04.07.2006


Reinhard Markner

Ironie der Schriftgeschichte

Mit der jüngst beschlossenen zweiten Reform der Rechtschreibreform ist unklarer denn je, was eigentlich die „neue“ Rechtschreibung ausmacht.

Ob vonseiten oder von Seiten, nichts sagend oder nichtssagend, vermissen lassen oder vermissenlassen, die amtliche Norm ist eine Orthographie (oder Orthografie) des Sowohl-als-auch. Der nächste Duden wird schätzungsweise 1800 solcher Alternativen aufführen, die Silbentrennung nicht eingerechnet.

Von der fortschreitenden Ausweitung der Toleranzzonen unberührt bleibt die Neuverteilung von ss und ß, das Schibboleth der Reform. Eine einheitliche Regel herrscht allerdings auch hier nicht, denn in der Schweiz gilt das ß offiziell als obsolet: Schweizer Schüler sollen Strasse schreiben, deutsche dürfen es nicht.

Erstaunlicherweise ist bis heute nicht befriedigend geklärt, wie es in den 1930er Jahren zur Abschaffung des ß in schweizerischen Schulen und Behörden kam. Auch die historischen Wurzeln des deutschesten aller Buchstaben liegen noch immer nicht offen zutage, wenngleich in letzter Zeit Fortschritte zu verzeichnen waren. Der Typograph Max Bollwage behauptete 1999 im „Gutenberg-Jahrbuch“, das ß sei in den gebrochenen Schriften deutscher Schreiber und Drucker ursprünglich nicht als Ligatur aus dem langen ſ und einem geschwänzten z zusammengesetzt worden, sondern aus dem ſ und einem Kürzel, das dem z lediglich ähnlich sehe. Dem widersprach der Linguist Herbert Brekle zwei Jahre später an gleicher Stelle. Ein Zusammenhang zwischen ß-ähnlichen Abbreviaturen und der Entwicklung des eigentlichen ß sei nicht nachweisbar. Hier bleibt für die Paläographie noch einiges zu tun.

Wenigstens die Urheber der herkömmlichen Verteilung von ss und ß lassen sich namhaft machen. Als Wegbereiter gilt Johann Christoph Gottsched (1700–1766) mit seiner „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst“, die Durchsetzung wird Johann Christoph Adelung (1732–1806) zugeschrieben. Dieser bemerkte in seinem bahnbrechenden „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“: „Das ß (Eßzet) ist der Figur nach freylich auch nichts anders, als ein doppeltes ſſ, weil das z, welches dessen letzte Hälfte ausmacht, ehedem sehr häufig die Stelle des s vertreten mußte. Es wurde vor diesem auch beständig mit dem ſſ fast ohne allen Unterschied als gleichgültig gebraucht, und erst in diesem Jahrhunderte hat man angefangen, es noch von demselben zu unterscheiden“.

Das von den Reformern unserer Tage exhumierte Gegenkonzept zu dieser Unterscheidung ist zwar nicht mehr ganz frisch, aber doch jüngeren Datums. Gewöhnlich wird es als Heysesche Schreibung bezeichnet. Als der Magdeburger Grammatiker Johann Christian August Heyse (1764–1829) gegen Ende seines Lebens plötzlich dafür warb, Haſſ und Gedächniſſ zu schreiben, sprach ein Rezensent tatsächlich von einer „unerhörten Neuerung“. Das waren diese Vorschläge aber keineswegs. Sie lassen sich mindestens bis auf Friedrich Carl Fulda (1724–1788) zurückverfolgen, einen schwäbischen Pfarrer, der sich nebenher als Sprachforscher betätigte. Heyse selbst verwies insbesondere auf Johann Gottlieb Radlof (1775–1846), der 1820 in seiner „Ausführlichen Schreibungslehre der teutschen Sprache“ vierzig Seiten den „Säusel- und Zischlauten“ gewidmet hatte.

Fulda wie Radlof stießen sich an der Absicht des Dresdner Bibliothekars Adelung, den obersächsischen Sprach- und Schreibgebrauch für vorbildlich zu erklären. Beide hielten sie das „Meißnische“ für unrein und den Usus überhaupt für unmaßgeblich. Fulda, der nach vorzeitlichen „Urlauten“ und „Wurzelwörtern“ suchte, sah im Schwäbischen ein besonders unverfälschtes Deutsch. Radlof wiederum sann fortwährend nach Veränderungen nicht nur der Rechtschreibung – Arz’t statt Arzt, Mär statt Meer –, sondern auch der grammatischen Terminologie – Weiblaut statt Vokal, Herrschwort statt Subjekt.

Während sich Fulda und Radlof mit ihren wunderlichen Ideen ins Abseits stellten, war Heyse seit 1814 mit seinen Grammatiken äußerst erfolgreich. Beinahe jährlich wurden neue, jeweils überarbeitete Auflagen fällig. Jede Fassung der „Theoretisch-praktischen deutschen Grammatik“ und ihrer schmaleren Schulversion sollte nach dem Willen des Autors besser sein als die voraufgegangenen.

Im Falle der ſſ/ß-Regelung korrigierte sich Heyse gleich zweimal binnen weniger Jahre. Abzulesen ist das nicht nur an den betreffenden Paragraphen seiner Grammatiken, sondern auch an der Debatte, die zur gleichen Zeit in der „Allgemeinen Schul-Zeitung“ geführt wurde. Hier hatte im November 1826 der Heidelberger Altphilologe Felix Sebastian Feldbausch (1795–1868), kein großer Freund orthographischer Experimente, die gewöhnliche ſſ/ß-Unterscheidung gerechtfertigt, zugleich aber beiden Formen die gleiche stimmlose Aussprache zugewiesen. Anders als gelegentlich behauptet, unterscheide sich das ſſ nicht durch ein „stärkeres Zischen“ vom ß.

Einige Wochen darauf bedankte sich Theodor Tetzner, ein Kollege aus Langensalza, in einem offenen Brief an Heyse für die Zusendung der 4. Auflage der großen Grammatik. In der Neubearbeitung war durchgängig das ß nach kurzem Vokal im Auslaut und vor t durch ſſ ersetzt worden. Die Veränderung, so Tetzner, sei „ohne hinreichenden Grund“ erfolgt und stehe im Widerspruch zu Heyses Grundsatz, „dem Usus große Gerechtsame“ einzuräumen. Vor allem könne es kaum überzeugen, das einzelne ſ am Silben- oder Wortende traditionsgemäß durch s zu ersetzen, das ſſ hingegen in gleicher Position zu dulden.

Tetzners Einwendungen waren gerade im Druck, als die Redaktion der „Schul-Zeitung“ von Heyse „Einige Bemerkungen über den Gebrauch der Consonanten ſ (s), ſſ und ß“ erhielt, in denen dieser seine Entscheidung verteidigte. Aber Heyse bekam offenbar zu spüren, wie wenig seine Argumente gerade unter seinen treuesten Schülern verfingen. Kurzentschlossen folgte er einem freundschaftlichen Wink Tetzners: „Lieber würde ich vorschlagen, ein neues Zeichen zu creiren . . . ein ſ zu verbinden mit einem s.“

Dieses Zeichen, das für Heyses Schulgrammatik eigens neu gegossen wurde, war dem Fraktursatz fremd und sollte dort auch nicht heimisch werden. Die Antiquakursive hingegen kannte es schon seit Lodovico Arrighis Lehrbuch „La Operina“ von 1522: das ß, eine Ligatur aus ſ und s. Die Heysesche Formel in ihrer Fassung letzter Hand forderte nicht so sehr die Abschaffung des ß, als vielmehr die Einführung eines neuen, eigentlich schon sehr alten. In der Antiqua, die in Deutschland seit 1941 als „Normalschrift“ gilt, stand es längst zur Verfügung.

Frankfurter Rundschau, 4. 7. 2006



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