16.05.2005


Theodor Ickler

Jeder gegen jeden

Es ist bekannt, daß die Reformer heillos zerstritten waren, bevor sie ihr Werk ablieferten.
Das ging bis ins Persönliche (Sitta und Gallmann gegen Nerius – im Fußnotenkrieg noch faßbar, es gibt aber auch mündliche Überlieferungen). Nerius hatte für die meisten Neuerungen, insbesondere für Augsts Ideen, nur Verachtung übrig. Das alles braucht uns nicht sehr zu interessieren. Zur Sache gehört aber, daß praktisch alle Reformer schon damals wußten, wie schlecht ihr Werk war. Nerius distanzierte sich bereits 1996 ("Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung". Berlin: Volk und Wissen) von der vermehrten Großschreibung überhaupt und insbesondere der Tageszeiten, von der Kleinschreibung fester Begriffe, von der Augstschen Etymogelei, von der gewaltsamen Getrenntschreibung, von der Nichttrennung des ck, vom Komma nach wörtlicher Rede und Ausrufe-/Fragezeichen und vom Apostroph als Genitivzeichen sowie der endlosen Vermehrung der Varianten. Gallmann und Sitta erklärten die Neuregelung pauschal für "nicht gut" und hatten auch in Einzelheiten viel Kritik anzubringen. Die Kommasetzung wurde von Gallmann in Grund und Boden kritisiert und durch eine Rekonstruktion der bisherigen ersetzt. Augst war zwar stolz darauf, daß er eine Reform auf den Weg gebracht hatte, aber er wußte auch, daß sie inhaltlich nichts mehr mit seinen "geliebten Zielen" zu tun hatte – bis auf die Etymogeleien, die aber dann das ganze Unternehmen in Mißkredit brachten. Der blasse Heller gestand die Mißratenheit mancher Regel ohne weiteres ein und schob sie auf den Kompromißcharakter des Regelwerks, also auf die anderen. Blüml relativierte, es komme sowieso nicht auf die Regeln an, sondern auf die Entmachtung des Duden. Wie Munske das Unternehmen beurteilte, zeigte sich sehr bald.

Wie wenig die Väter der Reform von ihrem Kind hielten, zeigte sich z. B. an der Dissertation von Gunnar Böhme "Zur Entwicklung des Dudens ...", die von Nerius betreut und von Augst mitherausgegeben wurde: 2001 in alter Rechtschreibung! Böhme begründete das im Vorwort u. a. mit einer "Verbeugung vor Konrad Duden" ...
Auch der repräsentative Kommentar zur Neuregelung, der bekannte Sammelband von Augst, Blüml et al. erschien 1997 in klassischer Rechtschreibung.

Man versteht vieles an der ganzen Diskussion besser, wenn man weiß, daß die Reformer von Anfang an gegen ihre Überzeugung handelten und etwas verteidigten, was sie selbst für nicht gelungen hielten. Liest man die unveröffentlichten Stellungnahmen aus dem neuen "Rat", dann kommt man aus dem Staunen nicht heraus, was da alles gefordert wird: gemäßigte Kleinschreibung, Abschaffung des ß ... War das der Zweck der Übung? Ein solches Durcheinander anrichten, damit dann die "geliebten Ziele" von einst als Rettung dargestellt werden können?


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