01.04.2006


Iris Hanika

Mein Handwerkszeugskasten

Was ich gesagt haben wollte

Am Donnerstag nachmittag war ich von „Deutschlandradio Kultur“ eingeladen, mich über die Rechtschreibreform zu äußern. Ich hatte mich vorbereitet.

Auf meinem Stichwortzettel stand: „Fühle mich persönlich angegriffen durch diese ,Reform‘; die geschriebene Sprache ist mein Material ebenso wie mein Handwerkszeug; ich bin vollkommen abhängig von der geschriebenen Sprache und muß mich auf sie verlassen können.

– Wer mit Sprache arbeitet, stößt jeden Tag auf ein Problem, für das es keine vorgegebene Lösung gibt; dieser Zustand muß nicht künstlich verschärft werden. In der Malerei würde niemand vorschreiben, daß ab sofort keine Pinsel unter drei Zentimeter Durchmesser mehr verwendet werden dürfen, in der Musik würde man nie und nimmer bestimmte Akkorde mit einem Bann belegen; einem Bäcker nimmt man nicht das feine Mehl weg, einem Tischler nicht das besonders schöne Holz, und einem Arzt entzieht man nicht die Pinzette und gibt ihm dafür eine Zange aus dem Heimwerkermarkt.

– Dabei geht es um die Schriftsteller am allerwenigsten, denn die können sowieso schreiben, wie sie wollen, und sich, wenn sie es für nötig halten, sogar ihre eigene Sprache schaffen. Warum sollen aber Leute, die einzig und allein zur Verständigung schreiben, zur Informations- und Nachrichtenübermittlung, warum sollen ausgerechnet diese ihre Aufgabe mit unzureichenden Mitteln erfüllen? Warum wird ausgerechnet denen, die nicht hauptberuflich ein Sprachgefühl haben, zugemutet, sich unpräzise auszudrücken?

– Tapsiges Schriftbild: Texte sehen aus wie von Idioten für Idioten geschrieben (,eine Hand voll Soldaten‘; ,das tut mir Leid‘); das ist der Stand von etwa 1800; was die Trennungen angeht, der aus dem Barock, also aus der Zeit um 1650.

– Die Zerstörung der Schriftsprache ist ein Zeichen der Dekadenz; beschleunigt den Verfall Deutschlands.

– ,Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke‘, schreibt Max Horkheimer in seiner ,Dialektik der Aufklärung‘. Die Chinesen, die sich ein weitaus schwierigeres Schriftsystem einbleuen müssen als unsereins, überholen uns derzeit mühelos; man könnte sich vorstellen, daß die einfach intelligenter sind.

– ,ss‘-Regel schwieriger als die bewährte ,ß‘-Regel: Früher konnte man sich die Schreibung mechanisch ausrechnen, jetzt muß man musikalisch sein; am Wortende werden jetzt nur solche Wörter mit ,ss‘ geschrieben, die vorher mit ,ß‘ geschrieben wurden; die zuvor mit ,s‘ geschriebenen wurden nicht angetastet – Nietzsche schreibt ,Erkenntniss, Geheimniss‘ usw., wir nicht, unlogisch!“

Das meiste hiervon habe ich nicht gesagt; das andere wurde vor der Sendung herausgeschnitten. Ich bin nicht gut im konfrontativen Sprechen, erst recht nicht im öffentlichen Diskutieren; darum habe ich tatsächlich auf die Fragen des Redakteurs geantwortet, statt bei meinen Stichpunkten zu bleiben und auf das hinzuweisen, was mich wirklich erschreckt an dieser sogenannten Reform: die Hybris einiger Professoren und der meisten Politiker; ihre Anmaßung, ohne Not und nach ihrem Gutdünken etwas regulieren zu wollen, das den meisten Menschen wie etwas natürlich Gegebenes erscheint und das sie darum hinnehmen – als etwas Lebendiges und etwas Gewachsenes, das immer weiter wächst. Einem blühenden Baum haut man auch nicht die Äste ab, man bindet höchstens den einen oder anderen zur Seite. Genauso entwickelt sich auch die Schriftsprache. Alles andere ist Gewalt und bösartig. Viele Leute erleben es genauso.

„Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke“, hätte ich gerne zitiert, um darauf hinzuweisen, daß Wahrnehmungs- und Differenzierungsvermögen Merkmale von Intelligenz sind; daß das Training eines solchen Vermögens die Intelligenz befördert und daß zu einem solchen Training durchaus der Versuch gehört, sprachliche Feinheiten auch schriftlich wiederzugeben.

Das alles hätte ich sagen wollen und habe ich nicht gesagt, weil ich mich nun einmal nur schriftlich überhaupt einigermaßen ausdrücken und mitteilen kann. Ebendarum geht mir diese Reform ja so nahe.

(F.A.Z., 1. 4. 2006, S. 39)



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