03.11.2005


Theodor Ickler

Falsch, aber amtlich

Paragraph 56

Der berüchtigte Paragraph 56 enthält sprachgeschichtliche Aussagen.
Sie haben in einem orthographischen Regelbuch nichts zu suchen. Aber wenn schon, dann sollten sie wenigstens richtig sein. Die aufgezählten "Desubstantivierungen" sind zum Teil überhaupt keine. Ich würde daher umformulieren:


§ 56
Klein schreibt man einige Wörter,[ die ihre substantivischen Merkmale eingebüßt haben (Desubstantivierungen) oder] zu denen es substantivische Dubletten gibt.

Dies betrifft

(1) Wörter wie die folgenden, die in Verbindung mit den Verben sein, bleiben, werden als Adjektive gebraucht werden:

angst, bange, gram, schuld

Beispiele:

Mir wird angst. Uns ist angst und bange. Wir sind ihr gram. Er ist schuld daran.

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Es ist falsch, hier durchweg Desubstantivierungen anzunehmen, wie es das Regelwerk tut. Ich habe deshalb den Halbsatz mit den Dubletten hinzugefügt und die Beispielliste zusammengestrichen.
Im Wernstedt-Papier, das die Reformer Augst und Schaeder ausgearbeitet haben, um die naheliegende Kritik an der neu verordneten Großschreibung Leid tun usw. abzuwehren, führen sie an, man könne nicht *der angste Mann, *der leide Mann usw. sagen, folglich seien diese Wörter für den normalen Sprecher einfach Substantive. Damit setzen sie sich aber über den Paragraphen 56 hinweg, der ja ausdrücklich, wenn auch irrig, von Desubstantivierungen spricht, die „als Adjektive gebraucht werden“.

Wie ist es möglich, daß weder die Kommission noch der jetzige Rat hier irgendeinen Handlungsbedarf sehen? In welchem anderen Land der Welt ist es staatlich vorgeschrieben, falsche Grammatik zu unterrichten?


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