20.03.2012


Theodor Ickler

Festung Europa

Eurolinguistik als ideologische Aufrüstung

Aus den bescheidenen Anfängen einer Wirtschaftsgemeinschaft europäischer Staaten ist ein Staatenbund hervorgegangen, der trotz auseinanderstrebender Interessen und kritischer Phasen immer mehr als wirtschaftliche und politische Einheit handelt und von der übrigen Welt auch so wahrgenommen wird.
Spielte anfangs neben den wirtschaftlichen Interessen der Friedenswille eine Hauptrolle, so ist mit zunehmendem Abstand vom Zweiten Weltkrieg und dem Heranwachsen mehrerer Generationen ohne Kriegserfahrung das Bedürfnis entstanden, „Europa“ oder, wie man gern sagt, die „europäische Idee“ anders zu begründen. Neben die greifbaren Vorteile der europäischen Einigung – die erweiterten Wirtschafts- und Rechtsräume, die Durchlässigkeit der Grenzen, zuletzt auch die gemeinsame Währung usw. – treten Faktoren, die notwendigerweise eher ideologischer Art sind. Eine „europäisches Bewußtsein“ soll geschaffen werden, sogar ein „Stolz auf Europa“, der als nichtaggressive Variante des früheren Nationalstolzes gilt. Am häufigsten ist wohl von der „europäischen Identität“ die Rede, die entweder aufzuspüren und aus der Geschichte herzuleiten oder allererst zu schaffen sei. Partikularinteressen werden durch das Schlagwort „Europa der Regionen“ aufgefangen.
Dieses Programm hat auch in die Lehrpläne Eingang gefunden. Schon im Kindergarten singen die Jüngsten „Kleine Europäer“ von Rolf Zuckowski („Europa - Kinderland, wir geben uns die Hand“ usw.). Die „Herausbildung eines Europäischen Bewusstseins in der Schule“ ist Teil einer von der KMK festgelegten „Europabildung in der Schule“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. 6.1978, erneuert am 5. 5. 2008). Aus einer Besinnung auf „ein gemeinsames historisches Erbe und eine gemeinsame kulturelle Tradition“ (KMK) soll irgendwie eine Verpflichtung hergeleitet werden. Die Frage, ob Frieden, Demokratie usw. überhaupt „Lernziele“ sein können, soll hier nicht weiter erörtert werden. Zwischen der „Besinnung“ auf gemeinsame Herkunft und der Verpflichtung auf gemeinsame Zukunftsaufgaben vermittelt oft noch der „Stolz auf Europa“.
Die Leitlinien der KMK begründen nicht, warum die Erziehung zu Demokratie, Menschenrechten, Toleranz usw. – eigentlich universale Ziele – auf Europa beschränkt sein soll. Die Besonderheit Europas wird vorausgesetzt. „Ziel der pädagogischen Arbeit an Schulen muss es sein, in den jungen Menschen das Bewusstsein einer europäischen Identität zu wecken und zu fördern.“ Aber nicht nur Europa „wächst zusammen“. Die Beteiligung außereuropäischer Unternehmen und Staaten an europäischen Firmen schreitet rasch voran. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik sprechen in der ganzen Welt dieselbe Sprache (buchstäblich verstanden ein amerikanisch geprägtes Englisch; aber selbst in den Nationalsprachen entspricht dem eine einheitliche Begrifflichkeit), der Austausch des Personals kennt keine nationalen und kontinentalen Grenzen mehr. Auch die kulturellen „Mittlerorganisationen“ wie Goethe-Institut, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Pädagogischer Austauschdienst und Alexander-von-Humboldt-Stiftung arbeiten weltweit und nicht auf Europa beschränkt. Für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und ähnliche Einrichtungen gibt es ohnehin keine europäische Begrenzung. Man kann natürlich europäische Austausch- und Förderprogramme (COMENIUS u. a.) organisieren und aus entsprechenen Geldquellen finanzieren, aber das macht „Europa“ nicht zu einer mehr als organisatorischen Einheit.
Englisch ist zwar auch die Sprache Englands und Irlands, aber gelernt wird es als Weltsprache, nicht zuletzt als Sprache der USA. Nur dies erklärt seinen uneinholbaren Vorsprung vor allen anderen europäischen Sprachen.
Die Europa-Idee wird oft als Antwort auf die Globalisierung dargestellt. Daher rührt eine gewisser defensiver Ton mancher Argumente.
Es überrascht kaum, wenn auch die Sprachwissenschaft von dieser Entwicklung profitieren will. Projekte, die „Europa“ im Titel führen, dürfen auf Fördermittel hoffen wie sonst nur noch „Gender“-Studien. Am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim läuft seit Jahren ein Projekt „Deutsche Grammatik im europäischen Vergleich“. Deutsch wird mit Englisch, Französisch, Polnisch und Ungarisch verglichen, bei Bedarf auch mit den übrigen Sprachen Europas. Ein systematischer innerlinguistischer Grund für diese Auswahl ist nicht zu erkennen. In der Projektbeschreibung heißt es: „Das Projekt soll auch einen Beitrag zum europäischen Sprachbewusstsein und zur kulturellen Identität Europas leisten.“ Eine Fülle von Texten hat die sogenannte „Eurolinguistik“ hervorgebracht. Der Begriff wird auf Norbert Reiter (1991) zurückgeführt, der Slawist und und Balkanologe war; auch der Herausgeber des „Handbuchs der Eurolinguistik“, Uwe Hinrichs, ist in dieser Richtung spezialisiert – kein Zufall, denn eine der Grundlagen der Eurolinguistik ist die Sprachbundtheorie, die nach Vorläufern wie Hugo Schuchardt vor allem von Nikolai Trubetzkoy an Balkansprachen entwickelt wurde. Sie besagt, daß Sprachen nicht nur durch gemeinsame Herkunft und typologisch miteinander verwandt sein, sondern auch durch Sprachkontakt einander ähnlich werden können. Das geschieht heute sowohl grammatisch als auch insbesondere semantisch, aber eben gerade heute nicht nur in Europa, sondern weltweit.

Zu den Zielen der Eurolinguistik gehören nach Hinrichs (932):
Entwurf eines europäischen Sprachbundes
Primat der sprachlichen Gemeinsamkeiten (Konvergenz) vor den Unterschieden (Divergenz)
Förderung eine europäischen Bewusstseins
Forderung nach Institutionalisierung der Eurolinguistik in Europa

Es werden noch weitere Ziele dieser Art aufgezählt.
Daß die europäischen Sprachen einen Sprachbund bilden, wird also bereits zu den Voraussetzungen gerechnet. Der Vorrang der Gemeinsamkeiten vor den Unterschieden ist systematisch nicht gerechtfertigt, sondern vom Wunsch nach einem Beweis der Einheit geleitet.
Bildungs- und Fachsprachen greifen in unterschiedlichem Maße auf das lateinische und griechische Material zurück. Das sind zwar europäische Sprachen, aber der Begriff „Eurolatein“ (womit das Griechische gleich mitgemeint ist) ist dennoch irreführend, weil die wichtigste Vermittlungssprache, das Englische, eben schon längst keine rein europäische Sprache mehr ist.
Der Versuch, die europäischen Sprachen durch linguistische Merkmalskataloge als Einheit zu erweisen, hat bisher nicht zu überzeugenden Ergebnissen geführt.
Zu den europäischen Gemeinsamkeiten („Europemen“) sollen u. a. gehören:
Die Zahl der Phoneme liegt zwischen 10 und 110.
Die Zahl der Kasus liegt zwischen 0 und 30.
Indikativ, Imperativ und Konditional unterscheiden sich formal.
Nomen unterscheiden sich formal von Verben.

Damit ist praktisch nichts gesagt. Es gibt auf der Welt nur sehr wenige Sprachen, die mehr als 110 Phoneme haben („Natürliche menschliche Sprachen haben zwischen 10 und etwa 80 Phonemen. Pirahã ist dabei – nach allerdings umstrittenen Analysen – mit 10 Phonemen die phonemärmste Sprache der Welt, ǃXóõ mit 141 Phonemen die wohl reichste.“ Wiki s. v. Phonem)

Die Mindestzahl an Kasus ist 2, es scheint aber nach dem Postulat auch europäische Sprachen ohne Kasussystem zu geben, womit dieses Kriterium praktisch entfällt, denn es besagt nichts anderes, als daß es europäische Sprachen mit und ohne Kasus gibt – das ist aber bei den übrigen Sprachen der Welt ebenso.

(wird fortgesetzt)


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