27.02.2014


Theodor Ickler

Grammatische Exerzitien 5

es

Zu den häufigsten Wörtern in einem deutschen Text gehört das Pronomen es. Es ist zweckmäßig, vier Hauptfunktionen zu unterscheiden.

1. Phorisches Pronomen
es wird wie die anderen Formen des Paradigmas (er, sie) als Personalpronomen der dritten Person verwendet, vorwiegend anaphorisch (zurückverweisend). Es bezieht sich jedoch nicht nur auf nominal oder pronominal bezechnete Größen im Vortext, sondern auf beliebige dort erwähnte Sachverhalte.

Anaphorisch:
Das Gericht wollte nichts Prinzipielles über den Datenschutz sagen. Aber es hat es dann doch getan. (FAZ 16.12.83)
Er fährt oft nach Rom, aber es nervt ihn. (es = nach Rom zu fahren)
Wird sie nun achtzig oder wird sie es nicht? (Zeit 25.12.81) (es = achtzig)
Das Empfangszimmer ist voller Männer. Es sind Freunde und Nachbarn. (Spiegel 9.4.01)

Kataphorisch:
So schmerzlich es ist: Der Bruch zwischen Glauben und Wissen ist nicht zu kitten. (SZ 18.6.83)

es als Akkusativobjekt steht nicht allein im Vorfeld:
*Es habe ich dir gesagt.
Zusammen mit nachgestelltem, betontem selbst ist es möglich:
Bei der Suche nach dem Ungeheuer von Loch Ness haben wir zwar viel erlebt, es selbst haben wir aber nicht gesehen.
Auch als Bestandteil eines Satzgliedes kann es im Vorfeld stehen:
... viel Geld. Es den Hotelbesitzern zu schenken ist kaum sinnvoll.
Betont im Fokus von vorangestellten Partikeln wie auch, sogar oder selbst ist es selten:
Das Schloß ist eine Ruine. Nun soll auch es wiederaufgebaut werden. (FAZ 2.3.85)
es steht auch nach Präpositionen, obwohl normative Grammatiken diese Konstruktion zugunsten von Präpositionaladverbien ablehnen:
Selbst wenn er ein abstraktes Thema zu erörtern vorhatte, begann er mit einem Kunstwerk und verlor sich, scheinbar, an es. (FAZ 1.10.96) (an es = daran)

2. Vorgreifer
Das Vorgreifer-es (auch Korrelat oder Platzhalter genannt) nimmt einen ausgeklammerten Nebensatz, auch Infinitivsatz vorweg. Es entfällt also zwingend bei einer Vertauschung der Teilsätze:
Das Ziel der Sprachwissenschaft ist es, wahre sprachwissenschaftliche Aussagen zu formulieren. (Renate Bartsch/Theo Vennemann: Grundzüge der Sprachtheorie. Tübingen 1983:2)
Dabei reicht es den Abgeordneten nicht, wenn den ärmsten Ländern ihre Schulden erlassen werden. (Das Parlament 9.12.88)
Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp, zu tauchen in diesen Schlund? (Schiller)
Er hielt es für besser Sicilien zu beruhigen, als zu erobern. (Wieland)
Das Vorgreifer-es ist mehr oder weniger fakultativ. Die Gründe der Setzung oder Weglassung sind im einzelnen kaum bekannt.
Als Vorgreifer eines Subjektsatzes kann es auch im Vorfeld stehen und ist dann schwer von einem Vorfeld-es (s. unter 4) zu unterscheiden; Umstellproben sind oft wegen der Weglaßbarkeit des Vorgreifers nicht schlüssig.
Hierher kann man auch das es in Spaltsätzen rechnen:
Der Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe gänzlich abging. (Emile du Bois-Reymond: Reden. Band 2, Leipzig 1912:172)
Was ist es, das den Erfolg dieses Dirigenten bestimmt? (FAZ 4.5.85)
Es war im Winter 1962, als ich Günter Matthes zum ersten Mal begegnete. (Zeit 28.12.90)
Es war wohl in dieser Zeit, daß Feist zum ersten Mal auf die Veneter stieß. (Muttersprache 91, 1981:257)

3. Formales es
es kann ohne Bezeichnungsfunktion als formales Subjekt oder Objekt (auch Scheinsubjekt bzw. -objekt genannt) bei bestimmten Verben stehen:
Subjekt:
Es blitzt, ohne zu donnern. (Ödön von Horvath: Gesammelte Werke. Frankfurt 1972:181)
Von Zeit zu Zeit zerreißt es einen Stern in einer Explosion, die ihn für kurze Zeit fast so hell strahlen läßt wie alle hundert Milliarden Sterne des Systems zusammen. (Rudolf Kippenhahn: 100 Milliarden Sonnen. München 1984:16)
Zwar gibt es seit Jahren weltweite Fang- und Handelsverbote, an der Umsetzung hapert es Naturschutzorganisationen zufolge aber weiterhin. (Spiegel 25.2.14)
Ähnlich: es grünt, es wird Nacht/dunkel, es klingelt, es stinkt, es zieht, es schüttelt mich, es hält mich nicht länger, es bedarf, es geht um, es gilt, es kommt auf... an, es handelt sich um
Hierzu auch das „mediale“ Reflexiv: es geht sich leicht, es läßt sich leben u. a.
Bei mich friert (es), mir graut (es) und einigen anderen Wendungen ist das Pronomen fakultativ, bei es überläuft mich, es fehlt an, es bedarf, mir geht es gut und anderen ist es obligatorisch (vgl. die Liste bei Paul Dt. Gr. III:28)
Objekt:
Die Sonne meint es gut mit den Berlinern. (Berliner Morgenpost 18.2.14)
Sie haben es weit gebracht. Er hat es auf die Titelseiten geschafft.
Ähnlich: es eilig haben, es jdm. angetan haben, es abgesehen haben, es ankommen lassen, es aufnehmen mit, es in sich haben, es sich leicht oder schwer machen, es mit jemandem verderben u. a.; dazu Milch tut es auch und andere Redensarten.

4. Vorfeld-es
Das Vorfeld-es hat nur die Aufgabe, das Vorfeld zu füllen und damit die Verbzweitstellung zu ermöglichen. Bei einer anderen Vorfeldfüllung – d. h. bei einer Umstellprobe im selben Satz oder Teilsatz – fällt es zwingend weg:
Es sind dies erschreckende Erlebnisse intellektueller Deformation. (FAZ 6.12.90)
Es klappert die Mühle am rauschenden Bach.
Es wird in der Dritten Welt heute dreimal so viel geboren wie gestorben. (Universitas 4/1990:356)
„Es wurde allerdings zu keinem Zeitpunkt bewusst getäuscht oder die Urheberschaft anderer nicht kenntlich gemacht.“ (Tagesspiegel 19.2.11)
Wie die Beispiele zeigen (es sind...), kongruiert dieses es nicht mit dem Verb; es funktioniert eher wie eine Partikel.

Anmerkungen:
Für das es bei Witterungsimpersonalien hat man nach einem „numinosen“ Subjekt in mythologischen Vorstellungen gesucht. Hermann Paul weist darauf hin, daß die Sätze mit formalem es immer konkret sind, aktuelle Vorgänge bezeichnen. Hierauf „bezieht“ sich das es gewissermaßen, wie der Ruf Feuer! auf die Situation. Beim formalen Objekt in Sie hat es ihm angetan kann man aus der Wortgeschichte zwar noch erklären, was ursprünglich gemeint war (nämlich ein Liebeszauber), doch ist dies heutigen Sprechern nicht mehr bewußt.
Unterschiedliche formale Subjekte werden gelegentlich in gleicher Funktion verwendet:
Es soll stark geregnet und Wellen von mehr als zwölf Metern Höhe gegeben haben. (sueddeutsche.de 7.1.14)
Während bei jemandem liegt daran tatsächlich kein formales Subjekt es möglich ist, läßt es sich bei jemandem ist zumute entgegen der Behauptung mancher Grammatiker reichlich belegen:
Zum Dösen zumute ist es auch vielen Physikern während der Vorträge des großen Röntgen. (SZ 4.1.97)
Der Bundesregierung soll es mittlerweile allerdings 'etwas mulmig' zumute sein. (SZ 21.2.97)
Dem Betrachter von heute wird’s ganz komisch zumute. (SZ 2.3.99)
Zu den Beschränkungen in Verbindung mit Präpositionen sagt Blatz: „Der Grund liegt darin, daß die Präpositionen proklitisch sind, es aber enklitisch, letzteres also den Accent der Präposition nicht aufzunehmen vermag.“ (Blatz II:256)


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