12.02.2014


Theodor Ickler

Grammatische Exerzitien 2

Infinitivkonstruktionen

Vorläufige Übersicht

1. Der reine Infinitiv
2. Der Infinitiv mit zu
3. Der Infinitiv mit um zu usw.


1.Der reine Infinitiv
Der reine Infinitiv wird als Befehlsform anstelle eines Imperativs gebraucht:
Aufstehen!
Obwohl der Agens sonst beim Infinitiv nicht genannt wird, kann er zum auffordernden Infinitiv hinzugefügt werden:
Alle mal herhören!
Wer dafür ist, bitte die Hand heben.


Der reine Infinitiv (ohne zu) steht bei

werden als Hilfsverb (periphrastisches Futur).

Modalverben (s. d.)

als freier finaler Infinitiv
Sie kommt die Koffer holen.
Aber meistens sitze ich natürlich im italienischen Eiscafé Teenager beobachten.
(Eckhard Henscheid: Geht in Ordnung. Frankfurt 1981:20)
Dieser finale Infinitiv wird immer häufiger durch die eindeutigere Konstruktion mit um zu abgelöst.
Fortbewegungsverben und sein mit finalem Infinitiv:
Er geht einkaufen.
Ganz Breslau scheint hier einkaufen zu sein.
Immer wenn ich einkaufen bin, bringe ich meinen beiden Kaninchen etwas mit.
Das Mädchen war Haare schneiden.

Andersartig sind Verbindungen wie spazierengehen, -fahren, -reiten usw., die nicht das Ziel, sondern die Art des Gehens usw. ausdrücken.

bleiben (vor allem mit Positionsverben):
Die Uhr bleibt stehen.
Der Schüler bleibt sitzen.
lernen
Er lernt schwimmen.
Sie lernt den langsamen Walzer tanzen.

Hier steht fakultativ auch der Infinitiv mit zu, vor allem bei umfangreicheren Gruppen.
Andersartig ist kennenlernen, das die Anfangsphase des Kennens bezeichnet und stets ohne zu verwendet wird: *er lernt sie zu kennen.

als AcI bei
Wahrnehmungsverben
Ich sah ihn kommen.
Er spürt sein Herz klopfen
. (Burkhard Spinnen: Belgische Riesen. Frankfurt 2000:209)

lassen, haben
Zum Glück hatte die alkoholisierte Frau ein Handy einstecken.
(NN 18.3.03)
Hauptkommissar Jürgen Reeg hat immer wieder Jugendliche vor sich sitzen, die beim Sprayen erwischt wurden. (NN 15.1.04)
„Wir haben das Wartezimmer voll sitzen und werden bestimmt noch bis abends um acht zu tun haben“, berichtete Kinderärztin Friederike Hanke gestern Nachmittag. (Wolfsburger Nachrichten 20.9.08)
Seine Familie hatte mehrere Angehörige im Ausland leben. (Helmut Wilhelm: Gesellschaft und Staat in China. Reinbek 1960:92)
Jukundus hatte in einem Gasthaus ein Pferd stehen (Gottfried Keller: Das verlorene Lachen. München o. J.:61)
Schließlich hat das Stuttgarter Unternehmen schon seit März 1986 in 30 deutschen Großstädten rund 40 rußarme Diesel-Busse laufen. (SZ 3.3.88)
Regional steht hier auch der Infinitiv mit zu:
Er hat ein Lexikon im Schrank zu stehen.

Der Infinitiv ist in einigen AcI-Konstruktionen nicht auf Aktiv oder Passiv festzulegen, er ist diathesenindifferent:
Das schönste Eichenholz habe ich verarbeiten sehen. (Goethe Hbg. Ausg. 11:79)
Ich sah ein Kind zu Grabe tragen. (Goethe Hbg. Ausg. 11:340)
Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes / In der Stalinallee Flugblätter verteilen (...) (Brecht)
In allen diesen Fällen könnte ein Agens mit von oder durch hinzugefügt werden, so daß der Infinitiv passivisch verstanden werden müßte:

Minderjährige lassen die Bescheinigung von ihren Eltern unterschreiben.


Ebenso:Seine Touristin lässt er von zombiehaften Organhändlern umbringen. (SZ 23.6.10)



2. Der Infinitiv mit zu steht
nach Halbmodalverben wie drohen, pflegen, scheinen, versprechen.


3. Der Infinitiv mit um zu usw.

4.„Kontrolle“ (Orientierung)
Da der Infinitiv mit wenigen Ausnahmen kein Subjekt hat, muß der Hörer anderweitig erschließen, wer oder was als Träger der Infinitivhandlung in Frage kommt. Beim reinen Infinitiv ist es der Subjektaktant des übergeordneten Verbs (Matrixverbs).
Der Infinitiv mit zu und um zu usw. tritt orientiert und nicht-orientiert auf.

Orientierte Infinitive:
Ich verspreche dir, die Suppe zu kochen.
Ich bitte dich, die Suppe zu kochen.

Hier hängt es offenbar vom Matrixverb ab, ob die Infinitivhandlung dem Subjekt oder dem Objekt zugeschrieben wird.
Möllemann wird nachgesagt, nach Neuwahlen eine kleine Koalition mit der SPD anzustreben. (SZ 2.6.92)
Auch nach formalem Subjekt es:
Die ganze Nacht hindurch blizte und donnerte es, doch ohne zu regnen. (Paul Wilhelm: Erste Reise nach dem nördlichen Amerika. Stuttgart 1837:280)
Bei automatisierten Prozessen bedarf es gewisser Hilfskonstruktionen, um sie überhaupt sichtbar zu machen; der Introspektion bleiben sie verschlossen. (Gudrun Horstkotte: Sprachliches Wissen: Lexikon oder Enzyklopädie? Bern u.a. 1982:13)
Bei manchen Verben sind beide Deutungen möglich, die Konstruktion ist zweideutig:
Küttner hatte meinem Vater angeboten, mich als Assistenten zu nehmen. (Rudolf Nissen: Helle Blätter, dunkle Blätter. Stuttgart 1969:83)
Ich bot Allan an, den Rest Whisky zu trinken. (Ursula Isbel: Pferdeheimat im Hochland. Gütersloh 1998:70)
Bei finalen Konstruktionen mit um zu steuert normalerweise das Subjekt die Deutung des Infinitivs:
Naturrechtsprinzipien sind zu abstrakt, um der Vielfalt ganz unterschiedlicher Konfliktlagen gerecht werden zu können. (SZ 29.2.09)
Das Subjekt kann in einer Passivkonstruktion verborgen sein:
Was darf gezeigt werden, ohne die Würde der Opfer zu verletzen? (SZ 7.2.07)
(= Was darf man zeigen ...)
Ungewöhnlich ist Objektsteuerung:
Um die Verzögerung des UN-Planes zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. (SZ 9.9.92)
Ich schicke Anneli auf die Straße, um zu sehen, wann Klaus nach Hause kommt. (Marianne Grabrucker: „Typisch Mädchen“. Frankfurt 1992:192)

Nicht-orientierte Infinitive:
Oft ist der zu erschließende Agens nicht im Obersatz genannt, sondern muß sinngemäß ergänzt werden:
An Altersschwäche zu sterben, ist überall auf der Welt ungesetzlich. (Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. München 1995:80)
Manchmal ist es nützlich, um die Tagesfragen besser zu verstehen, sich in Gedanken ganz von ihnen zu entfernen. (Norbert Elias: Humana Conditio. Frankfurt 1985:7)
Ist kein Agens in der näheren Umgebung genannt, wird im allgemeinen ein personales Subjekt ergänzt. Außer den bereits genannten Beispielen vgl. noch:
Auf der Straße zu schlafen ist normal.
Man versteht das so, daß es sich um Menschen handelt. Diese Voraussetzung ist aber aufhebbar:
Auf der Straße zu schlafen ist für indische Kühe normal.


Anmerkungen:

Für die Verbindung aus sein + Infinitiv hat man eine besondere „Absentiv“-Konstruktion angenommen. Das ist jedoch unnötig.
Phraseologisch: er hat gut (leicht usw.) reden
Bei Jetzt gilt es (wachsam sein usw.) steht auch öfter zu: Jetzt gilt es, wachsam zu sein.
Die unterschiedliche Orientierung spielt auch bei anderen Satzabschnitten (s.d.) eine Rolle, vor allem bei Partizipialkonstruktionen.
Bei reflexiven Verben und Konstruktionen schwankt das Reflexivpronomen zwischen kongruierender und neutraler Form:
Es ist nicht leicht für uns, sich vorzustellen, wie das ist: in einem Land zu leben, das seine Bewohner nicht gehen und kommen läßt, wie sie Lust haben. (Zeit 17.8.84)
(sich statt erwartetem uns ist wohl aus Gründen der Wiederholungsvermeidung gesetzt.)
Ein wenig irritiert ihn aber auch unsere Unfähigkeit, sich gegen Betrügerei zur Wehr zu setzen. (Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung. Neuwied 1987:73)
(Zu erwarten wäre uns, da der Agens aus dem Possessivartikel unsere erschließbar ist.)
Es geht hier und jetzt nicht darum, uns im einzelnen mit Weinrichs Argumenten auseinanderzusetzen. (IF 73, 1968:283)
(Aus dem Kontext geht hervor, daß der Verfasser die Nennung des Agens im Obersatz nur ausgespart hat.)


(Wird ergänzt)


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