18.06.2005


Theodor Ickler

Endlich öffentlich

Der Beschluß zur GZS (§ 34) steht jetzt auf der vorläufigen Internetseite des Rates.
Es ist zu wünschen, daß möglichst viele Betroffene sich diesen Paragraphen ansehen, vor allem Lehrer.
Hier mein vorläufiger Kommentar (zweite Fassung, vielen Dank für nützliche Hinweise!):

Vorbemerkung:

Obwohl ich der Neufassung von § 34 wegen ihrer begrüßenswerten allgemeinen Tendenz (Orientierung am Sprachgebrauch, daher weitgehende Rückkehr zur gleichen Schreibweise wie vor der Reform) zugestimmt habe, sind in Einzelheiten wie im Grundsätzlichen zahlreiche Bedenken geblieben, die ich – wie bereits vor der Abstimmung angekündigt – im folgenden darstellen möchte.

Zum Vorspann:

Die Neufassung setzt sich wie schon die Neuregelung 1996 über die linguistischen Bedenken hinweg, die einer Reduzierung der Getrennt- und Zusammenschreibung auf den Gegensatz von Wortgruppe und Zusammensetzung entgegenstehen. Der Duden von 1991 hatte diesen Fehler weitgehend vermieden.

Bei § 33 wäre der Deutlichkeit halber zu ergänzen, daß zu danksagen die finite Form er danksagt gehört, zu Dank sagen hingegen er sagt Dank; ferner sind brustschwimmen usw. anders gebaut; denn man kann nicht sagen sie brustschwimmt (delphinschimmt, marathonläuft usw.). Die Halbzusammensetzungen notlanden usw. wären ebenfalls noch zu erwähnen, wegen er notlandet, aber notgelandet, notzulanden – durchaus orthographisch relevant.

Zu § 34:

E1: Es fehlen Ausführungen zu den Doppelpartikelverben; oder sollen etwa wiederaufbauen, wiederherrichten usw. nur noch getrennt geschrieben werden?

Aus der Formulierung von E2 muß man folgern, daß wie schon 1996 Verbindungen mit darin (welche noch?) erst dann zusammengeschrieben werden, wenn das Pronominaladverb synkopiert ist: darin sitzen, aber drinsitzen. Falls dies nicht nur ein redaktionelles Versehen sein sollte, ist es abzulehnen.

E2 und E3 sind auch regeltechnisch ungeschickt, da sie den Leser über grammatische Sachverhalte aufklären, statt diese vorauszusetzen und nur die gesuchte Schreibweise zu vermitteln.

Zusammenzuschreiben sind Partikeln, die „die Merkmale von frei vorkommenden Wörtern verloren haben“. Es wird nicht erklärt, was damit gemeint ist. Aus den Beispielen geht es auch nicht hervor. Warum soll etwa entzwei Merkmale eines frei vorkommenden Wortes verloren haben? Welche Merkmale sind es denn, die bevor oder inne besaßen und nun verloren haben? Der Artikel kommt auch nicht frei vor und wird trotzdem als Wort betrachtet. Oder sollte gemeint sein, daß diese Elemente eben nur als Bestandteile von Zusammensetzungen vorkommen? Das wäre tautologisch und nutzlos.

Übrigens wurde abhanden kommen nach bisheriger Dudennorm nur getrennt geschrieben; das sollte zumindest nicht ausgeschlossen werden. In überhandnehmen wiederum steckt eigentlich ein Substantiv, so daß es eher zu (3) zu stellen wäre.

E4: Bekanntlich sind feil, irre und in Grenzen auch kund und wett ('quitt') sehr wohl der Wortart Adjektiv zuzuordnen. Die 1996 verordnete Neuschreibung daß er irrewird bzw. irrwird (Duden 2004) kann m. E. nicht verpflichtend vorgeschrieben werden. Die Erwähnung von weis-, wett- und preis- ist überflüssig, da diese jeweils nur mit einem einzigen Verb zusammengefügt werden: weismachen, wettmachen, preisgeben; das gehört ausschließlich ins Wörterbuch.

Nach (2.1) wäre bereitlegen wohl fakultativ zusammenzuschreiben, aber wie steht es mit bereit+liegen, das nicht „resultativ“ gedeutet werden kann?

Beobachter haben gefragt, wozu der Begriff des „resultativen Prädikativs“ gut sein soll, der offenbar nur hier vorkommt. Die Rechtschreibregelung sollte nicht mit Bruchstücken grammatischer Theorie um ihrer selbst willen befrachtet werden.

(2.2): Die Vorschrift, Verbindungen wie krankschreiben, kaltstellen usw. bei einer idiomatischen Gesamtbedeutung zusammenzuschreiben, ist weder deskriptiv angemessen noch sinnvoll. Bei fakultativer Geltung würde auch die Ausnahmeregelung E5 entfallen, die ohnehin die Vorschrift entwertet. Hier ist entgegen der Dudennorm schon früher unterschiedlich geschrieben worden, und man kann das weiterhin der Sprachgemeinschaft überlassen. Es ist schlechterdings niemandem zuzumuten, über den Idiomatisierungsgrad von krankschreiben, krank melden und krankfeiern nachzusinnen. (Ich habe hier jeweils die statistisch überwiegende Schreibweise angeführt, die jeweils andere ist aber auch nicht selten; dabei wäre noch nach finiten und infiniten Formen zu differenzieren.) Außerdem ist die Bedingung der Idiomatisiertheit fragwürdig, weil die betreffenden Zusätze durchaus offene Reihen bilden können.
Das Hauptproblem liegt aber darin, daß die „nichtidiomatisierte“ Gesamtbedeutung ohnehin eine Illusion ist, die auf dem logizistischen Dogma von der Kompositionalität der Bedeutung komplexer Ausdrücke beruht. Der Arzt kann jemanden krankschreiben und auch wieder gesund – was soll daran idiomatisch sein? So streng fixiert ist die Bedeutung von schreiben und von krank nicht, daß sich daraus die eine buchstäbliche Bedeutung nach dem „Frege-Prinzip“ gleichsam errechnen und die andere, idiomatische als abweichend erkennen ließe. Diese Überlegung gilt natürlich auch für viele andere Verbindungen, bei denen die Reform Neuschreibungen verordnet hatte: offen legen usw. - es dürfte schwerfallen, hier mit Hilfe der Revision zu einer Entscheidung zu kommen.

Der neuen Darstellung ist weiterhin nicht zu entnehmen, ob es für großschreiben/groß schreiben usw. tatsächlich bei der reformbedingten Umkehrung der bisherigen Norm bleiben soll. Die Zusammenstellung bereit erklären, klein beigeben veranlaßte einen unabhängigen Beobachter zu der Frage, ob es sich hier um einen Witz handele. Die beiden Gebilde sind erstens ganz verschieden gebaut und enthalten zweitens weder ein morphologisch komplexes noch ein erweitertes Adjektiv. Außerdem leuchtet nicht ein, daß bereit erklären ganz anders behandelt werden soll als krankschreiben.

Die leider immer noch nicht beseitigte Verkennung der Bestandteile leid und not als Substantive (!) unter (3) sollte in einem sprachwissenschaftlich seriösen Werk keinen Platz finden. Die Verbannung des herkömmlichen leid tun ist völlig willkürlich und strikt abzulehnen. Dasselbe gilt für zusammengeschriebenes nottun, das zwar angebahnt, aber keineswegs schon allgemein verbreitet war. Warum kopfstehen und brustschwimmen verschieden zu behandeln sind, dürfte nicht leicht plausibel zu machen sein. Was ist der grammatische (also nicht tautologisch auf die vorgesehene Schreibweise zurückgreifende) Unterschied zwischen achtgeben und Acht geben? Warum wird er nicht genannt, wenn es ihn gibt?

Es ist zu bedauern, daß die herkömmliche Zusammenschreibung von spazierengehen usw. nicht als sinnvolle Möglichkeit vorgesehen wird, obwohl die strukturellen Unterschiede zu schwimmen gehen auf der Hand liegen und auch im Rat zur Sprache gekommen sind.

laufen lernen, arbeiten kommen, baden gehen, lesen üben – hier sind wieder höchst unterschiedliche Gebilde unter dem Titel „Verbindungen aus zwei Verben“ zusammengezwungen, so daß an der Ernsthaftigkeit des ganzen Unternehmens Zweifel aufkommen könnten. Wer sich die Mühe macht, „resultative Prädikative“ zu unterscheiden, sollte auch im Bereich der Verbkomplexe entsprechende Differenzierung nicht scheuen.

Ferner ist die Beschränkung der fakultativen Zusammenschreibung auf kennenlernen abzulehnen – wo übrigens die nichtübertragene Bedeutung ziemlich fragwürdig ist. Was ist überhaupt der Unterschied zwischen „übertragener Bedeutung“ und „neuer, idiomatisierter Bedeutung“?

E7 ist weit vom Sprachgebrauch entfernt: in Wirklichkeit werden die Positionsverben auch bei wörtlicher Bedeutung sehr oft mit bleiben und lassen zusammengeschrieben. Statt der Tendenz zur Zusammenschreibung weiterhin „entgegenwirken“ zu wollen (wie die Väter der mißglückten Reform es auf ihre Fahne geschrieben hatten), sollte man lieber nach den Ursachen fragen. Punkt (4) wird in seiner rigiden Fassung der tatsächlichen Sprachentwicklung nicht gerecht, sondern kämpft in sinn- und aussichtloser Weise dagegen an.


§ 35 (Verbot von Zusammenschreibungen mit sein). Diese künstliche und überflüssige Beschränkung ist aufzugeben. Es sei daran erinnert, daß das revidierte Wörterverzeichnis vom November 2004 schon wieder die Zusammenschreibungen beisammengewesen und zurückgewesen enthält. Der Rechtschreibduden hat zwar kein Stichwort dagewesen mehr, aber alle Dudenwörterbücher verwenden es in ihrer Beschreibungssprache weiterhin. Es wäre unplausibel und sprachfremd, wenn beisammenbleiben zusammen- und beisammen sein getrennt geschrieben werden müßte. Laut ursprünglicher Fassung wäre das erste eine Zusammensetzung, das zweite eine Wortgruppe. Um diesen allzu offensichtlich auf die Schreibweise gegründeten Zirkelschluß zu vermeiden, ist in der Neufassung nicht mehr von „Zusammensetzung“ die Rede, aber das ist nur ein Trick, der die grundsätzlich verfehlte Auffassung der Verbzusatzkonstruktionen verschleiern soll.

Es wäre fatal, wenn bloß um der äußeren Form der Neuregelung willen der sinnlose Paragraph 35 beibehalten würde.

Nachdem die Neufassung endlich ins Netz gestellt worden ist, sollten die zweifellos eintreffenden Beobachtungen der interessierten Öffentlichkeit in einem geregelten Verfahren berücksichtigt werden und in die nochmalige Überarbeitung eingehen.

In diesem Zusammenhang ist eine der letzten Äußerungen der Zwischenstaatlichen Kommission in Erinnerung zu rufen: der „Ergänzende Bericht vom18.05.2004“. Er schließt mit folgenden Worten:

„[Die Kommission möchte] festhalten, dass die Diskussion in den Jahren seit der Einführung des neuen Regelwerkes und nicht zuletzt auch die Gespräche mit Vertretern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gezeigt haben, dass der Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung äußerst schwierig in Regeln zu fassen ist, weil sich ständig neue Entwicklungen ergeben. Eine fortlaufende Beobachtung der Sprachentwicklung ist ebenso unerlässlich wie weitere gelegentliche Anpassungen des Regelwerks. In diesem Sinne muss der Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung in ganz besonderer Weise (ähnlich wie die Entwicklung der Fremdwortintegration) sowohl offen als auch außerhalb jeder rigiden Ahndung im schulischen Bereich bleiben. Getrennt- und Zusammenschreibung kann auf Grund seiner [sic!] Komplexität, Kompliziertheit und Offenheit nicht Gegenstand eines eng normierenden schulischen Rechtschreibunterrichts bzw. schulischer Fehlerkorrektur sein.“

Nach den Erfahrungen von mehr als hundert Jahren sollte der Staat am besten ganz darauf verzichten, diesen Bereich zu regeln.


Den Beitrag und dazu vorhandene Kommentare finden Sie online unter
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=145