20.05.2013


Theodor Ickler

Sprachmagie

Definitionsmacht der Psychiatrie

Zur Zeit gibt es heftigen Streit um die Definitionsmacht der Psychiatrie und ihre Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, aber auch auf das allgemeine Bewußtsein und den Sprachgebrauch.
Auslöser ist die Neuauflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). Kritiker haben u. a. den Verdacht, daß die Pharmaindustrie zu viel Einfluß hat, weil ihr daran liegt, Medikamente an Menschen zu verkaufen, die normalerweise nicht für krank erklärt worden wären. Die Ansichten darüber, was disorders sind, wandeln sich. Es handelt sich wenigstens teilweise um Gruppenleistungen vom Typ des Bestimmens (nach Hofstätter, vgl. www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1450). Man pflegt aber die Illusion, es sei eine von Experten zu definierende Größe, wie die körperlichen Krankheiten, auf die das weitgehend zutrifft. Am DSM sind so viele Experten beteiligt, daß die Verantwortung sich zersplittert, es geht um eine Mischung aus Gruppenleistungen unter „Experten“, deren Zuständigkeit vorab angenommen wird.
Ob es zutrifft oder nicht, man hat dem neuen Handbuch vorgehalten, daß es bereits von einer behandlungsbedürftigen Depression spricht, wenn jemand nach dem Verlust seines Partners länger als zwei Wochen trauert.
Es ist seit langem bekannt, daß Krankheiten sich schnell ausbreiten, sobald sie einen Namen bekommen haben. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom war so ein Fall, ebenso der Burn-out, (und die Midlife-Crisis), die Legasthenie, die bipolare und die allgegenwärtige narzißtische Störung. Diese Erscheinungsform von Sprachmagie hat Leisi als „Hypostasierung“ bezeichnet, anders gesagt: Wo ein Wort ist, muß es doch auch die Sache geben; das setzen wir voraus, weil es eben ganz wesentlich für das Funktionieren der Sprache ist und von Kindern zuallererst gelernt wird. Bei körperlichen Erscheinungen sind weniger diese selbst als ihre Deutung eine solche Gruppenleistung (etwa „Adipositas“ oder „Cellulitis“). Hinter jedem dieser Wörter steckt ein riesiger Markt. Man kann natürlich immer an sich herumdoktern, weil irgendwelche Blutwerte, der Body-Mass-Index usw. nicht einem irgendwo definierten Ideal entsprechen. Früher wußte jeder, daß man sich nicht immer vollkommen wohl fühlt, aber daß auch wieder bessere Zeiten kommen. Heute sehen wir gleich nach, ob das Ding was Ernstes ist und was man dagegen einnehmen kann. Die regelmäßige Lektüre der Apotheken-Rundschau ist Bürgerpflicht, und der seriöse, „vernünftige“ Stil läßt fast vergessen, daß es ein Werbemagazin ist.
Die irrsinnig übersteigerte Definition von „Gesundheit“ durch die WHO ist der allgemeine Hintergrund.
Hirnforscher behaupten gern, ihre Arbeiten veränderten unser Bild vom Menschen. Aber die Psychiatrie ist viel einflußreicher, wie in der Diskussion um das DSM sichtbar wird. Auch die Sprache wird stärker durch Psychologen und Psychiater verändert als durch Neurologen.


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