem Kasus (trotz usw., mit Genitiv oder Dativ) können nicht in eine Reihe mit den Wechselpräpositionen wie an, auf usw. gestellt werden.

198: Dem Halbaffix -werk (Schuhwerk) wird eine „pluralisierende Bedeutung“ zugeschrieben, kaum mit Recht.

199: In affengeil hat doch nicht -geil den Charakter eines Affixoids, sondern, wenn überhaupt, dann affen-.

200: „Konfixe“ werden als „Verkürzungen von Fremdwörtern“ definiert, sehr ungewöhnlich. Wovon sollte poly- (ebd.) eine Verkürzung sein? Der Ableitungspfeil zwischen „biologischer Anbau“ und „Biobauer“ ist kaum interpretierbar.

204: wohnen kann seine präpositionale Kasusrektion nicht verlieren, da es keine hat, sondern allenfalls die einer Lokativergänzung.

Bei der Literaturangabe S. 213 fehlt der eigentliche Buchtitel.

226f.: Die Zuordnung von bitte zu den Abtönungspartikeln überzeugt nicht.

236: Bei den Lösungen wird behauptet, natürlich sei Abtönungspartikel in: Sie brauchen für das Anlegen eines Miniteichs Steine, Kies und natürlich Pflanzen. In Wirklichkeit ist es Satzadverb. Es gibt noch weitere fragwürdige Zuordnungen dieser Art.


Auf fast jeder Seite werden Häppchen aus verschiedenen Theorien geboten, aber immer so skizzenhaft, daß man sie weder beurteilen noch anwenden kann. Das Buch ist nicht im Sinne der generativen Grammatik angelegt, daher sind die umfangreichen Baumdiagramme, die nicht erläutert und gerechtfertigt werden (z. B. 69 oder zu den Modalverben 95 bzw. 97), ohne Erkenntniswert. Solche Ausschnitte belegen höchstens, was die Verfasserin alles gelesen hat.

Der schwerste Mangel ist aber die Themaverfehlung. Das Buch handelt größtenteils gar nicht von Morphologie. In einer Morphologie erwartet man z. B. Flexionsparadigmen, hier findet man sie nicht. Sie spricht sogleich vom Gebrauch der starken und schwachen Adjektive, ohne die starke und schwache Flexion eingeführt und des näheren erörtert zu haben. Damit fehlt ein Kernbereich jeder Morphologie. Stattdessen werden Syntax und Semantik geboten, allerdings sehr oberflächlich und oft falsch.


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