04.10.2014


Theodor Ickler

Albtraum Deutschunterricht

Bemerkung zum "Interpretieren"

Es gibt ja eine Menge Internetseiten, auf denen verzweifelte oder faule Schüler um Hilfe beim "Interpretieren" von schulüblichen Texten bitten. Die Antworten sind teilweise auch ganz unterhaltsam.
Das Ganze gibt ungewollt einen Einblick in die Schulwirklichkeit, erinnert wohl die meisten von uns an die eigene Schulzeit und stößt Unmengen didaktischer Literatur in die Tonne.

Kästners "Sachliche Romanze" ist ein meisterhaftes Gedicht, zweifellos, und gehört unverbrüchlich in den Deutschunterricht, "Neue Sachlichkeit" und so, ihr wißt schon. Anlaß meines Eintrags ist, daß ich zufällig auf den Eintrag bei Wikipedia gestoßen bin. Den hat sich der Text natürlich gerade deshalb verdient, weil er in der Schule so oft gelesen wird. Die Schüler werden jahrelang dazu gebracht, in Texten etwas zu Interpretierendes zu sehen. Die Absonderlichkeit dieses Tuns wird gar nicht mehr bewußt. Der Wikipedia-Artikel verkörpert die Hilflosigkeit exemplarisch. Ein bißchen Gleichgültiges zum Reimschema, ein paar gleichgültige biographische Hinweise. Ist das "Begreifen, was uns ergreift"?

Mit meinen Töchtern, die noch sehr empfänglich sind, kann ich ganz anders darüber sprechen. Aber es wäre auch möglich, den Kindern solche Texte einfach zur Kenntnis zu bringen und es damit bewenden zu lassen. Wäre das kein Deutschunterricht mehr? Wieso eigentlich nicht?
Die guten Schriftsteller ermöglichen uns, nicht ganz und gar sprachlos (und fassungslos, um gleich an Kästner anzuknüpfen) vor den Ereignissen zu stehen, die wir leider oder gottseidank erleben werden. Das "interpretierte" Gedicht hilft nicht gerade.


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