21.10.2005


Theodor Ickler

Lesen und Schreiben

Schreiber und Leser sind keine Gegner!

Im Gefolge von Nerius hat man einen Gegensatz zwischen Aufzeichnungs- und Erfassungsfunktion der Schrift konstruiert und damit einen Interessengegensatz zwischen Schreiber und Leser, der durch die Orthographiereform in ein neues, den Schreiber begünstigendes Verhältnis gebracht werden solle. Für diesen nämlich sei die Rechtschreibung (verstanden als Dudennorm) zu schwierig geworden.

Was die Problematik der Dudennorm betrifft, ist die Kritik teilweise berechtigt. Aber die ganze Betrachtungsweise ist höchst einseitig. Wie schon der Ausdruck „Aufzeichnungsfunktion“ andeutet, haben die Reformer nur den Schreiber von Fremdtexten, also im wesentlichen den diktatschreibenden Schüler und die Sekretärin im Auge. „Das phonographische Schriftideal, mit dem so viele Reformer hausieren gehen, ist also eines für einen Umgang mit Texten, die nicht verstanden werden.“ (So sehr richtig Utz Maas in OBST 44, 1991:21) Das ist aber niemals die Leitgröße der Schriftkultur gewesen und kann es nicht sein, da es bei Texten auf die Qualität des Produkts und nicht auf die Leichtigkeit seiner Herstellung ankommt. Nicht die Aufzeichnung, sondern die Mitteilung sollte daher der Ausgangspunkt sein. Nach diesem Maßstab scheut der Schreibende keine Mühe, um seine kommunikativen Ziele zu erreichen, d. h. dem Leser einen Inhalt so gut erfolgreich wie möglich zu übermitteln. Es ist überhaupt keine „Erleichterung“, auf die Groß- und Kleinschreibung zu verzichten, wenn damit der Verzicht auf Unterscheidungen einhergeht, auf die der Mitteilende Wert legt.

Eine weitere problematische Voraussetzung der Reform besteht in der Absicht, das Gedächtnis der Lernenden zu entlasten. Wer viel liest, wird sich die Schreibweise vieler Wörter einprägen. Von einer wachsenden Belastung seines sogenannten Gedächtnisses wird er nichts bemerken. Die Vorstellung eines Behälters mit begrenztem Fassungsvermögen ist nicht sachgerecht. Das Schreiben wird immer leichter, nicht schwerer, je mehr man gelesen und auch geschrieben hat. Wie schon Schopenhauer einmal sagt, ist beim Gedächtnis nicht Überfüllung, sondern nur Konfusion zu befürchten.



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