27.10.2006


Theodor Ickler

Die Schweiz unter Sitta

Eine neue Ausarbeitung der Erziehungsdirektorenkonferenz

Aufgrund langjähriger guter Beziehungen hat sich die EDK den Standpunkt der Sitta-Schule zu eigen gemacht.
Die Schweizer Mitglieder des Rechtschreibrates um Horst Sitta haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie den Rat und seine Revisionsbemühungen für überflüssig halten und am liebsten die ursprüngliche Reform von 1996 unverändert durchsetzen würden. Diese grundsätzlich ablehnende Haltung findet sich auch in der neuen Ausarbeitung der Erziehungsdirektorenkonferenz, mit der die Schweizer Lehrer zu einem äußerst restriktiven Umgang mit der Revision angehalten werden sollen. Das geht bis zu Empfehlungen, sich über die amtliche Regelung hinwegzusetzen. Die folgenden Anmerkungen greifen nur einige besonders bemerkenswerte Stellen der Handreichung heraus.


Thomas Lindauer, Afra Sturm, Claudia Schmellentin: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Aktualisierte und erweiterte Auflage 2006, hg. von der EDK. (Download: http://www.edk.ch/PDF_Downloads/Dossiers/Rechtschreibung.pdf)

(Der Text der Handreichung folgt weitgehend der Vorlage von Gallmann und Sitta 2006 [siehe hier], auf die im Literaturverzeichnis auch hingewiesen wird. Die Angabe der Autorschaft von Lindauer u. a. ist kaum ernst zu nehmen.)

„Seit dem 1. August 2005 sind die neuen Regeln verbindliche Grundlage für Schule und öffentliche Verwaltung. Von dieser Verbindlich-Erklärung wurden am 1. August 2005 die Bereiche B (Getrennt- und Zusammenschreibung), E (Zeichensetzung), F (Worttrennung am Zeilenende) ausgenommen, weil der Rat für deutsche Rechtschreibung für diese Bereiche Änderungen in Aussicht gestellt hatte.“

In Wirklichkeit hatte die KMK die Erwartung geäußert, zu diesen Bereichen werde es Änderungen geben. Der Rat selbst hat sich eine solche Themenbeschränkung zunächst nicht auferlegt, der Vorsitzende hatte im Gegenteil die Unabhängigkeit des Rates von solchen Vorgaben beteuert.

„Das amtliche Regelwerk ist als Grundlage für die Rechtschreibung innerhalb derjenigen Einrichtungen gedacht, für die der Staat Regelungsgewalt beansprucht. Im Prinzip sind das die Schule und die staatliche Verwaltung.“

Eine begrüßenswert offene Aussage: Der Staat beansprucht zwar die Regelungsgewalt, es bleibt aber offen, ob er sie auch besitzt. Der Ausdruck Regelungsgewalt (aus der Vorlage von Gallmann/Sitta übernommen) kam nur in der von beiden Autoren mitverfaßten Dudenbroschüre von 1996 vor, sonst wurde er durch Regelungskompetenz ersetzt.

Die Handreichung kommt wieder und wieder zu dem Ergebnis, daß die revidierte Reform gerade dort, wo sie Erleichterung schaffen sollte, weder lehr- noch lernbar ist.

„Die Neufassung der Getrennt- und Zusammenschreibung bereitet der Schule wie angedeutet gewisse Probleme. Die vom «Rat» 2006 ausgearbeiteten Festlegungen orientieren sich im Gegensatz zum Regelwerk 1996/2004 nicht mehr vor allem an formal operationalisierbaren Regeln, sondern vermehrt am sogenannt Prototypischen. So werden in mehreren Fällen klare Anweisungen ersetzt durch Hinweise auf prototypische Fälle.
Dies illustriert das folgende Beispiel:
Klare Handlungsanweisung: «Partikeln, die auf ‹-einander› oder ‹-wärts› enden, werden getrennt von einem folgenden Verb geschrieben.»
Prototypischer Schreibhinweis: «Bei Zusammensetzungen liegt der Hauptakzent normalerweise auf der Verbpartikel […], während bei Wortgruppen das selbständige Adverb auch unbetont sein kann […]. Wenn das Betonungskriterium nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt, hilft in manchen Fällen eine der folgenden Proben weiter: […]» (Amtl. Regelwerk § 34, 1.2).
Formulierungen wie «normalerweise» und «in manchen Fällen» sind für den schulischen Gebrauch wenig dienlich. Entsprechend sind die neuen Regeln im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung zum Teil in der Volksschule weder lehr- noch lernbar. Durch den Versuch, die Getrennt- und Zusammenschreibung vor allem mithilfe von Prototypen zu gestalten, kommt es zu einer höheren Varianz bei den Schreibungen: So können neu gewisse Verben sowohl getrennt als auch zusammengeschrieben werden. Auch solche neuen Varianten erschweren in der Volksschule die Arbeit mit der Rechtschreibung.“


Die Handreichung bleibt nach Möglichkeit bei den Regeln von 1996, soweit dies im Rahmen der Revision möglich ist. Zum Beispiel soll für kennenlernen, sitzenbleiben, fallenlassen, obwohl wieder zusammengeschrieben werden darf, in der Schweiz nur die Getrenntschreibung unterrichtet werden, weil diese Regelung "einfacher" ist. Die Arbeit des Rechtschreibrates wird bewußt ignoriert: „Die Fassung des Regelwerks von 2006 erlaubt zwar bei einzelnen Verbindungen auch die Zusammenschreibung, sofern sie im übertragenen Sinn gebraucht sind. Im Sinne einer regelorientierten Variantenführung soll in der Volksschule sowie auf Gymnasialstufe nur die Getrenntschreibung vermittelt werden, da die Getrenntschreibung ja immer korrekt ist, während die Zusammenschreibung nur in ganz bestimmten Fällen erlaubt ist.“

„Im Zuge der Neuregelung durch den «Rat für deutsche Rechtschreibung» ist in diesem Bereich jedoch wieder eine grössere Vielfalt an Varianten festzustellen, wobei zum Teil auch Bedeutungsdifferenzierungen mithilfe der Getrennt- und Zusammenschreibung zum Ausdruck gebracht werden können – aber nicht immer müssen. In einigen Bereichen ist also durch diese Neufassung eine derart komplexe Situation entstanden, dass die davon betroffenen Regelbereiche (Verbindung aus Adjektiv/Partizip und Verb, Partikel und Verb, Nomen und Partizip) nicht mehr in der Volksschule vermittelbar sind. Es wurde zwar vom «Rat» versucht, mithilfe von «Proben» den Schreibern und Schreiberinnen Hilfen anzubieten, doch zeigt es sich, dass die meisten dieser «Proben», in erster Linie die Betonungsprobe, nicht operationalisierbar bzw. vermittelbar sind. Angesichts dieser komplexen Situation und des doch eher peripheren Status der betroffenen Bereiche muss man für die Volksschule die Schreibung in diesem Bereich freigeben. Das heisst: Diese Bereiche sollen nicht unterrichtet werden. Entsprechend können sie bei der Korrektur ausgeblendet werden. Häufige Fälle können als Lernwörter fallweise vorgegeben werden. Generell kann man die Faustregel vermitteln: Schreibe eher getrennt als zusammen.“

Die Handreichungen empfehlen gegebenenfalls aber auch ein klares Abweichen von den amtlichen Regeln:

„Generell sollen die Regel «Nomen und Verb werden immer getrennt geschrieben» und die wenigen Ausnahmen vermittelt und angewendet werden. Bei den vier Einzelfällen soll man Toleranz walten lassen, da ein Unterschied wie bei nottun und Not leiden kaum vermittelbar ist. Ähnliches gilt für Bankrott machen (Bankrott = Nomen) vs. bankrottgehen (bankrott = Adjektiv) und Pleite machen vs. pleitegehen: Hier empfehlen wir, auch Bankrott gehen und Pleite gehen zu tolerieren.“

(Bankrott gehen und Pleite gehen sind bekanntlich grammatisch falsch. Vor der Reform ist niemand auf den Gedanken gekommen, solche Adjektive groß zu schreiben. Jedenfalls fordern Sitta und seine Schüler nun im Namen der EDK die Schweizer Lehrer dazu auf, gegen die amtlichen Vorschriften zu verstoßen.)

Zu Verbindungen aus Adjektiv und Verb empfiehlt die EDK:
„Da dieser Teilbereich so in der Volksschule nicht vermittelbar ist und es sich zudem um einen für die Volksschule wenig relevanten Bereich handelt, gilt hier die Freigabe der Schreibung. Am besten hält man sich dabei an die schwache Faustregel: «Adjektiv und Verb schreibt man möglichst getrennt.»
Häufig gebrauchte Verbindungen wie zum Beispiel grossschreiben, schwarzfahren oder wahrsagen sollen als Lernwörter behandelt werden. Auf Sekundarstufe I kann man auch die Faustregel vermitteln: «Adjektive auf -isch und -lich werden von einem folgenden Verb getrennt geschrieben.» Gegebenenfalls kann zusätzlich die Probe der Steigerbarkeit bzw. Erweiterbarkeit eingesetzt werden: «Kann das Adjektiv gesteigert oder erweitert werden, ist die Getrenntschreibung vorzuziehen.» In oberen Klassen des Gymnasiums kann dieser Bereich Gegenstand der Reflexion sein.“


Die Verfasser setzen sich also bewußt und provokativ über die Tatsache hinweg, daß der Rechtschreibrat die ig/isch/lich-Regel aufgehoben hat; sie soll an den Schweizer Schulen weiterhin unterrichtet werden.
Auch bei den Partikelverben kommt die EDK zu einem vernichtenden Urteil über die Revision und empfiehlt die weitgehende Freigabe für die Schule. Dasselbe gilt für Verbindungen wie Aufsehen erregend, Fleisch fressend usw. Dabei waren gerade hier zwingende grammatische Gründe das Motiv der Revision.

Zur Schreibung der Tageszeiten:

„Bei einem Einzelfall lässt das neue Regelwerk sowohl Klein- als auch Grossschreibung zu: gestern früh oder gestern Früh.“

Das ist ein Irrtum. Das Regelwerk läßt sinnvollerweise nur Kleinschreibung zu; mit der Großschreibung sympathisierte die Zwischenstaatliche Kommission eine Zeitlang.

Bei adverbialen Wendungen wie seit langem/Langem soll nur die erst jüngst eingeführte Gallmannsche Großschreibung vermittelt werden, bei den zahllosen und geradezu stürmisch zunehmenden Nominationsstereotypen wie das schwarze/Schwarze Brett nur die Kleinschreibung. So auch Gallmann/Sitta 2006: "Wir empfehlen hier mit Nachdruck die Kleinschreibung nach der Grundregel." Die Schweizer Schüler werden damit gegen die allgemein verbreiteten Schreibweisen und damit gegen die erwachsene Sprachgemeinschaft erzogen.

Die Briefanrede du sollen Schweizer Schüler stets klein schreiben. Den bemerkenswerten ideologischen Hintergrund liefern Gallmann und Sitta 2006: „Das Regelwerk in der Fassung von 2006 lässt die Großschreibung von du und ihr in Briefen (nur in Briefen!) als Variante zu. Wir empfehlen, die Großschreibung höchstens in Briefen an ältere Personen zu verwenden, die sich nicht recht an die neuen Schreibungen gewöhnen können.“

Was die geistigen Väter dieser Handreichung betrifft, so ist noch folgende Geschichtsklitterung bemerkenswert:

„Bis zum Ende des Schuljahres 2004/05 sollten Schreibungen nach den alten Normen aber noch toleriert werden; es bestand also eine siebenjährige Übergangszeit. In der Zwischenzeit entfaltete sich allerdings einige Kritik am neuen Regelwerk, ausgehend von Journalisten des Feuilletons und einigen älteren Schriftstellern (kaum Schriftstellerinnen), aber auch einigen Linguisten. Die zuständigen Behörden der deutschsprachigen Staaten haben darum die Übergangsfrist etwas gestreckt und außerdem einen neuen "Rat für die deutsche Rechtschreibung" ins Leben gerufen, der auf Basis des Regelwerks von 2004, einer nur leicht veränderten Version der Regelung von 1996, eine revidierte Fassung des Regelwerks ausgearbeitet hat.“
(www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Neuregel.htm)

War da nicht noch etwas? Die beiden Autoren haben sieben Jahre lang in der Zwischenstaatlichen Kommission gesessen, die auch hier – wie den jüngsten Verlautbarungen von Rechtschreibrat und KMK – mit Stillschweigen übergangen wird. Außerdem war die Revision von 2004, die Gallmann und Sitta mitgetragen haben, keineswegs eine "nur leicht veränderte Verson der Regelung von 1996", sondern warf besonders im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung bereits alle Grundsätze von 1996 über Bord (Einführung von Betonung und Bedeutung als Kriterien für Verbzusätze, Öffnung von Listen, Kappung des Zusammenhangs von Partizip und Infinitiv, Aufhebung der ig/isch/lich-Sonderregel u. a.).


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