04.08.2013


Theodor Ickler

AcI

Zur Diathesenindifferenz des Infinitivs

Kaum eine Form haben die Grammatiker in den letzten Jahrzehnten so eingehend erforscht wie den Infinitiv. Dazu möchte ich hier nur eine kleine Beobachtung beitragen.

In Seminaren besprechen wir Germanisten gern solche Beispiele wie:

Wir lassen die Suppe auftragen.
Wir lassen den Kellner auftragen.


Eine Koordination ist nicht möglich, wir sind ja keine Kannibalen. Ich sehe auch mal von den Betonungsunterschieden ab, die im Normalfalle zu beobachten sein werden.

Man könnte den ersten Satz so deuten, als sei der eigentliche Agens, also das Subjet zum Infinitiv, einfach ausgelassen:

Wir lassen (den Kellner) die Suppe auftragen.

Das ist zweifellos möglich, aber nicht zwingend:

Wir lassen die Suppe vom Kellner/durch den Kellner auftragen.

Die Angabe des Agens mit dem passivtypischen von/durch nötigt dazu, dem Infinitiv eine passivische Bedeutung beizulegen. Das scheint recht sonderbar, aber historisch ist der Infinitiv tatsächlich ein diathesenindifferentes Verbalnomen. So steht es auch in den älteren Grammatiken. Ein Fall, den man besonders häufig finden wird, ist:

Minderjährige lassen die Bescheinigung von ihren Eltern unterschreiben.

Jürgen Kunze bringt ähnliche Fälle, bestreitet aber, daß sie außerhalb von Konstruktionen mit lassen vorkommen. Das ist aber nicht richtig:

Das schönste Eichenholz habe ich verarbeiten sehen.

Ich sah ein Kind zu Grabe tragen.


(beides aus Goethe Hbg. Ausgabe 11:79 bzw. 340)

Auch hier wäre sicher eine Agensangabe denkbar. (Mir fehlen noch gute Belege.)

Es führt kein Weg daran vorbei, eine passivische Lesart des Infinitivs anzunehmen.


Den Beitrag und dazu vorhandene Kommentare finden Sie online unter
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1571