20.05.2007


Theodor Ickler

Chinesisch

Ein altes Mißverständnis über die chinesische Schrift

Rüdiger Weingarten schreibt in einem sonst ganz lesenswerten Aufsatz ("Der Computer als Schriftenmuseum", leider in "aufwändiger" Reformschreibung, aber auch das fehlerhaft):

"Schriftzeichen können sich entweder auf die Inhaltsseite oder die Ausdrucksseite von Sprache beziehen. Ein Bezug auf die Inhaltsseite hat den Vorteil, dass ein solches Schriftzeichen in unterschiedlichen Sprachen gleich verstanden werden kann. So wird z.B. das arabische Zeichen "1" in den meisten Schriften der Welt zwar unterschiedlich ausgesprochen, aber in gleicher Weise verstanden. Die korrespondierenden lautsprachlichen Wörter für dieses Zeichen werden hingegen nur in den jeweiligen Einzelsprachen verstanden. Ähnliches gilt für viele Han-Schriftzeichen:"

[Hier folgen einige Beispiele.]

"Ein und dasselbe Schriftzeichen kann in allen drei Sprachen verwandt werden. Die jeweiligen Aussprachen unterscheiden sich, aber die Bedeutung bleibt gleich, so dass die einzelnen Schriftzeichen wechselseitig verstanden werden. Dies ist natürlich ein großer Vorteil für die schriftliche Kommunikation."

In Wirklichkeit ist die chinesische Schrift eine Morphemschrift und so wenig auf die Inhaltsseite bezogen wie die lateinische. Daß die Zeichen in anderen Schriftsystemen mitverwendet werden, tut nichts zur Sache. In jeder Sprache und jedem Dialekt haben die chinesischen Zeichen eine einzige Aussprache, im Gegensatz zu echten Begriffsschriften wie den Piktogrammen und Verkehrszeichen, die man auf verschiedene Weisen "verbalisieren", d. h. überhaupt nicht im engeren Sinne "lesen" kann. Auch das arabische Schriftzeichen "1" hat jeweils einen ganz bestimmten Wortlaut und ist daher auf Wörter und nicht auf Inhalte bezogen.


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