06.04.2009


Theodor Ickler

Leo Weisgerber

Der Großvater der Rechtschreibreform wird bei Wikipedia ganz falsch dargestellt

Und zwar in so skandalöser Weise, daß ich noch nichts Vergleichbares gesehen habe.
Zum Glück hat das keltologische Institut seiner Heimatuniversität Bonn dies auch bemerkt und stellt es richtig:

»Der zweite Bonner Keltologe dieser Zeit war Leo Weisgerber (1899–1985), der 1923 bei Thurneysen mit einer Arbeit über Die Handschriften des Peredur ab Efrawc in ihrer Bedeutung für die kymrische Sprach- und Literaturgeschichte (cf. ZCP 15, 1925) promoviert wurde.
1924 habilitierte er sich in Bonn mit der Schrift Sprache als gesellschaftliche Erkenntnisform (unpubliziert).
Er gilt als Begründer der „inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft“ respektive des „Neohumboldtianismus“.
Während Weisgerbers Verdienste im Bereich der Sprachwissenschaft heute unbestritten sind, wird andererseits seine Rolle als Mittäter der nationalsozialistischen Politik häufig heruntergespielt (so der derzeitige Wikipedia-Artikel, der Weisgerber implizit in die Nähe katholischer Widerständler bringt). Das betrifft sowohl seine ideologische Betreuung von „keltischsprachigen“ Kriegsgefangenen in Bad Orb im Jahr 1940 – die ideologische Umpolung von Kriegsgefangenen, die Minderheiten angehörten, war generell ein wichtiges Anliegen des SS-Ahnenerbes –, als auch seine Tätigkeit als Zensuroffizier in Rennes im Zweiten Weltkrieg. In den Jahren 1940 bis 1944 war Weisgerber im Funkhaus Rennes zuständig für die Sendungen in bretonischer Sprache. 1941 regte er die Gründung von „Framm Keltieg Breizh“ (,Keltisches Institut der Bretagne') an, dessen Präsident der bekannte und bis heute ebenfalls umstrittene bretonische Schriftsteller Roparz Hémon (†1978) wurde, der die ersten Sendungen in bretonischer Sprache überhaupt umsetzte. Für seine Kollaboration wurde er nach dem Krieg für zehn Jahre verbannt, ging nach Irland und arbeitete im Dublin Institute for Advanced Studies. Indem er im „Framm Keltieg Breizh“ alle kulturellen, wirtschaftlichen und nachrichtendienstlichen Aktivitäten bündelte, konnte Weisgerber die Kulturpolitik der Bretagne maßgeblich mitbestimmen und (im Auftrag des sog. Sicherheitsdienstes) überwachen. Dabei muß daran erinnert werden, daß die Zusammenarbeit der gegen Frankreich gerichteten bretonischen Widerstandsbewegung mit den Nationalsozialisten nicht nur im kulturellen, sondern auch im militärischen Bereich erfolgte. Ausdruck dessen ist, daß Weisgerber und weitere Keltologen nach der militärischen Niederlage der Nazis einem Mitglied der bretonischen SS-Miliz „Bezen Perrot“, geführt von Célestin Lainé, durch die Bereitstellung falscher Ausweispapiere die Flucht nach Irland ermöglichten.«

(www.keltologie.uni-bonn.de/inst_hist.html)


Über Weisgerbers Tätigkeit ist inzwischen genug bekannt, das braucht hier nicht wiederholt zu werden. Nachdem sein Sohn Bernhard Weisgerber, der – stramm links – ebenfalls zu den Betreibern der Rechtschreibreform gehört hatte, dann aber zur Erleichterung der anderen Mitglieder des Arbeitskreises ausgeschieden war – mich angegriffen hatte, kam es zu einem Briefwechsel, der mir u. a. eine gewisse Ahnungslosigkeit auf seiten meines Partners offenbarte. Ich darf vielleicht einen meiner beiden Briefe hier einrücken:


21.11.2000

Sehr geehrter Herr Weisgerber,

besten Dank für Ihren Brief vom 20. November (und für die kleine Aufmerksamkeit, ihn in herkömmlicher Orthographie abgefaßt zu haben!).
Ihre Fragen sind größtenteils in meinen Büchern „Die sogenannte Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich“, „Kritischer Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ (2. Aufl. 1999) sowie in „Regelungsgewalt: Hintergründe der Rechtschreibreform“, das zur Zeit im Druck ist, schon beantwortet. Dazu gibt es noch eine Reihe Aufsätze von mir. Ganz unbekannt ist mir die Reform also nicht.
Es ist Ihnen möglicherweise entgangen, daß die jetzige Reform wenig Ähnlichkeit mit derjenigen hat, die Sie wollten und die fast alle Reformer auch heute noch für die bessere halten. Für die Kleinschreibung haben sie sich einstimmig ausgesprochen, die Wüstersche Großschreibung galt nicht als Lösung.
Herr Munske, dem Sie ja die Kennerschaft nicht gänzlich werden absprechen wollen, spricht von einer „Überrumpelungsaktion“.

Was Ihren Vater betrifft, so halte ich ihn nicht für einen echten Nationalsozialisten, obwohl er am 17. Juli 1934 Parteimitglied wurde, sondern eher für opportunistisch – was man aus heutiger Sicht nicht zu streng verurteilen darf, aber beschönigen sollte man es auch nicht:
„Es ist eine der dringendsten Aufgaben, daß der Rassegedanke und der Sprachgedanke zu einer fruchtbaren Begegnung gebracht werden, daß beide Seiten ihren Ehrgeiz nicht in gegenseitiger Bekämpfung sehen, sondern in dem Aufzeigen der volkhaften Bedeutung der beiden Tatbestände und in dem Wecken der Kräfte, die aus jedem von ihnen für den Aufbau unseres Volkes zu gewinnen sind.“
„Es geht nicht an, die bloße Teilnahme an der gleichen Sprache als ausreichend für Volksein anzusehen. [...] Schon für das Denken um 1800 steht fest, daß Volk wesentlich Volkwerden ist. Erst recht gilt für uns heute, daß Volksein als immer neue Aufgabe gestellt ist, und daß jeder, der in diesem Bemühen erlahmt, abstirbt für das Volk. [...] Man denke nur daran, daß die Eingliederung des Menschen in seine Sprachgemeinschaft sich bereits in einem Alter vollzieht, in dem noch keine Auslese möglich ist, zumal die Werte jedes Menschen erst erkennbar werden, wenn die Sprachgemeinschaft die Möglichkeit zu ihrer Entfaltung geschaffen hat. Soll man die Unbrauchbaren, die hier sicherlich in die Sprachgemeinschaft hineinkommen, nun auch bereits als Volksglieder anerkennen?“ usw.
Aus: Leo Weisgerber: „Sprachgemeinschaft und Volksgemeinschaft und die Bildungsaufgabe unserer Zeit“, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 10 (1934), S. 289–303 (Vortrag in Berlin, Feb. 1934)

Näheres später einmal, da ich schon lange vorhabe, die Kernpunkte von L. Weisgerbers Lehre auf ihre Implikationen hin zu untersuchen. Besonders hat mich seit Jahrzehnten beunruhigt, wie er aus der Trivialität, daß jeder Mensch die Sprache seiner Umgebung lernt, ein „Menschheitsgesetz“ konstruiert und daraus dann wieder die weitreichendsten Aufgaben und Pflichten abgeleitet hat; logisch völlig haltlos, aber sehr schlagkräftig im Sinne der Gemeinschaftsbildung (um es einmal so harmlos auszudrücken).
Was seine Schrift „Verantwortung usw.“ betrifft, so fällt ja gerade auf, daß er entgegen seinem Vorsatz nicht 60 Jahre Bemühungen um die Reform darstellt, sondern nur 48. Noch 1980 beginnt er seinen kleinen Beitrag im „Sprachdienst“ so:
„Als nach dem Zusammenbruch von 1945 in wohl allen Lebensbereichen Reformwünsche laut wurden, machten sich auch die Ungereimtheiten und schwachen Stellen der deutschen Schreibweise rasch bemerkbar“ usw. – Man könnte meinen, in der Stunde Null seien plötzlich Reformgedanken vom Himmel gefallen. L. Weisgerber wußte aber ganz genau, daß die Reformgedanken gerade zu einem schnellen Ende gekommen waren. Aber bei Zabel usw., sogar auf der Internetseite des Dudenverlags liest man es genauso. Vgl. dagegen das neue Buch von Birken-Bertsch und Markner, das der Geschichtsklitterung ein Ende setzt.
Alle Reformer fühlen sich dauernd verunglimpft, besonders Herr Augst kann das unnachahmlich vorspielen. Mit der Zeit wird es aber langweilig.
Falls Sie mir noch einmal schreiben wollen, bitte ich Sie, Ihren Ton zu mäßigen.

Mit den besten Wünschen
Theodor Ickler


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