01.11.2007


Theodor Ickler

Für Nachwuchsgermanisten

Bemerkungen zu einem neuen Einführungsbuch

Busch, Albert/Stenschke, Oliver (2007): Germanistische Linguistik. Tübingen (bachelor-wissen)

(Stenschke hat den "Diskurs über die Rechtschreibreform" in einer Dissertation behandelt. Er hat auch das Themenheft von German Life and Letters herausgegeben, auf das hier schon einmal hingewiesen wurde.)

Reformierte Rechtschreibung und politisch korrekt (Sprecherinnen und Sprecher usw.). Die Fremdwörter werden auf ihre lateinischen und griechischen Ursprünge zurückgeführt (nicht immer ganz richtig, etwa zu „Symbol“), aber es wird trotzdem getrennt Diph-thong, Kons-tituenten, subs-tantiviert. Es wird regelmäßig geschrieben Genitivus auctoris usw., also mit der nun verbotenen Kleinschreibung. Trennung klein-sten (201). Die überaus häufig vorkommenden Pronomina Ersterer und Letzterer werden reformgetreu stets groß geschrieben, als nächstes (102), der erste (136) und der einzelne (211) fälschlicherweise klein, aufwändig mit ä und Du groß (159). Die Gesellschaft für deutsche Sprache schreibt sich weiterhin mit kleinem d (dreimal falsch S. 4). Der bekannte Valenzgrammatiker heißt Schumacher (ohne h). Periphrastisch wird sehr originell von periphrasso „ringsum einschließen“ abgeleitet (111), weil die Formen Teile eines Satzes einschließen: Ich werde im Krankenhaus behandelt. In Wirklichkeit kommt es von periphrasis, was die Römer ganz richtig mit circumlocutio wiedergaben. Ebenso originell ist die Herleitung von Synkretismus: „griech. syn = zusammen, kretismos = Lug und Trug (nach Art der Kreter)“.
Druckfehler: diesem Beispiels (173)
Zu fast jedem Kapitel werden die sprachwissenschaftlichen Wörterbücher von Bußmann und Glück als Quellen genannt (und auch im Text so genutzt).

Der Abriß über die Geschichte der Sprachwissenschaft ist ziemlich naiv und offensichtlich aus zweiter Hand gearbeitet. Von Hermann Paul wird der Psychologismus vorgestellt, aber nicht seine viel wichtigere Auffassung, daß nur die geschichtliche Sprachforschung wissenschaftlich sei. Bei den „Übungen“ sollen die Junggrammatiker der These zuordnet werden: „Sprache vollzieht sich nach ausnahmslosen Lautgesetzen.“ In Wirklichkeit wird dies vom Sprachwandel gesagt, nicht von der Sprache.
Der griechische Grammatiker hieß Dionysios und nicht Thrax (6).
Chomsky wird unkritisch überschätzt (zumal die TG später im Buch keine Rolle mehr spielt), ebenso Saussure.
Der erste der beiden Verfasser schreibt Karl Bühler die tautologische These zu, Sprache sei ein Werkzeug „zur Bewältigung sprachlicher Aufgaben“. Der zweite Verfasser sagt im folgenden Kapitel zutreffend, nach Bühler sei die Sprache ein Werkzeug, „womit einer dem anderen etwas über die Dinge mitteilt.“
Humboldts Ansicht über die Sprache als „Energeia“, nicht „Ergon“, gehört wohl zu den besonders schwer interpretierbaren Sätzen der Wissenschaftsgeschichte und wird auch nicht weiter erläutert. Trotzdem wird unter den Übungen die Aufgabe gestellt: „Unterscheiden Sie mit Humboldt ERGON und ENERGEIA. Lässt sich die Unterscheidung auf den 'Sprachpanscher-Text' sinnvoll anwenden?“ Was soll der Student mit seinem rudimentären Wissen dazu sagen?

Der Buchstabe o soll ein „kleiner, manchmal ovaler Kreis“ sein. (18)
Im Semiotik-Kapitel findet man den blau unterlegten Lehrsatz:
„Zeichen: Die wesentliche Eigenschaft des Zeichens ist seine Stellvertreter-Funktion. Ein Zeichen wird dadurch zum Zeichen, dass es für etwas anderes steht.“
Man braucht bloß die Wörter dieses Satzes durchzugehen und bei jedem zu fragen, wofür es stellvertretend steht: ist, wird, zum, etwas usw. Andererseits kann ich einen Baumstumpf stellvertretend für einen Tisch nehmen und benutzen, ohne daß er dadurch zum Zeichen würde.
Es ist ungeschickt, die Wörter bicycle und Fahrrad als Beispiele für unmotivierte Zeichen anzuführen, denn beide sind offensichtlich motiviert. (22)

Daß die Sprachwissenschaft vor dem Aufkommen des Strukturalismus „vor allem historisch orientiert“ gewesen sei, kann man so nicht sagen. Die historische Betrachtung war ja gerade das Neue gewesen, nachdem man über 2000 Jahre lang kaum dazu imstande gewesen war, und selbstverständlich gab es auch im ganzen 19. Jahrhundert eine Menge synchronische und ante litteram auch „strukturalistische“ Sprachforschung.

Aus dem Vokaltrapez S. 26 geht wie aus dem Original bei Bußmann hervor, daß das a in Rat gerundet sei, was sicher nicht zutrifft.
Die phonetische Umschrift ist zum Teil uneinheitlich (vgl. etwa Tab. 3.14), zum Teil benutzt sie falsche Transkriptionszeichen (64ff.).

Bei den Graphemen wird von bedeutungsunterscheidender Funktion gesprochen, die Ebene der zunächst zu differenzierenden Morpheme wird außer acht gelassen.
Die chinesische Schrift wird mit Dürscheid (die ebenfalls kein Chinesisch versteht) so gedeutet: Die Zeichen „rufen beim Leser keine lautliche, sondern eher eine gedankliche Gesamtvorstellung des Wortes hervor, auf das sie sich beziehen.“ Was soll das heißen? Jedes Zeichen vertritt ein sprechbares, und zwar in der jeweiligen Variante des Chinesischen mit einem ganz bestimmten Wortlaut sprechbares Morphem, und dies wird hervorgerufen, nicht anders als bei deutsch geschriebenen Wörtern.

Bei halt sagen sei klein zu schreiben, weil halt eine Interjektion ist. Warum sieht die Neuregelung dann fakultativ auch Halt sagen vor? (Dasselbe gilt für das nicht erwähnte ja/Ja sagen.)
Orthographie wird als „explizit geregeltes, konventionalisiertes System von Normen, nach dem für jedes Wort in der Regel nur eine einzige Schreibweise gültig ist“ definiert. Konventionalisiert ist freilich die ganze Sprache, explizit ist aber die Schreibweise in vielen Ländern nicht geregelt, jedenfalls nicht staatlich – haben sie dann keine Orthographie, die man lernen kann und muß?

Das Wort sogenannt wird immer zusammengeschrieben, auch wo es getrennt geschrieben werden müßte: „die im amtlichen Regelwerk sogenannten Laut-Buchstaben-Zuordnungen“. (69)
Da der Verfasser des Orthographie-Kapitels über die Rechtschreibung und ihre Reform gearbeitet hat, sollte er wissen, daß selbstständig keine orthographische Variante von selbständig ist. (70)
Die Logik der bisherigen ß-Schreibung ist dem Verfasser anscheinend nicht klar. (71)
In den Literaturangaben zur Rechtschreibung findet man erwartungsgemäß keine reformkritischen Schriften, und im Text wird suggeriert, der Protest gegen die Reform beruhe vor allem auf der Liebe zu alten Gewohnheiten sowie auf Abneigung gegen die Fremdworteindeutschung.

Bei der Konstituentenanalyse von Wortbildungen gehen die Verfasser so weit, aus Schrift ein Morphem schreib- herauszuanalysieren, wobei sie freilich anmerken, ohne historische Kenntnisse gehe es nicht. Damit ist klar, daß die ganze Wortbildungsanalyse wieder einmal synchrone und diachrone Verfahren durcheinandermischt. Geradezu haarsträubend wird es aber, wenn der Verbstamm schreib- als „freies“ Morphem gewertet wird, weil es „als Imperativ selbständig ist“. Bei nehm- sei das nicht der Fall. Diese zufälligen Beziehungen dürfen aber auf keinen Fall herangezogen werden, weil der Imperativ eine vorkommende Wortform ist, der Verbstamm jedoch eine abstrakte Größe, die allenfalls zitiert werden kann. Der Imperativ schreib! hat mit der Abstraktbildung Schrift gar nichts zu tun, man kann nicht einmal von Homophonie sprechen, weil die fälschlich gleichgesetzten Größen auf verschiedenen Ebenen liegen.

Der ausführlich behandelte Begriff „Konfix“ fehlt im Register. (Viele Wortbildungsforscher, die den Begriff verwenden, würden ihn nicht auf Fremdelemente beschränken, sondern auch einheimische Gebilde wie Schwieger- dazurechnen.)

Daß unterschiedliche viele Wortarten angesetzt werden, weiß man doch auch ohne Dürscheids vage Angabe, die Zahlen reichten von vier bis zu mehreren Dutzend. (120)

Sehr breit (aber ohne Heranziehung der neueren Arbeiten, etwa J. Jacobs) wird die Unterscheidung von Ergänzungen und Angaben abgehandelt, mit Ulrich Engel als Hauptgewährsmann. Zur Wortstellung findet man dann gar nichts, nur den Hinweis, sie würde zuviel Raum einnehmen und werde daher in diesem Buch nicht behandelt. Man vermißt auch Einsichten in die hierarchische Beziehung der angeblich vom Verb abhängigen Ergänzungen.

Daß die „traditionelle Grammatik“ Akkusative der Erstreckung nicht kenne (153), kann man nur sagen, wenn man diese Grammatik nicht kennt.

helfen und unterstützen werden für gleichbedeutend erklärt, und die Verfasser wundern sich dann über die unterschiedliche Rektion – ein fast schon klassischer Irrtum, vgl.: Damals bildete er sich ein, Napoleon zu sein. Sein Psychiater hat ihn unterstützt vs. Sein Psychiater hat ihm geholfen.

Der Attribut-Begriff ist stark an Ulrich Engel angelehnt, und die Tabelle S. 168 dürfte z. B. in Bayern kaum eine geeignete Vorlage für Staatsexamensklausuren bilden. Das gilt auch für die Auffassung des Pertinenzdativs als Attribut (u. a. mit der irrelevanten Begründung, er lasse sich als Genitivattibut umschreiben, und als wenn es keinen Unterschied gäbe zwischen Der Ball klatschte dem Spieler an die Stirn und Der Ball klatschte an die Stirn des Spielers) (178). Die Abbildung 10.13 enthält eine nichtinterpretierbare Konstituente dem Spieler an die Stirn (als NP!).

Auf S. 205 findet man eine Abbildung des Gehirns mit drei riesigen Arealen, in denen jeweils Informationen über Menschen, über Tiere und über Werkzeuge gespeichert sein sollen. Für andere schöne Dinge bleibt da kaum noch Platz. Diese kühne Darstellung geht wahrscheinlich auf PET-Untersuchungen von Hanna Damasio zurück. Die Fragwürdigkeit solcher Lokalisationen ist bekannt, hier werden sie ganz kritiklos weitergetragen.

Die kurzen letzten Kapitel über Pragmatik und Textlinguistik sind anscheinend recht lustlos geschrieben und enthalten die üblichen Trivialitäten (Searle, Grice).


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