23.06.2005


Hubert Spiegel

Verspielte Gelegenheit

Unter allen Reformen, die in diesem Land dringend nötig sind, läßt sich keine so einfach ins Werk setzen wie die Reform der Rechtscheibreform.

Denn man kann auf ein bewährtes Regelwerk zurückgreifen, das in allen wesentlichen Teilen seinen Zweck erfüllte, bevor es blindem Reformeifer zum Opfer fiel. Daß die Reform der Reform machbar ist, hat der Rat für Rechtschreibung gezeigt, als er unlängst die Rücknahme von wichtigen Teilen der Reform empfahl. Damit war der entscheidende erste Schritt auf dem Weg zur Reform der Reform getan. Hans Zehetmair, der ehemalige Kultusminister Bayerns und jetzige Vorsitzende des Rates, wollte die vermutlich letzte Chance nutzen. Die Rechtschreibreform, seit Jahren ein häßliches Symbol für Reformunfähigkeit, Inkompetenz, verkrustete Strukturen und Hinterzimmerpolitik, sollte als Beispiel dafür dienen, daß in diesem Land einmal gemachte Fehler nicht zwangsläufig als schicksalhaft und unabänderlich betrachtet werden müssen. Viele Ratsmitglieder, die wie Zehetmair selbst am Zustandekommen der Reform beteiligt waren, sind bereit, ihrem Vorsitzenden auf diesem Weg der Einsicht zu folgen.

Auch die Reform der Reform hätte zweifellos Symbolkraft gehabt. Diesmal wäre es ein positives Symbol gewesen. Aber die Kultusminister reagierten auf diese Chance mit einem Bubenstück, das den Rat düpieren und desavouieren sollte. Noch während das von ihnen eingesetzte Expertengremium tagte, verkündeten die Minister, die Reform werde wie angekündigt zum 1. August in Kraft treten, allerdings nur in Teilen. Entgegen den Versprechungen wird also zu diesem Termin wieder kein geschlossenes Reformwerk vorliegen. Das Chaos geht weiter, die Lage wird noch unübersichtlicher, der Verwirrung in den Schulen ist kein Ende. All dies nehmen die Kultusminister in Kauf. Sie wollen sich der von ihnen eingesetzten Fachleute wieder entledigen, weil diese es gewagt hatten, ihr Wissen und ihr Sprachempfinden, die öffentliche Meinung und die Souveränität der Sprachgemeinschaft über das Meinen und Wollen einer kleinen Gruppe von Politikern zu stellen, die seit Jahren wenig mehr mit der Reform verbindet als die Hoffnung, ihr Gesicht zu retten.

Bereits vor zwei Jahren hat der niedersächsische Ministerpräsident Wulff seine Kollegen aufgefordert, die Rechtschreibreform zur „Chefsache“ zu machen. Damals fand Wulff zwar Unterstützung, aber nicht einmal in den eigenen Reihen eine Mehrheit. Jetzt jedoch ziehen alle Ministerpräsidenten der unionsgeführten Länder an einem Strang; sie forderten auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin ein Moratorium der Rechtschreibreform. Die Ministerpräsidentenkonferenz sollte die Kultusminister anweisen, die Rechtschreibreform ein Jahr lang auszusetzen, damit der Rat Gelegenheit erhält, seinem Auftrag zu folgen und die Reform zu reformieren. Der Rat selbst hat sich dieser vernünftigen Forderung sofort angeschlossen. Der Inhalt der Reform, so Hans Zehetmair, sei wichtiger als der Zeitpunkt ihres Abschlusses. Aber weil die Ministerpräsidentenkonferenz Einstimmigkeit verlangt und die SPD-regierten Länder ihre Stimme verweigerten, wurde der Antrag abgelehnt. Jetzt wird also der Torso einer Rechtschreibung amtlich, dessen jammervoller Zustand ein Fortleben der Reformdebatte nach dem 1. August garantiert.

Keine Garantie möchte man allerdings für das Fortleben der Kultusministerkonferenz übernehmen. Denn es ist weder anzunehmen, daß das Ergebnis dieser Abstimmung für die Ministerpräsidenten der Union überraschend kam, noch daß sie es bei dieser Niederlage bewenden lassen. Wulff spielte schon vor zwei Jahren laut und vernehmlich mit dem Gedanken, Niedersachsen könne das Gremium verlassen. Der Gedanke dürfte auch für andere Bundesländer zunehmend an Reiz gewinnen.

F.A.Z., 24. 6. 2005



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