05.02.2014


Theodor Ickler

brauchen

Ergänzende Beobachtungen zu den Gebrauchsbedingungen

Bekanntlich wird brauchen nach und nach ins Paradigma der Modalverben hineingezogen. Das ist eine Folge seiner Verwendung als Gegensatz zu müssen, sollen. Äußeres Zeichen sind der Wegfall von zu und die Angleichung der Form an die übrigen Modalverben (Präteritopräsentien):
er brauch nicht kommen (ohne t und ohne zu). (Hunderte von Belegen bei Google.) Auf die Unaufhaltsamkeit dieser Entwicklung hat vor 100 Jahren schon Paul Kretschmer hingewiesen.

So weit, so gut. Die meisten Wörterbücher geben an, daß dieses MV brauchen nur mit Negation vorkomme, etwas besser im Band 9 des Duden: negiert oder durch Wörter wie erst usw. eingeschränkt.

Hier ein Beispiel aus meiner eigenen Sammlung:

Erst das fertige Produkt hätte syllabiert zu werden brauchen. (Theo Vennemann: Neuere Entwicklungen der Phonologie. Berlin 1986:14)

Diese einschränkenden Elemente hat Wilfried Kürschner "Negativoide" genannt: nur, lediglich, kaum, selten, wenig und noch ein paar.

Aber darüber hinaus kommt es ohne Negation auch in Fragen vor:

Nein – zu was braucht er das zu wissen! (Nestroy, Lumpazivagabundus III,11)

Brauchst du das zu fragen? (Schnitzler, Reigen: Der Gatte und das süße Mädel)

Wozu das alles? Wozu brauche ich das zu wissen? Einmal muß ich ja doch sterben. Ob es wirklich einen Himmel gibt? (Robert Kraft: Eine kurze Lebensbeschreibung)

Doch was brauche ich das zu schreiben? (Karoline von Günderode, Brief an Creuzer vom 26.6.1805)

Braucht man etwa zu wissen, woher die Fee ihren Reichtum nimmt? (FAZ 8.7.2000)

Das sind rhetorische Fragen, die eine negative Antwort erwarten lassen.

Anna Wierzbicka hat in einem anderen Zusammenhang die neue Kategorie "Ignorativ" gebildet, die Negation und Frage umfaßt. Dazu muß man wohl auch das folgende rechnen:

Er hat in jenen Jahren nichts geschrieben, dessen er sich hätte später zu schämen brauchen. (FAZ 23.2.74)

Nach Paul hat nicht brauchen im 19. Jhdt. nicht dürfen ersetzt. Es ist ein Fortschritt an Deutlichkeit, erst im 18. Jahrhundert aufgekommen. (Paul: Dt. Grammatik IV:99)


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