20.11.2006


Theodor Ickler

Junge Kanoniere

Bemerkungen zu den Bildungsstandards Deutsch (KMK-Beschlüsse vom 4.12.2003)

Nachdem die Handreichung des ISB zu den Rechtschreib-Tests sich – wie in meiner Anmerkung zum vorigen Eintrag zitiert – so vorbehaltlos auf die pädagogische Folklore der siebziger Jahre berufen hat, möchte ich meinen drei Jahre alten Text, der vielleicht schon irgendwo im Netz herumgeistert, noch einmal hier einrücken – vielleicht erkennt mancher Lehrer die Verhältnisse als die seinen:


Die Unbedingtheit der Liebe ist darzulegen

Nach Lektüre der vielgerühmten einheitlichen Bildungsstandards kann ich die Begeisterung darüber nicht teilen. Ich beschränke mich auf die Standards für das Fach Deutsch, für die erste Fremdsprache müßte man weiter ausholen, um das „Leitziel“ des Fremdsprachenunterrichts, „Stärkung der eigenen Identität“, in seiner Verstiegenheit deutlich zu machen.
Aus der „Curriculum“-Diskussion der siebziger Jahre sind die „Lernziele“ (Leit-, Richt-, Grob- und Feinziele) in Erinnerung geblieben. Es wurde damals so eifrig gezielt, daß Lehrpläne und Unterrichtsentwürfe sich wie Anleitungen für die Artillerie lasen. Dasselbe martialische Vokabular kennzeichnet die neuen Bildungsstandards für das Fach Deutsch. Sechzehnmal ist von „zielgerichtetem“ und „gezieltem“ Verhalten die Rede, siebzehnmal von „Strategien“, welche die Schüler anwenden sollen. Texte sollen sie zielgerichtet durch den gezielten Einsatz sprachlicher Mittel verfassen, Informationen holen sie nicht einfach durch Fragen ein, sondern durch gezieltes Fragen; Fehler vermeiden sie selbstverständlich durch „Strategien zur Fehlervermeidung“. Auch zum Lesen verfügen sie über „Lesestrategien“. Zu dumm nur, daß solche Lesestrategien weitgehend Phantasieprodukte einiger Didaktiker sind. Die Lehrer selbst verfügen jedenfalls nicht darüber, sondern lesen langsam und gründlich, wenn sie Zeit haben, und schnell und flüchtig, wenn sie keine haben, und das ist auch schon alles. „Efficient teachers are known for their strategies, the darling new word at the Board of Education“ (Frank McCourt: 'Tis. London 2000, S. 410)

Die Bildungsstandards sind typische Produkte von Kommissionssitzungen. Da alles Konkrete umstritten ist, einigt man sich auf die weitschweifigste Umschreibung von Selbstverständlichkeiten. Der Text wird durch wissenschaftlich klingende Streckformen aufgebläht. „Schreiben“? Viel zu einfach! Man sagt jetzt: „einen Schreibprozess eigenverantwortlich gestalten“. „In der mündlichen Äußerung beachten sie wichtige Regeln des Aussprache, in den (sic) schriftlichen die der Orthographie und Zeichensetzung.“ Normal ausgedrückt: Sie sprechen und schreiben richtig.
Die angestrebten Verhaltensweisen sind nicht einmal im Ansatz operationalisiert, der Text ist mit Leerformeln übersät. Wann ist eine Aufgabe „differenziert“, „strukturiert“ und „angemessen“ gelöst, eine Meinungsäußerung „begründet“, „fundiert“, „sachkompetent“? Als Ersatz werden Musterlösungen geboten. Sie sind überaus konventionell. Zwei Liebesgedichte von Heine und Fried sollen verglichen werden: „Im Vergleich der Auffassung von Liebe in beiden Gedichten ist die Unbedingtheit und Absolutheit des Gefühls darzulegen, als Unterschied ist bei Fried darauf hinzuweisen, dass die Liebe ausschließlich im Ich erfahren und festgehalten werden kann, während alles andere vergänglich und flüchtig bleibt; bei Heine auf die Liebeserfahrung in der Verschmelzung von Ich, Natur und Liebe; für Fried gibt es keine Möglichkeit der Verschmelzung von Ich und Liebe mit der Natur mehr; möglich wäre eine knappe historische Einordnung oder Identifizierung.“ Das ist der überkommene Jargon der paraphrasierenden „Interpretation“, eine Welt für sich, deren „Beitrag zur Bildung“ und „Persönlichkeitsentwicklung“ junger Menschen doch sehr fraglich bleibt.

Recht bezeichnend ist auch der Umgang der Kultusminister mit der von ihnen verordneten Rechtschreibung. Max Frisch wird in Originalorthographie wiedergegeben, Heinrich Heine in Reformschreibung, weil die Urheberrechte erloschen sind. Die KMK schreibt durchweg „selbstständig“ (bis auf einen vereinzelten Ausrutscher), offenbar in der irrigen Meinung, diese Änderung habe etwas mit der Rechtschreibreform zu tun. „Litfasssäule“ und „Denkanstösse“ sind nicht korrekt; „weiterentwickeln“ wird auch nach der Rechtschreibreform zusammengeschrieben, „auseinandersetzen“ dagegen – unsinnigerweise – nur noch getrennt. Aber das spielt angesichts des Didaktiker-Galimathias ohnehin keine Rolle mehr.


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