02.01.2008


Peter Müller

Endlich ein Konsens in Sicht

„Zu viele Varianten treiben die Kosten hoch und werden deshalb von den Buchdruckern seit je abgelehnt“

Im Fachblatt „Schweizer Journalist“ (12/2007) stellt der Beauftragte für Rechtschreibung und Direktor Marketing & Informatik der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) vor.


Die verunglückte Rechtschreibreform hat zahlreiche Probleme hinterlassen. Zwei sind für unsere Branche besonders gravierend: die Erschwerung des Lesens und die Vervielfachung der Varianten.

Erschwerung des Lesens

Die Rechtschreibreform hat durch die Einebnung von Bedeutungsunterschieden das Lesen erschwert. Das ist ein fataler Ansatz in einer Zeit, in der das Lesen und die Zeitungen in der Defensive sind. Gefordert ist vielmehr, dem Leser den Zugang zu den Texten möglichst zu erleichtern, u.a. durch eine Rechtschreibung, die Bedeutungsunterschiede durch Unterscheidungsschreibung kennzeichnet.

Genau dies hat im September 2004 Nationalrätin Kathy Riklin in einem Postulat gefordert: „Erreicht werden soll dieser Konsens namentlich durch eine Änderung des neuen Regelwerkes, wodurch die bisher möglichen Bedeutungsdifferenzierungen durch Zusammen- und Getrenntschreibung erhalten bleiben.“ Der Bundesrat antwortete im November 2004, er teile das Anliegen der Postulantin, und versprach, sich für eine entsprechende Änderung des Regelwerkes einzusetzen.

Der neue Rat für deutsche Rechtschreibung sollte in der Folge den von der Zwischenstaatlichen Kommission angerichteten Schaden begrenzen. Die Konferenz der Erziehungsdirektoren EDK entsandte allerdings wiederum die bisherigen Mitglieder der aufgelösten Kommission in den neuen Rat. Es kam, wie es kommen musste: Parallel zu den neuen formalistischen wurden auch die Schreibweisen der bisherigen semantischen Rechtschreibung wieder erlaubt, aber ohne die Bedeutung zu differenzieren! Das Resultat, die Regelung 06, ist ein heilloses Durcheinander: wohl bekannt kann nun auch wieder wohlbekannt geschrieben werden, soll aber das gleiche bedeuten. Das Anliegen der Postulantin Riklin ist damit natürlich keineswegs erfüllt.

Vervielfachung der Varianten

Resultat der Schadensbegrenzung ist eine Vervielfachung der Varianten. Varianten sind in der grafischen Industrie seit je unbeliebt. Sie sind kostentreibend, weil sie zu Unsicherheit und vermehrter Korrekturarbeit führen und weil Hausorthographien erstellt werden müssen, um im einzelnen Betrieb die erwünschte Einheitlichkeit zu sichern.

Die politisch Verantwortlichen wissen, dass die Reform einen Scherbenhaufen hinterlassen hat. Aber sie haben sich vom Thema verabschiedet, es gibt hier keine Lorbeeren mehr zu holen. Johanna Wanka, die ehemalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), bekannte in einem Interview mit dem Spiegel im Januar 2006 freimütig: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“

In dieser verfahrenen Situation formierte sich 2006 die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK), mit dem Ziel, in der Deutschschweizer Presse wieder eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung zu etablieren. Zunächst war die Variantenflut einzudämmen. Dies geschieht ganz einfach durch die Anwendung des Grundsatzes „Bei Varianten die herkömmliche“ (siehe Kasten). Varianten sind jedoch nur unterschiedliche Schreibweisen, die das gleiche bedeuten. Alles andere sind unechte Varianten. Die SOK empfiehlt, in diesen Fällen den Bedeutungsunterschied kenntlich zu machen.

In einigen Fällen hat die Regelung 06 nicht nur unechte Varianten zu echten erklärt, sondern eine unterscheidende Schreibweise eliminiert. Bekanntestes Beispiel ist wohl greulich/gräulich, das nur noch mit ä geschrieben werden soll.

Die SOK empfiehlt in diesen Fällen, bei der Unterscheidungsschreibung zu bleiben. Bei ihrer Arbeit zur Eindämmung der Varianten und Wiederherstellung der Unterscheidungsschreibung hat die SOK Empfehlungen zu weiteren Unzulänglichkeiten der Regelung 06 erarbeitet. Dabei handelt es sich um willkürliche Änderungen, offensichtliche Fehler, Komplizierungen und die Missachtung des Schweizer Usus.

Ein Beispiel: Anscheinend willkürlich herausgepickte ä-Schreibungen und Einzelfallregelungen. Die von e auf ä geänderten Schreibweisen sind willkürlich herausgepickt. Mit der gleichen Begründung der „Stammschreibung“ hätte man auch belägt (wegen Belag), dänken (wegen Gedanken) und Dutzende weiterer Wörter verändern können. Die SOK empfiehlt deshalb, diese geänderten Schreibweisen nicht zu beachten.

Falsche Herleitungen und Tageszeiten

Der „Blick“ titelte am 16. August 2004 in einem Artikel über die Rechtschreibung: „Streicht das Belämmerte!“ In einigen Fällen hat die Regelung 06 als angebliche Erleichterung für Primarschüler nämlich falsche Herleitungen nicht nur als Variante erlaubt, sondern zur einzigen Schreibweise erhoben: belämmert (statt: belemmert), platzieren (statt: plazieren), nummerieren (statt: numerieren), Plattitüde (statt: Platitüde) usw. Das ist nicht akzeptabel, und die SOK empfiehlt deshalb wie der „Blick“, diese falschen Herleitungen nicht zu verwenden.

Bei den Angaben von Tageszeiten wie heute abend kann selbst nach den Kriterien der Regelung 06 kein Substantiv stehen. Die SOK empfiehlt die überzeugende, einfache Lösung von Walter Heuer, dem früheren Chefkorrektor der NZZ: Die Bezeichnungen der Tageszeiten werden in Verbindung mit heute, gestern, morgen oder wenn sie neben dem Namen eines Wochentags ohne Artikel stehen, klein geschrieben: heute abend; Dienstag morgen. Steht der Artikel vor dem Tagesnamen, so wird die Verbindung zusammengeschrieben: ein Sonntagabend. Geht der Fügung eine mit dem Artikel verschmolzene Präposition (am, zum) oder bis voraus, so sind je nach Betonung beide Schreibweisen richtig: am Mittwochmorgen/Mittwoch morgen, bis Freitagabend/Freitag abend.

Gross- und Kleinschreibung

In einigen Fällen hat die Regelung 06 zu unnötigen Komplizierungen geführt, zum Beispiel bei der Gross-/Kleinschreibung von pronominal und adverbial gebrauchten Ausdrücken. Im 19. Jahrhundert wurden solche Ausdrücke ziemlich konsequent gross geschrieben. Demgegenüber hat die moderne Rechtschreibung des 20. Jahrhunderts den kleinen Buchstaben gewählt. Die Regelung 06 bleibt in einigen Fällen beim kleinen Buchstaben (ein bisschen, vor allem), schreibt in anderen den grossen vor (der Erstere, im Übrigen) und erlaubt in weiteren Fällen beide Möglichkeiten (der eine/Eine, der andere/Andere, bei Weitem/bei weitem, aufs Beste/aufs beste). Die SOK hält diesen (Teil-)Schritt zurück ins 19. Jahrhundert für sinnlos und empfiehlt die Kleinschreibung.

Schweizer Usus bei der Fremdwortschreibung

Die Regelung 06 nimmt bei der Schreibweise von Fremdwörtern ungenügend auf unseren Usus Rücksicht. Als Grundsatz gilt der SOK: bei fremder Aussprache fremde Schreibweise (siehe Kasten). Bei der ph/f-Schreibung empfiehlt sie die einfache Regel, Foto, Fotograf, Grafik, Telefon und Telegraf und deren Ableitungen mit f zu schreiben, alle andern Wörter mit den Stämmen phot-, phon- und graph- jedoch nicht.

In wenigen Fällen sieht die SOK Varianten vor, z.B. bei festen Redewendungen. In solchen Wendungen vom Typ im dunkeln tappen ist eine klare Entscheidung für Gross- oder Kleinschreibung in der Tat nicht immer möglich. Die SOK empfiehlt daher, die Schreibweise dem Schreiber zu überlassen und damit auch hier die Regelung 06, die Grossschreibung verlangt, nicht anzuwenden.

Der Ball liegt beim Verband

Die Arbeitsgruppe der SOK hat zu den fehlerhaften Bereichen der Regelung 06 zahlreiche Sätze aus Literatur und Zeitungen geprüft. Ihr geht es nicht um einen Kampf zwischen alter und neuer Rechtschreibung: ohnehin ist die angeblich neue Rechtschreibung in vielen Fällen die alte des 19. Jahrhunderts. Es geht um eine sachliche Auswahl der guten Schreibweisen; Kriterien sind Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit. Diese Auswahl hat die SOK getroffen; sie kann auf ihrer Website www.sok.ch konsultiert werden.

Eine wachsende Zahl von Zeitungen und die Nachrichtenagentur SDA sind bereit, die Empfehlungen der SOK zu übernehmen. Die NZZ (in Deutschland die FAZ) schreibt schon bisher weitgehend, wie von der SOK nun empfohlen. Ein Konsens in der leidigen Rechtschreibfrage zeichnet sich damit ab. Erwartet wird noch eine Stellungnahme des Verbandes Schweizer Presse. Das Thema ist traktandiert. Auch die Politik wird es aufgreifen.



Kopfzeilentext: Die sogenannte neue Rechtschreibung erschwert das Lesen. In einer Zeit, in der das Lesen in der Defensive ist, ist das Gegenteil gefordert: dem Leser den Zugang zu den Texten zu erleichtern.


Kasten: Empfehlungen der SOK

• Bei Varianten die herkömmliche ...
(d.h. wenn nach den Regeln 06 zulässig)
– aufwendig (nicht: aufwändig)
– aufs äusserste gespannt sein (nicht: Äusserste)
– recht haben (nicht: Recht)
– hochachten (nicht: hoch achten)
– wie war’s? wie hältst du’s (nicht: wars, dus)
– selbständig (nicht: selbstständig) (eigentlich keine Variante)

• ... auch bei Kommasetzung und Silbentrennung:
– er empfahl, dem Lehrer nicht zu widersprechen
– Chir-urg (nicht: Chi-rurg)
– her-auf (nicht: he-rauf)

• Bedeutungsdifferenzierungen beachten:
– wohl durchdacht / wohldurchdacht
– viel versprechend / vielversprechend
– Handvoll / Hand voll
– dichtmachen / dicht machen
– deutsch-schweizerisch / deutschschweizerisch

Auch wo die Regeln 06 eine Schreibweise eliminiert haben:
– greulich / gräulich
– wenn ich schriee / wenn ich schrie

• Falsche Herleitungen und falsche Grossschreibung nicht beachten:
– belemmert (nicht: belämmert)
– Zierat (nicht: Zierrat)
– Quentchen (nicht: Quäntchen)
– plazieren (nicht: platzieren)
– greulich (nicht: gräulich) (grauenhaft)
– Tolpatsch (nicht: Tollpatsch)
– Platitüde (nicht: Plattitüde)
– numerieren (nicht: nummerieren)
– heute abend (nicht: heute Abend)
– Dienstag morgen (nicht: Dienstag Morgen)

• Bei Fremdwörtern den Schweizer Usus beachten:
– Caramel (nicht: Karamell)
– Caritas (nicht: Karitas)
– Communiqué (nicht: Kommuniqué)
– Couvert (nicht: Kuvert)
– Crème (nicht: Creme, Krem)
– Début (nicht: Debüt)
– Menu (nicht: Menü)
– Tea-Room (nicht: Tearoom)



(Der „Schweizer Journalist“ will mit einer Startauflage von durchschnittlich 10.000 Exemplaren alle zwei Monate die Journalisten in der Schweiz erreichen und sich darüber hinaus gezielt an Führungskräfte in Verlagen, an Meinungsbildner in Politik und Wirtschaft, an Verantwortliche für Marketing und Werbung, an Mitarbeiter in Pressestellen und PR-Agenturen, an Pressefotografen und Layouter richten.)


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