27.10.2013


Theodor Ickler

Wie ärgert man eine perfekte Sekretärin?

Aus einer Festschrift

Vor einigen Jahren war eine hochverdiente Institutssekretärin, heftige Gegnerin der Rechtschreibreform, in den Ruhestand zu verabschieden. Ich rücke hier meinen Beitrag zu einer kleinen "Festschrift" ein, die wir damals überreicht haben.


Wie ärgert man eine perfekte Sekretärin?

Die perfekte Sekretärin aus der Ruhe zu bringen ist keine leichte Aufgabe. Alles hat sie schon erlebt, mit allem ist sie fertig geworden. Die Beredsamkeit beredter Komitees schreckt sie nicht. Andere Zeitgenossen, sogar ihre wechselnden Chefs, sind unterderhand längst über brillante Verwandte gestolpert, in Grießbrei mit Preiselbeeren steckengeblieben oder in das schreckliche Verlies gestürzt – nicht so die perfekte Sekretärin. Sie weiß, wie man all dies richtig schreibt, und dabei sind es nicht einmal ihre eigenen Texte, die sie zu Papier bringt. In die Wiege gelegt wurde ihr das nicht, sie hat es sich erarbeitet. Hier muß man also ansetzen, wenn man sie schikanieren will.

Wie macht man das? Man ändert mal eben die amtliche Rechtschreibung. Nun wäre es gar zu einfach, die bekannten Stolpersteine durch neue zu ersetzen – das würde jeder sofort bemerken, erst recht die perfekte Sekretärin. Nein, man muß dort ansetzen, wo es bisher überhaupt keine Zweifel gab, wo nichts nachzuschlagen und nichts auswendig zu lernen war. Wer würde auf den Gedanken kommen, daß leid tun und sogenannt und Stengel und Zierat überhaupt nicht mehr zulässig sind?

Noch tückischer wirkt sich die vermeintliche Großzügigkeit der neuen Regeln aus. Die Reformer fragten seinerzeit mit gespielter Fürsorglichkeit: „Woher soll die Sekretärin, die nicht mit der lateinischen Sprache vertraut ist und diskrepant wie deskriptiv mit gleich kurzer Silbe ausspricht, den bisherigen Unterschied in der Silbentrennung wissen?“ (Der Deutschunterricht 1955, S. 101) Tja, woher wohl? Wieviel Geringschätzung liegt allein schon in dieser Frage! Die perfekte Sekretärin weiß das eben und noch viel mehr, aber sie muß die bittere Lehre schlucken, daß ihr das alles nicht viel nutzt. Zwar darf sie weiterhin Re-spekt, ab-rupt, Dia-gnose trennen, aber diese kunstreichen Trennungen sind – so teilt Vater Staat ihr mit – um keinen Deut besser als Res-pekt, a-brupt, Di-agnose oder Diag-nose. Wozu also die ganze Mühe? Es war alles für die Katz. Die Rechtschreibreform entwertet das Betriebskapital der Sekretärin, und zwar um so mehr, je perfekter sie ist.

Indessen, der Feldzug gegen die Sekretärinnen ist noch nicht zu Ende. Man läßt die neuen Regeln in immer kürzer werdenden Abständen durch immer neue Gremien ändern. Das nennt sich „Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung“. Die perfekte Sekretärin hat sich jahrelang über diesen Schabernack geärgert. Inzwischen gibt es vier Rechtschreibduden, alle ganz verschieden und alle „gültig“. Sie schlägt nicht mehr nach. Gelassen darf sie dem frivolen Spiel zusehen, weil sie sich ohnehin in den nicht nur wohl verdienten, sondern wirklich und wahrhaftig wohlverdienten Ruhestand verabschiedet.


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