29.03.2013


Theodor Ickler

Homunkulus

Zur Kritik des Kognitivismus

Aktiv oder passiv – eine sinnlose Unterscheidung

Besonders in der kognitivistischen Kritik am Behaviorismus hat sich ein Gemeinplatz ausgebreitet, der vom „rattomorphistischen“ Welt- und Menschenbild der Behavioristen das angeblich humanere der Kognitivisten abzuheben versucht. Das meistbenutzte Begriffspaar lautet „aktiv“ vs. „passiv“:

„Fest steht (...), daß Sprachwahrnehmung kein passiver oder bloß rezeptiver Aufnahme- und Decodierungsvorgang ist, sondern in allen Phasen (auch den peripheren, vermeintlich rein sensorischen) aktive Konstruktions- und Vergleichsprozesse involviert.“ (Clemens Knobloch in Glück 1993:589)
„Dieses Tätigkeitsmodell [der sowjetischen Psychologie] unterscheidet sich grundlegend vom bloßen passiven Reagieren auf äußere Stimuli (wie etwa im Behaviorismus)“ ... (Wolfgang Heinemann/Dieter Viehweger: Textlinguistik. Tübingen 1991:61)

Gerhard Helbig wertet kindersprachliche Übergeneralisierungen oder Analogiebildungen als Zeichen dafür, daß Spracherlernung keine „bloße Nachahmung“, „keine passive Nachahmung“ sein könne, sondern „aktive, abstrahierende Tätigkeit“, „aktives, schöpferisches Verhalten“, „aktive psychische Prozesse“ (Sprachwissenschaft - Konfrontation - Fremdsprachenunterricht. Leipzig 1981).

„Die Behavioristen nehmen an, daß Lernen passiv unter der Kontrolle externer Stimuli erfolgt. (...) Es ist klar, daß über externe Stimuli nur wenig, wenn überhaupt bedeutungsvolles Lernen bewirkt wird.“ (Ashgar Iran-Nejad in Siegfried J. Schmidt, Hg.: Gedächtnis. Frankfurt 1992:238f.) Dagegen stellt der Verfasser „die zentrale interne Steuerungsinstanz des Informationsverarbeitungssystems“ (240). „Aktive Steuerung ist Steuerung auf der Ebene des Ganzen, sie ist der Typ von Steuerung, der von einem Ganzen auf dessen einzelne Teile ausgeübt wird.“ (241)
„Daß Textverstehen kein passives Aufnehmen von Information, sondern ein höchst aktiver Vorgang 'im Kopf' ist, ist im letzten Jahrzehnt (...) durch die Gedächtnispsychologie und Psycholinguistik verdeutlicht worden.“ (Gerhard Neuner in Ders., Hg.: Kulturkontraste im DaF-Unterricht. München 1988:11)

Kognitivisten legen Wert auf die Aktivität als Merkmal der von ihnen untersuchten Vorgänge:
„Anpassung ist, wie alle Gegenstände der Psychologie, ein aktiver Prozeß.“ (Mario von Cranach u.a.: Zielgerichtetes Handeln. Bern 1980:79)
Auch nach Ulric Neisser ist Sehen ein „aktiver Prozeß“ (Ulric Neisser: Kognitive Psychologie. Stuttgart 1974)
„Hören ist kein passiver, sondern ein sehr aktiver Vorgang. (...) Der Text schickt Signale aus, die den Hörer auffordern, seinem Gedächtnis Inhalte zu entnehmen. (...) Verstehensstrategien sind problemorientierte, erlernbare (also auch lehrbare), bewußt einsetzbare, durch häufigen Gebrauch aber auch automatisierbare Techniken der effizienten Texterschließung.“ (Gert Solmecke: „Ohne Hören kein Sprechen“. Fremdsprache Deutsch 1992:4-11)
„Verstehen ist kein passives Aufnehmen von Information, sondern ein aktiver Prozeß, in dem die Lernenden eigenes Wissen, eigene Lese- und Verstehensstrategien einsetzen.“ (Hans Jürgen Krumm in Fremdsprache Deutsch 1990:20)
„Bereits damals (zu Beginn der modernen Spracherwerbsforschung Ende des 19. Jahrhunderts) gab es heftige Kontroversen über die Frage, ob Kinder ihre Sprache passiv durch Imitation oder kreativ und aktiv durch Verstehen der Umwelt lernen. (...) Behavioristisches Lernen beschreibt den Lernvorgang als Imitation und passiv erduldete Dressur. (...) Die Steuerung erfolgt auschließlich exogen. Am Anfang ist der Lerner eine Art tabula rasa. (...) Vor allem (...) findet die Art von kreativer Verarbeitung, die sehr charakteristisch für Sprachenlernen ist, im behavioristischen Ansatz keinen Platz. Hier bleibt der Lerner passiv. (...) Die Leistung des menschlichen Gehirns besteht nicht nur in einem passiven Registrieren von Sinneseindrücken, sondern auch und vor allem in ihrer Aufarbeitung und vielfältigen Koordinierung. (...) Es ist wichtig zu erkennen, daß das Gedächtnis in starkem Maße selbst aktiv werden und Informationen eigenständig verarbeiten kann.“ (Henning Wode: Psycholinguistik. München 1993)
„Lernen erfolgt nicht passiv, sondern ist ein aktiver Vorgang, in dessen Verlauf sich Veränderungen im Gehirn des Lernenden abspielen.“ (Manfred Spitzer: Lernen. Heidelberg 2002:4)
„Nun weiß man aber sowohl aus Untersuchungen des Erstspracherwerbs als auch aus solchen des Zweit- bzw. Fremdspracherwerbs, dass der Lerner den sprachlichen Input nicht nur passiv aufnimmt, sondern dass er ihn aktiv verarbeitet und in seine Wissensstruktur integriert. Sprachenlernen kann damit als ein kontinuierlicher kreativer Prozess des Bildens, Testens und Revidierens von Hypothesen über die Regularitäten der zu lernenden Sprache gelten.“ (Maria Thurmair: Die Rolle der Linguistik im Studium Deutsch als Fremdsprache. gfl 2/2001)

Hans Lenk verbreitet den ganzen Unsinn vom „aktiven“ Konstruieren anstelle des „passiven“ Ablesens, wie es der Behaviorismus angeblich angenommen habe. (Von Deutungen zu Wertungen. Frankfurt 1984:93) „Helmholtz' unbewußte 'Deduktion' ist wohl heute zu ersetzen durch Hypothesen- oder Interpretationsbildung und muß auf aktive, unterbewußte Verarbeitung bezogen werden.“ (94) „Wahrnehmung ist also konstruktiv im Sinne einer zentralnervösen Tätigkeit, sie ist eine Gehirntätigkeit, eine aktive Konstruktionstätigkeit.“ (95) „Es ist nicht damit getan, daß bei der Wahrnehmung etwas Externes einfach reproduziert, abgebildet wird. Die Kamera- oder Abbildtheorie der Wahrnehmung ist ebenso wie die bloße Reiztheorie falsch. Es handelt sich beim Wahrnehmen stets um ein aktives Selektieren, Strukturieren, Konstruieren oder wenigstens um ein Rekonstruieren.“ (103)
Norbert Groeben u. a. heben immer wieder hervor, daß ihr Forschungsprogramm Subjektive Theorien den Menschen als „aktiv“ oder „aktiv konstruierend“ betrachte, im Gegensatz zum Behaviorismus, der den Menschen mechanistisch als außengesteuertes Objekt angesehen habe. (Norbert Groeben u. a.: Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Tübingen 1988:S. 6; 13 u.ö.

Hallpike stellt eine auf Piaget aufbauende Ethnologie dar. Die empiristische Lerntheorie betrachte Wissen nur als „passive Reproduktion von Sinneseindrücken“ (Christopher R. Hallpike Die Grundlagen primitiven Denkens. München 1990:16). Dagegen stellt er den Piagetschen Konstruktivismus:
„Menschen handelten nicht aufgrund eigener Ideen oder Intentionen so, wie sie handelten, oder weil ihre kognitive Ausstattung bestimmte autonome Strukturierungstendenzen verkörperte, sie spiegelten vielmehr passiv verschiedene Kräfte und Faktoren ihrer Umwelt wider.“ (Howard Gardner: Dem Denken auf der Spur. Der Weg der Kognitionswissenschaft. Stuttgart 1989:23 über den Behaviorismus) „Bransfords Ergebnisse zeigen kein passives, mechanisches Erinnern, sondern weisen darauf hin, daß Versuchspersonen Information aktiv und konstruktiv verarbeiten und Bedeutungen erschließen, statt sich an bloße Wortreihen zu erinnern.“ (ebd.139)
„Der Prozeß der Sprachaneignung ist jedoch kein passives Aufnehmen vorgefundener Sprachmittel und -strukturen, sondern ein durchaus eigenständiger Nachvollzug der Sprache durch das Kind.“ (Gabriele Pommerin in „Zielsprache Deutsch“ 1982:3)
„Der Hörer ist (...) nicht nur ein passiver Empfänger, der entweder richtig oder falsch versteht. Vielmehr ist Verstehen ein aktiver kognitiver Prozess eines Individuums, das eigene Ziele verfolgt, die sich im Normalfall von denen des Sprechers unterscheiden.“ (Klaus-Peter Wegera/Sandra Waldenberger: Deutsch diachron. Eine Einführung in den Sprachwandel des Deutschen. Berlin 2013:242)
„Until recently, it was assumed that an individual played a passive role in conditioning, with associations formed and strengthened automatically by the reinforced pairing of stimulus events and behavior manipulated predictably by environmental events. What was learned was assumed to be fixed associations and specific responses.“ (Philip G. Zimbardo: Psychology and life. Glenview 1988:294)
Etwas anders drückt Felix denselben Gedanken aus:
„Die Nativisten sehen den Menschen eher als einen agierenden und weniger als einen reagierenden Organismus an.“ (Sascha W. Felix: Psycholinguistische Aspekte des Zweitsprachenerwerbs. Tübingen 1982:188)

Wie sich bereits andeutete, mischen viele Autoren ihrer Darstellung einen teils polemischen, teils werbenden Ton bei und rücken die angeblich inhumanen Behavioristen auch moralisch ins Zwielicht. Helbig sagt mit dem Blick auf die „Überwindung“ des Behaviorismus durch die generativistische Theorie:
„Man erkannte wieder (...), daß die Lernenden einen Kopf haben, die Lehrer keine Tiertrainer, die Schüler keine Zirkuspferde sind.“ (Sprachwissenschaft - Konfrontation - Fremdsprachenunterricht. Leipzig 1981:35)
Monika Schwarz wählt in ihrem recht naiven Überblick über den Werdegang der Psychologie (vom Behaviorismus über einen durch Chomsky eingeleiteten „Paradigmenwechsel“ zur Kognitiven Psychologie) ihre Worte so, daß der Mentalismus gleichsam vornehmer dasteht als der platte Behaviorismus: Der Mentalismus nimmt „zielgerichtete Aktivitäten“ an statt „kausaler Mechanismen“, die auf „simple Reiz-Reaktions-Kontingenzen“ hinauslaufen usw. (Kognitive Semantiktheorie und neuropsychologische Realität. Tübingen 1992:12f.)

Das Beharren auf dem „Kreativen“ am Spracherwerb nimmt manchmal geradezu religiös-inbrünstige Züge an:
„The cognitive process of learning appreciates the real human characteristics of man: he is not locked within his habits; he possesses a creative force which expresses itself not only in his philosophical thinking and in his art, but also in his language: every sentence he speaks originates from a receptacle which has openness. It is a creative linguistic act, which remains within the system of rules (rulegoverned creativity).“ (L. K. Engels in Christoph Gutknecht, Hg.: Grundbegriffe und Hauptströmungen der Linguistik. Hamburg 1977:286)
John Searle sieht Chomskys größten Beitrag auf lange Sicht darin, „daß er einen wichtigen Schritt zu einer Rehabilitierung der traditionellen Auffassung von der Würde und der Einzigartigkeit des Menschen getan hat.“ („Chomskys Revolution in der Linguistik“, in: Günter Grewendorf/Georg Meggle, Hg.: Linguistik und Philosophie. Frankfurt 1974:404-438, S. 438)

Dazu paßt, daß der Behaviorismus durchgehend falsch als „Reiz-Reaktions“-Theorie dargestellt wird. Leo Montada zum Beispiel behauptet, der Empirismus – Skinner wird ausdrücklich erwähnt – halte den Organismus für passiv. „Das Menschenbild des Empirismus ist ein mechanistisches, das Piagets ein organismisches. Modell des ersteren ist die Maschine, mechanischen Funktionsgesetzen gehorchend, in Ruhe bis ein äußerer Impuls den Anstoß zur Bewegung gibt.“ Laut Behaviorismus bilden sich passive Widerspiegelungen und Assoziationen usw. („Piaget und die empiristische Lernpsychologie“. In: Piaget und die Folgen. München 1978: 290ff.) Das entspricht einem Irrtum, der auch sonst weit verbreitet ist. Mit der Ausspielung des „Organismischen“ gegen das „Mechanistische“ kann man vor allem in Deutschland leicht einen rhetorischen Vorsprung gewinnen.

Die entscheidende Kritik an der kognitivistischen Darstellung geht nicht von der Tatsachenfrage aus, ob ein Prozeß oder ein Organismus „aktiv“ oder „passiv“ sei, sondern weist sie aus begrifflichen Gründen zurück. In diesem Sinne hat auch Theo Herrmann schon gefragt, wodurch sich ein aktiver Prozeß von einem passiven unterscheide. („Über begriffliche Schwächen kognitivistischer Kognitionstheorien: Begriffsinflation und Akteur-System-Kontamination“. Sprache und Kognition 1:3-14; S. 5) (Herrmann selbst hat sich allerdings in späteren Arbeiten nicht an seine eigene Kritik gehalten.) Ein Sieb hält „aktiv“ die größeren Körner zurück und läßt „passiv“ die kleineren passieren – das ist offenbar keine sinnvolle Unterscheidung. Der Stoffwechsel, ein wesentlicher Teil des Lebens, kann weder aktiv noch passiv genannt werden, er findet einfach statt, ebenso die Informationsverarbeitung im Nervensystem. Es ist verfehlt, Handlungsbegriffe auf subpersonale Vorgänge anzuwenden. Man gerät dadurch unweigerlich in eine überholte und nutzlose Homunkulus-Psychologie.


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