19.04.2007


Theodor Ickler

Wortbildung – ganz entspannt

Anmerkungen zu einem neuen Buch von Elke Donalies (IDS)

Donalies, Elke: Basiswissen Deutsche Wortbildung. Tübingen, Basel 2007.

(Neckische Aufmachung: die Überschriften beginnen mit einem Unterstrich und enden mit einer schließenden Klammer, beides in Rotdruck.)

Die Verfasserin unterscheidet durchgehend nicht zwischen historischen und aktuellen Wortbildungen. Dadurch kommt es zu falschen Eindrücken und Pseudoproblemen: vergüten, verhüten, beschönigen, kleidsam, Gebirge usw. sind historische Formen, es erübrigt sich, nach heute geltenden Ableitungsregeln zu fragen. „Die Basis von bedeuten ist deuten.“ Ja, gewiß, aber nach heutigen Regeln kann man das eine nicht aus dem anderen herleiten. Kausative wie senken oder tränken (95) werden heute nicht mehr gebildet, auch nicht als „Randphänomen“ (95).
Ebenso werden spielerische und scherzhafte Bildungen nicht von den wirklich regulären Formen unterschieden. Sterbing und Rutsching sind eben nur Sprachspielereien, aus denen sich nichts schließen läßt. Es steht Donalies natürlich frei, zu Nachtigall auch Tagigall zu bilden, aber was soll's? (30) Aus der taz wird zitiert: Schreibmaschinerich und Photokopiermaschinin. Es wimmelt von Gelegenheitsbildungen wie ich werweißte noch.
Das ständige Durcheinander historischer, regulär gegenwärtiger und dann auch wieder exzentrisch-verspielter Wortbildungen wirkt äußest verwirrend. Man kann schlechterdings nicht sagen, daß Adjektive auf -bar meist aus Verben, selten auch aus Substantiven abgeleitet werden wie fruchtbar (59). Dieser Typ ist der ursprüngliche, jener der heutige, beide schließen einander synchron aus. Das Beispiel zeigt, wie schief die gesamte Darstellung geraten ist.

Bemerkenswert: das Höchste der Gefühle (4), bi-oweiß (10), Subs-tantiv (passim).

Fuchs statt schlauer Mensch ist nicht „metonymisiert“ (6), sondern metaphorisch.

Bei den Wortbildungseinheiten S. 9 fehlen ausgerechnet die Stämme, sie werden erst später eingeführt.

Daß Affixe nicht „mit sich selbst“ neue Wörter bilden, ist falsch ausgedrückt; gemeint ist, daß sie sich nicht mit anderen Affixen verbinden, daher nicht *unlich usw.

Daß in Kindchen -chen, in Sensibelchen aber sensibel das determinierende Element sein soll, leuchtet nicht ein. Vgl. auch Dummchen, Liebchen, Grauchen (Eselchen), Schneeweißchen.

Wie schon ihrem früheren Buch unterscheidet D. zwischen paradigmatischen und nichtparadigmatischen Elementen in der Kompositionsfuge. Sie führt drei Gründe an, warum pluralische Formen als Erstglieder tatsächlich als Pluralformen und nicht als Stämme mit Fugenelementen angesehen werden sollten: Erstens paßt es semantisch, in Länderspiel einen Plural zu entdecken (im Gegensatz zu Landesverteidigung). Das ist aber zirkulär, denn oft paßt es ja gerade nicht: Hühnerei, Kinderwagen. Hierzu äußert sie sich leider nicht, entsprechende Beispiele kommen gar nicht vor. Hühnerzucht kann man zwar nur mit mehreren Hühnern treiben, aber das Ei wird von einem einzigen Huhn gelegt. Zweitens sollen flektierte Formen in der Wortbildung nichts Besonderes sein; sie verweist auf Infinitivkonversionen wie das Denken und komparierte Adjektive. Aber der Infinitiv ist an sich ein Substantiv, die Flexion kommt hinzu: des Denkens. Der Komparativ ist eine nominale Stammbildung, Flexion kommt hinzu: breiter, breiteres.
Vor der kategorialen Einordnung des Partizips I kapituliert die Verfasserin wie ihr Gewährsmann Eisenberg, der das Partizip deshalb nicht als Verbform gelten lassen will, weil es nicht zur Bildung periphrastischer Formen herangezogen wird. Die Logik dieser Begründung entzieht sich meinem Verständnis. Es bleibt nur übrig, das Partizip als „ungewöhnliches“ Adjektiv mit „höchst unadjektivischen Eigenschaften“ anzusehen.

In Ladenaufschriften wie Reinigungs Annahme sieht Donalies das „entspannte Verhältnis zur Orthografie“, das sie schon im Vorgängerwerk erwähnte und brieflich auch für sich selbst in Anspruch nahm. Allerdings wissen wir, daß Ladeninhaber noch nie richtig schreiben konnten und Werbeleute sich bewußt manche Freiheit nehmen; mit der Standardsprache hat das nichts zu tun.

D. wehrt sich dagegen, substantivierte Adjektive wie die Kluge überhaupt zu den Substantiven zu rechenen, weil Substantive im Deutschen nicht wie Adjektive flektieren und auch keine Steigerungsformen haben. Sie setzt lieber Ellipsen an – ein hoher Preis, bei dem ihr selbst nicht ganz wohl zu sein scheint, und außerdem übergeht sie die Tatsache, daß Adjektive und Substantive von alters her gar nicht scharf getrennt waren und in der historischen Grammatik niemand mit Ellipsen rechnet. Die doppelte Adjektivflexion ist ja eine Neuerung. Man braucht auch die Substantive nicht zu steigern, wenn man zuerst die Adjektive steigert und sie dann substantiviert.

Diminution soll universal verbreitet sein. Wie ist dann aber die These zu verstehen, daß Augmentation universal an die Präsenz von Diminution gebunden sei? (76) Wenn es doch die Diminution überall gibt, kann man nichts weiter von ihr abhängig machen.

Die Verfasserin prägt auch selbst eine Reihe von neuen Wörtern, was die Verständlichkeit nicht immer fördert. Was bedeutet z. B. der Satz: „Das oppositioniert uns auch ein Text sehr schön“? Was ist eine „zarte Zärtlichkeit“? Ein „besonders gauniger Gauner“, „Nichtlebewesliches“ sollen wohl besonders originell wirken. Wortbildungsmuster sind „vital“ oder „invital“ oder „halblebig“, die Ergebnisse der Motion heißen „Motiva“ (ein Ausdruck, den ich noch nie in dieser Bedeutung angetroffen habe).

grünbraun (63) muß nicht kopulativ verstanden werden, da es Übergänge zwischen diesen Farben gibt.
Die Ausdrücke Nomen agentis, patientis, actionis, instrumenti usw. werden stets unreformiert klein geschrieben.

Bahuvrihi ist kein „indogermanisches“ Wort (60), sondern ein altindisches.

Die Fachausdrücke Dvandva und Karmadhâraya werden unnötigerweise nach Laurie Bauer zitiert, sie sollten Gemeingut der Sprachwissenschaft sein.

Das Adjektiv schmuck ist nicht aus dem Substantiv abgeleitet (93, dieser und weitere Irrtümer ähnlicher Art fanden sich schon im früheren Buch).
zahnen ist kein „Privativum“ (93), denn so nennt man nicht den Verlust der Zähne, sondern deren erstes Durchbrechen beim Kleinkind.
milchen und nachten (dieses beim Schweizer Autor Hürlimann!) sind keine „Okkasionalismen“ (94).

Mit „Rückbildungen“ kommt die Verfasserin erwartungsgemäß nicht zurecht, da es sich hier um die historische Herleitung handelt, für die aber gar keine Begriffe bereitgestellt werden. Bloße Vermutungen, ob das Verb oder das Substantiv (mähdreschen, notlanden) primär seien, sind irrelevant (97). Übrigens macht die Verfasserin selbst sehr gern von Rückbildungen Gebrauch: wortgebildet, bedeutungsbestimmen usw.

Christian Morgenstern ist falsch zitiert (99).

haiitianisch (104) ist zuviel des Guten.

Es gäbe noch mehr zu sagen, aber ich habe nicht vor, eine richtige Rezension zu schreiben.


Siehe auch http://rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?postid=14968#post14968


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