14.06.2005


Theodor Ickler

Putativgehorsam

Über „selbstständig“ und „selbstgebacken“

(Diesen Text, den ich vor Jahren mal in der Zeitung veröffentlichen wollte, habe ich noch einmal überarbeitet und stelle ihn zur Diskussion.)


Viele reformierte Texte erkennt man auch daran, daß sie das Wort selbstständig verwenden, wo sie vor der Reform selbständig geschrieben haben. Ein kurioser Fall, der bei näherem Hinsehen tiefen Einblick in die deutsche Mentalität erlaubt.

Man braucht kein Sprachwissenschaftler zu sein, um zu erkennen, daß es sich hier gar nicht um ein Rechtschreibproblem handelt. Die beiden Formen sind ja tatsächlich verschieden gebildete Wörter und nicht verschiedene Schreibweisen desselben Wortes, mögen sie auch dasselbe bedeuten. In selbständig liegt der Stamm selb- vor, den wir auch in derselbe, selber usw. vor uns haben. Es ist der ursprüngliche Stamm eines Pronomens, aus dem später die Partikel selbst entwickelt wurde. Sie liegt allen neueren Zusammensetzungen zugrunde. Es gibt daher ein älteres selbständig (zu Selbstand) und ein jüngeres, aber auch schon 500 Jahre altes selbstständig. Nun stritten sich im 19. Jahrhundert die Gelehrten, welche der beiden Formen die „richtige“ sei. Im Grimmschen Wörterbuch, Band 16 (1905) kann man den Streitpunkt noch erkennen:

SELBSTSTÄNDIG
selbständig ... seit dem 15. jh.
daneben auch mit selbs als erstem theil: selbsstendig
auch in neuerer zeit ist die schreibung selbständig wieder üblich geworden; schon CAMPE redet ihr das wort, WEIGAND und ANDRESEN treten für sie ein, und die preuszische schulorthographie hat sie offiziell angenommen. doch läszt sich dagegen folgendes einwenden:
1) in allen andern heute wirklich lebendigen zusammensetzungen wird als erster theil deutlich selbst empfunden [hier folgt ein Verweis auf selbst]
2) selbst in den andern compositen, deren zweiter theil mit st beginnt (selbststand, -streit u.s.w.) gestatten die sprachlichen thatsachen nicht die vereinfachung des st.
3) dasz auch bei diesem worte das unbefangene sprachgefühl heute entschieden selbst- als erstes glied empfindet, beweisen besonders fälle wie: mit der einfachheit wächst der reichthum, die selbst- und vollständigkeit des gliedes mit der des ganzen (NOVALIS)
4) auch, dasz nur einfachs st gesprochen würde, ist nicht ganz richtig; man spricht zwar nicht die gruppe zweimal getrennt nach einander, sondern die beiden st flieszen, wie immer, wo sie ohne pause zusammenstoszen, in einen langen doppellaut zusammen, wobei sowohl s wie t gedehnt, und die silbengrenze zwischen beide bez. noch in das s verlegt wird. - ich halte daher die schreibung selb-ständig etymologisch wie phonetisch für unberechtigt.


Die Wörterbuchredaktionen haben sich bekanntlich anders entschieden. Das Ergebnis war, daß praktisch alle nicht-historischen Wörterbücher des 20. Jahrhunderts die Form selbstständig überhaupt nicht mehr anführten und daß in den Schulen gelehrt wurde, sie sei „falsch“. Darüber hinaus verbreiteten Schule und Lexikographie das Fehlurteil, das sich schon im Deutschen Wörterbuch ankündigt, es handele sich um unterschiedliche „Schreibungen“ desselben Wortes, und davon sei die eine richtig und die andere falsch. Diese schiefe Darstellung bestimmte die Wörterbücher bis zur Rechtschreibreform:
»selbständig: Das Adjektiv selbständig ist mit dem Stamm des Pronomens selbst, also mit selb- gebildet. Die heute allein gültige Schreibweise des Wortes ist daher die mit einem -st- (Silbentrennung: selb-ständig).« (Duden Bd. 9, 1985)
Es fehlt natürlich die andere Hälfte der Wahrheit, die etwa so aussehen müßte:
selbstständig: Das Adjektiv selbstständig ist mit dem Stamm des Pronomens selbst, also mit selbst- gebildet. Die heute allein gültige Schreibweise des Wortes ist daher die mit zwei -st- (Silbentrennung: selbst-ständig).

Es sind eben zwei Wörter, und jedes wird auf seine Weise geschrieben. Kurioserweise fügten sich die meisten Deutschen aber dem verblendeten Urteilsspruch, den sie auch in Sprachratgebern immer wieder nachlesen konnten. Es galt nachgerade als Zeichen von Unbildung, wenn jemand, wie es jahrhundertelang Brauch gewesen war, selbstständig sagte oder gar schrieb.

Erst im Zuge der Rechtschreibreform wurde das gute alte Wort wieder ins Wörterverzeichnis aufgenommen, allerdings mit dem Mißverständnis behaftet, es handele sich um eine orthographische Variante von selbständig – eine Irrmeinung, der auch die Reformer in ihren begleitenden Schriften keineswegs widersprachen.
Dem auch sonst ziemlich ahnungslosen Bearbeiter der Bertelsmann-Rechtschreibung mochte man noch nachsehen, daß er folgende Weisheit von sich gab:
»selbständig/selbstständig: Die bisherige Regelung – Tilgung des zweiten -st- - wird aufgehoben; beide Schreibweisen sind korrekt: selbständig oder selbstständig. Der/die Schreibende soll selbst entscheiden.« (Bertelsmann: Die neue deutsche Rechtschreibung, 1996)
Aber auch im Duden Bd. 9 (1997) heißt es nun:
»selbstständig / selbständig: In neuer Rechtschreibung ist neben der bisherigen Schreibung selbständig neu auch die Schreibung selbstständig möglich. Beide Varianten sind korrekt und gleichwertig.«
Die führenden Schweizer Reformer Sitta und Gallmann schrieben:
»selbstständig: Als Vorderglied von Zusammensetzungen tritt gewöhnlich nur selbst- auf, nicht bloßes selb-: selbstsicher, selbstgenügsam, selbstverständlich. Der Einzelfall selbständig mit scheinbarem selb- ist auf eine Ausspracheerleichterung [!] zurückzuführen. Neben dieser Form soll neu auch die reguläre Form selbstständig (wieder) zugelassen werden.« (Duden: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Mannheim 1996)
Die Nachrichtenagenturen ließen sich eine gemeinsame Hausorthographie zusammenstellen, die neben vielen anderen Irrtümern auch folgende Bestimmung enthielt:
»Gleichfalls erhalten bleibt das r bei Zierrat und das st bei selbstständig (von selbst+ständig).«
Von hier aus drang die vermeintliche Reformschreibweise in die meisten Zeitungen und Zeitschriften ein.

Die Beflissenheit, mit der Menschen, die bisher nie selbstständig gesagt und geschrieben haben, dies nun im Gefolge der Reform tun zu müssen glauben, wirkt gerade deshalb so kleingeistig, weil sie nachträglich aufdeckt, in welch unsinniger Weise sie sich zuvor dem Fehlurteil der Wörterbuchmacher und Sprachpfleger unterworfen hatten. Nun taten sie so, als könnten sie sich endlich einen langgehegten Herzenswunsch erfüllen und ungerügt von Selbstständigkeit reden.

Das Wörtchen selbst ist noch in anderer, nicht minder interessanter Weise von der Reform betroffen. Der Regelungseifer bemächtigte sich nämlich der Zusammensetzungen aus selbst und einem Partizip: Wörter wie selbstgebacken, von denen es im Deutschen sehr viele gibt, wurden zwangsweise aufgelöst: selbst gebackener Kuchen müsse es heißen, behaupteten die Reformer. Sie glauben also, daß die Fügung selbst gebacken dasselbe bedeute wie die Zusammensetzung selbstgebacken. Das ist aus grammatischen Gründen zurückzuweisen. Dieser Kuchen ist selbst gebacken bedeutet, daß just dieser Kuchen, dessen Identität hervorgehoben wird, gebacken ist. Dieser Kuchen ist selbstgebacken hingegen heißt, daß jemand diesen Kuchen, mit dem er (als Esser, als Verkäufer oder wie auch immer) zu tun hat, auch selbst gebacken hat. Ein selbst geschädigter Unfallzeuge hat auch selbst einen Schaden erlitten, ein selbstgeschädigter dagegen hat sich den Schaden selbst zugefügt. Die zweite Bedeutung kann jeweils nur durch das echte Kompositum eindeutig ausgedrückt werden. Wenn irgendwo, müßte im Falle von selbstgebacken usw. gesagt werden, daß der erste Bestandteil „für eine Wortgruppe“ steht, und zwar für eine recht umständliche, und daraus folgt nach § 36 zwingend die Zusammenschreibung.

Die Reformer leiten im Wörterverzeichnis die Getrenntschreibung von selbst gebacken über den Infinitiv selbst backen her und übersehen dabei, daß es keinen grammatisch einwandfreien Übergang von sie hat den Kuchen selbst gebacken zu der Kuchen ist selbst gebacken gibt, weil sich der Bezug der Identitätspartikel bei der Umsetzung ins Passiv ändert. Daher sind alle Ableitungen der neuerdings getrennt zu schreibenden Fügungen selbst gebraut, selbst verdient usw. falsch. Die „Wiesbadener Empfehlungen“ – letzte Vorstufe der heutigen Reform – wußten das noch: „Zusammengeschrieben wird aber weiterhin 'selbst' mit einem partizip, weil 'selbst' hier in einer unlösbaren verbindung steht, die syntaktisch nicht mehr gedeutet werden kann.“ (Drewitz/Reuter 1973, S. 162)
Das Kriterium ist so unsicher, daß die Wörterbücher zu unterschiedlichen Auslegungen kommen müssen. Duden schreibt selbstentzündlich zusammen, weil selbst hier für die Wortgruppe von selbst stehe. Dabei unterläuft das Versehen, das Adjektiv unter die Verbindungen mit Partizipien zu stellen, doch soll dies nicht weiter kommentiert werden, da auch die Ableitungen auf -lich ähnlich wie die teilweise konkurrierenden auf -bar an der verbalen Natur teilhaben (daher leicht löslich usw.). Wichtiger ist die Entgegensetzung zu Beispielen wie selbst geschneidert usw., zu denen auch der selbst ernannte Experte gerechnet wird. Steht das selbst hier etwa nicht für eine Wortgruppe? Man sollte doch meinen, daß ein solcher Experte ein durch sich selbst ernannter ist. Bei Bertelsmann werden selbst entzündlich und selbst ernannt getrennt geschrieben.
Eigenartigerweise haben die Wörterbücher für das Partizip I keine entsprechende Folgerung gezogen. Eine selbstklebende Folie ist eine solche, die ohne weiteres Auftragen von Klebstoff selbst klebt (nicht nur „von selbst“, wie man ebenfalls meinen könnte), eine selbsttragende Konstruktion trägt selbst usw., so daß auch hier Getrenntschreibung geboten oder mindestens zulässig sein müßte, aber damit wird offenbar nicht gerechnet.

Ich habe von der „Identitätspartikel“ selbst gesprochen. Die Wörterbücher sehen das im allgemeinen anders. Nach dem Duden Universalwörterbuch ist selbst ein „indeklinables Demonstrativpronomen“ – aber schon die dort angeführten Beispiele sprechen dagegen, denn kein einziges hat etwas mit einem Pronomen zu tun:
»steht nach dem Bezugswort od. betont nachdrücklich, dass nur die im Bezugswort genannte Person od. Sache gemeint ist u. niemand od. nichts anderes: der Wirt s. (persönlich) hat uns bedient; du s. hast es/du hast es s. gesagt (kein anderer als du hat es gesagt); obwohl das Haus s. sehr schön ist, möchte ich dort nicht wohnen; sie muss alles s. machen (es hilft ihr niemand); er kann sich wieder s. versorgen (braucht keine Hilfe mehr); das Kind kann schon s. (ugs.; allein) laufen; sie hatte es s. (mit eigenen Augen) gesehen« (Duden – Deutsches Universalwörterbuch 2001)
Das Wörtchen selbst kann, wie man sieht, niemals als Subjekt oder Objekt dienen, sondern wird stets einem solchen hinzugefügt, um die Identität zu betonen, also nicht selbst hat uns bedient, sondern der Wirt selbst hat uns bedient. – Wie kann man nur darauf kommen, es hier mit einem Pronomen zu tun zu haben?

Durch die erzwungene Getrenntschreibung kommt es zu Verwechslungen der Identitätspartikel mit der gleichlautenden Gradpartikel selbst im Sinne von 'sogar': »Geregelte Mahlzeiten und selbst gekochtes Essen kenn ich nur aus dem Fernsehen.« (Hortense Ullrich: Hexen küsst man nicht. Thienemann 1999) – Dies könnte man ohne weiteres so verstehen, daß die Sprecherin sogar gekochtes Essen nur aus dem Fernsehen kennt.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Identitätspartikel auch vor der Reform schon manchmal getrennt geschrieben wurde, aber die Zusammensetzung ist zweifellos ein Fortschritt zu größerer Deutlichkeit und sollte keinesfalls aufgegeben werden.

Die „Sprachmeisterei“ (wie Eduard Engel das Treiben besserwisserischer Sprachpfleger nannte) zieht weitere Kreise. In Thomas Manns „Doktor Faustus“ geht es an einer Stelle um die Beschreibung von Adrian Leverkühns Mutter, nach dem bekannten Dürerschen Bildnis:
»der feste, wie wir sagten: eigengemachte Rock«
Hier greift der Erzähler also bewußt zu einem alten, regionalen Ausdruck, der sich auch im Grimmschen Wörterbuch findet:
»EIGENGEMACHT, sua ipsius manu factus, selbstgemacht, eigengemachtes zeug, garn.« (Bd. 3, Leipzig 1962, Sp. 92; die Brüder Grimm und ihre Nachfolger griffen zum Latein, wenn sie sich recht eindeutig ausdrücken wollten)
Es ist ein Stilmittel zur Erzeugung des altdeutschen und bodenständigen Kolorits, das diesen Teil der Erzählung kennzeichnet. Obwohl der Erzähler ausdrücklich sagt, so habe man sich damals ausgedrückt, wissen die Bearbeiterinnen eines reformierten Lesebuchs es besser: Nicht eigengemacht, sondern eigen gemacht habe man gesagt! („Sprachbuch 10“. Bayerischer Schulbuch-Verlag München 1997, S. 162) – Sie wissen also nicht nur besser als Thomas Mann, wie man erzählt, sondern auch, was es überhaupt zu erzählen gibt.

Auch die Sprachwissenschaft gerät in gefährliche Untiefen, wenn sie sich dem Diktat der Kultusminister unterwirft. Der Germanist Hans-Werner Eroms veröffentlichte 2002 eine „Syntax der deutschen Sprache“ – in reformierter Schreibweise (allerdings mit unzähligen Fehlern). Sie gerät mit dem Inhalt in Konflikt. Der Verfasser leitet selbstgebacken ausführlich her, aber dieses Wort gibt es nach der selbstgewählten Orthographie gar nicht mehr. Erst im Zuge der Revision von 2004 wurde es rehabilitiert, aber davon konnte der Autor noch nichts wissen.


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