02.11.2008


Herrscht nunmehr tatsächlich Schreibfriede?

Eine Rezension

Der Schriftleiter der Wiener Sprachblätter, Gottfried Fischer, nimmt in Ausgabe 3/2008 das Büchlein „Schreibfrieden. Erste Hilfe zur neuen Rechtschreibung“ von Hans Haider kritisch unter die Lupe.

„Die augenfälligsten Veränderungen:

… drei Konsonanten hintereinander (Schifffahrt statt Schiffahrt; schon bisher kamen die drei gleichen Konsonanten, wenn ein vierter folgte, wie bei der Schifffracht und Ablassschraube), …“

Welch ein Unsinn! Nun, wir haben uns ja daran gewöhnt, daß irgendwelche Befürwortlinge in Zeitungen allerlei Falsches schreiben, weil sie bei der Reform der Rechtschreibung mitmachen wollen, aber keine Ahnung von der Rechtschreibung haben, aber hier handelt es sich um ein Buch Hans Haiders (s. u.). Hans Haider ist, man höre und staune, Mitglied im „Rat für deutsche Rechtschreibung“, der Einrichtung, die die deutsche Rechtschreibung festlegt, und das Buch „entstand mit großzügiger Unterstützung durch: Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur“ (S. 4), steht also im öffentlichen Zusammenhang. Zudem steht dieser Unsinn auf der ersten Seite nach der Einleitung (S. 15).

Wie jeder Kenner der Rechtschreibung, und dazu können die Leser der Wiener Sprachblätter gezählt werden, weiß, erscheint Doppel-s in der klassischen Rechtschreibung am Ende eines Wortes als ß, ganz gleich, was ihm folgt; eine Schreibung Ablass statt Ablaß erscheint also nie, auch nicht in dem mißglückten Beispiel, welches in Wirklichkeit klassisch Ablaßschraube geschrieben wird.

Wer jetzt sagt, es sei zum Verzweifeln, daß solche Menschen über die Schreibweise von 100 Millionen Menschen entscheiden dürfen – wer könnte ihm widersprechen?

Ist diese Stelle ein Einzelfall? Mitnichten. In der Liste der trennbaren Zeitwörter (trennbaren Verben) finden sich höchst verblüffende Beispiele. Trennbare Zeitwörter sind Wörter wie anrufen, die in der finiten Form getrennt werden, z. B.: Hilde ruft mich einmal in der Woche an und nicht *Hilde anruft mich einmal in der Woche.) Auf den Seiten 34 und 35 aber findet sich eine Liste mit folgenden denkwürdigen Beispielen: „durch-: durchstoßen – die Spitze stößt durch die Haut;“. Hier handelt es sich jedoch nicht um das trennbare Verb durchstoßen (er stößt das Eis durch), sondern einfach um das Zeitwort stoßen (+ Verhältniswort durch). Seite 35: „nebenher-: nebenhergehen – er ging geduldig neben ihr her;“. Er geht neben ihr her kommt natürlich nicht vom Zeitwort nebenhergehen, sondern von hergehen + neben, sonst müßte es heißen: Er ging ihr nebenher.

Auf S. 38 lesen wir: „bahnbrechend, meterhoch. Bei vielen untrennbaren Zusammensetzungen finden sich vor einem Adjektiv oder einem adjektivisch gebrauchten zweiten Bestandteil entweder Substantive, andere Adjektive, Verben, Adverbien oder Wörter anderer Kategorien.“ Unter einem adjektivisch gebrauchten zweiten Bestandteil versteht der Verfasser offensichtlich Mittelwörter (Partizipien) wie brechend in bahnbrechend. Auf S. 39 finden wir dann u. a. folgende Beispiele: einfach, letztmalig, blauäugig, großspurig. Aber *spurig, *äugig, *malig und *fach sind weder Adjektive noch adjektivisch gebrauchte Wörter, sondern Morpheme, die selbständig überhaupt nicht vorkommen.

Mit größter Erleichterung nehmen wir auf S. 56 zur Kenntnis, daß durch die Rechtschreibreform ein uralter Streitfall entschärft wurde: Man darf beides schreiben: Sie spricht Englisch (auf die Frage: Was spricht sie? Englisch als Hauptwort aufzufassen) und Sie spricht englisch (auf die Frage: Wie spricht sie? englisch als Umstandswort aufzufassen). „Endlich!“ rufen wir erleichtert aus, schlagen jedoch vorsichtshalber noch in einem alten Duden nach, z. B. von 1986, und finden dort genau die gleiche Erklärung (S. 204). Auch diese Mitteilung ist also falsch.

„Lautgerechter ist die neue Schreibung Gämse allemal als Gemse.“ (S. 93). Wieder Unfug. Das Wort Gemse spricht man mit kurzem, offenen e aus, und dieses wird im Deutschen gleichermaßen mit e und ä wiedergegeben, es gibt keinen Unterschied in der Aussprache von Sätze und setze. Auf derselben Seite: „Der Thunfisch wurde zum Tunfisch, so wie sich vor hundert Jahren das Thor zum Tor reduziert hat.“ Diese Gleichsetzung stimmt nur bei oberflächlicher Betrachtung, denn der grundlegende Unterschied besteht darin, daß Tor ein germanisches Wort ist und das Thun- in Thunfisch letztlich aus dem Altgriechischen stammt (thýnnos); um anzuzeigen, daß Wörter aus dieser Sprache kommen, schreibt man sie mit th, wenn sie im Agr. mit Theta (θ) geschrieben wurden.

Daß der Rechtschreibrat Haider weder von Sprache noch von Rechtschreibung viel versteht, haben wir nun begriffen. Durchaus originell aber ist seine Vorgehensweise. Während andere Neuschreibanhänger sich immer in wüsten Beschimpfungen der klassischen Rechtschreibung und ihrer Befürworter ergehen und die veränderte über den grünen Klee loben, verfolgt Haider eine andere Kriegskunst: er rügt die Reform weidlich, stellt sie aber als unabdingbar hin:

„Von ihren Schreibtischen aus haben diese Reformer ganzen Völkerschaften neue mores diktiert im Umgang jedes Einzelnen mit Sprache und Schrift. Unzählige Micky-Maus-Probleme werden von Parlamenten gesetzlich gelöst – die Neue Rechtschreibung aber wurde so demokratiefern verordnet wie eine neue Parkordnung durch die Stadtpolizei.“ (S. 95) Das ist fein beobachtet, genauer könnten wir es auch nicht ausdrücken (abgesehen davon, daß Mores sowohl in der klassischen als auch der neuen Rechtschreibung groß-, und die neue Rechtschreibung in der klassischen und der neuen Rechtschreibung kleingeschrieben wird; wer das nicht glaubt, kann in folgender Veröffentlichung des Institutes für deutsche Sprache nachschlagen, die auf seiner Heimseite einzusehen ist: „Regeln und Wörterverzeichnis. Entsprechend den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung. Überarbeitete Fassung des amtlichen Regelwerkes 2004“, also entsprechend dem Rat, dem Haider selbst angehört).

Möglicherweise ohne es zu wollen, spricht er uns auf S. 94 großes Lob aus: „Mitgliederreiche Sprachpflegevereine versuchten den Protest bis zum Flächenbrand auszureizen – nicht ganz vergebens, denn in der Folge brach in der Meinungsforschung die Zustimmung zur Reform ein.“ In unaufgeregte Sprache übersetzt: Wir machten auf das, was wir als nicht vernünftig erkannten, aufmerksam und konnten die Allgemeinheit dazu bringen, sich zu wehren. Ohne diese Gegenwehr gäbe es heute noch den Spinnefeind von 1996 (heute wieder: Sie ist ihrer Nachbarin spinnefeind).

Es verwundert, daß Haider, der doch österreichischer Kulturjournalist ist, die Formen „Januar/Februar“ (S. 78) verwendet statt Jänner/Feber. Das Buch ist in Wien herausgekommen, wurde vom österreichischen Bildungsministerium gefördert. Wenn es günstig scheint, vergißt man offensichtlich schnell sein österreichisches Deutsch.

Es gelingt dem Verfasser auch, uns mit seiner Erklärung, warum die Reform zustande gekommen sei, zu verblüffen: „Die deutsche Politik musste die kommunistischen Schul- und Amtsschriften ersetzen und die Schulbibliotheken von politisch geächteter Literatur säubern.“ (S. 85; vgl. auch S. 114). Die Rechtschreibreform als antikommunistischer Vernichtungsschlag? Will man damit die Rechten ködern?

Der Reformer verliert viel von unserer Zuneigung (sofern vorhanden), wenn wir erfahren, daß er das ß abschaffen will: „Das ß ist ein Erbe aus dem Bleisatz, es hat als ‘Ligatur’ das gewöhnliche Doppel-s zu einem Buchstaben verschmolzen.“ Wieder irrt Haider. Das ß ist nicht als Ligatur (Verbundbuchstabe) aus zwei gewöhnlichen s entstanden (die Ligatur aus zwei s sieht so aus: ſſ), sondern aus einer Verschmelzung von s und z: aus ſz wurde ß [Anm. d. Red.: "z" und "ß" hierbei in Fraktur]. Aus diesem Grund heißt dieser Buchstabe Eszett. In Österreich heißt er scharfes s, weil dieser Buchstabe nicht nur die Länge des vorhergehenden Selbstlautes anzeigt (er bewundert die Maße, nicht die Masse seiner Geliebten), sondern auch angibt, daß das s stimmlos und nicht stimmhaft ist, vgl. Muße gegenüber Muse. Diese Hilfe ist besonders für Ausländer, die Deutsch lernen, äußerst wichtig. Seine Voraussage, daß das ß in Österreich früher als in Deutschland abgeschafft werden werde (daselbst), weil Österreich zwischen sieben Ländern liegt, die kein ß haben, läßt nicht auf eine wirklichkeitsnahe Sprachbeobachtung schließen. Das wäre gerade so, wie wenn die Tschechen auf ihr ř verzichteten, weil sie von lauter Ländern umgeben sind, die kein ř kennen. In Wirklichkeit sind die Tschechen äußerst stolz auf ihr ř, und ich sage voraus, daß sie es niemals ihren Nachbarn zuliebe abschaffen werden. Die Verwendung von Buchstaben folgt anderen Notwendigkeiten, als Nachbarn gefällig zu sein. Allerdings lernen wir daraus, daß die Reformer diese Reform nur als Einleitung verstehen, der ihre wahren Anliegen, die großen Brocken noch folgen sollen: Abschaffung der Umlaute, Abschaffung des ß, Abschaffung der Großschreibung …

Falls jemand noch zweifelt, ob er als Reformgegner auf der richtigen Seite steht, dann braucht er nur die Seiten 100 – 104 zu lesen. Alles, was Rang und Namen hat, alle Schriftsteller von Bedeutung, Männer und Frauen, die in ihrem Leben vielfach ausgezeichnet wurden, Universitätsprofessoren, Nobelpreisträger, alle, die etwas von Sprache verstehen, sind Reformgegner. Wenn man diese Aufzählungen liest, gibt es keinen Zweifel, daß man als Kulturmensch Reformgegner sein muß:

Hans Magnus Enzensberger, Ilse Aichinger, Günter Grass, Martin Walser, Siegfried Lenz, Walter Kempowski, Elfriede Jelinek, Alois Brandstetter, H. C. Artmann, Gertrud Fussenegger, Friedericke Mayröcker, Peter Hacks, Stefan Heym, Hermann Kant, Herbert Heckmann als Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung, Alexander Giese als Präsident des österreichischen PEN-Clubs usw. usf. Wie können es die Reformer wagen, sich über diese hochbegabten und verdienstvollen Menschen zu stellen und zu sagen: „Wir wissen es besser als all diese Leute!“ – ja, die Reformer Sitta und Gallmann sprachen sogar vom „öffentlichen Gegacker“ der Schriftsteller. Da wendet sich der Gebildete mit Grausen.

Hier ein Zitat von vielen, und zwar von Hans Magnus Enzensberger, der nicht nur selbst ein hervorragender Schriftsteller, sondern auch der Herausgeber des „Kosmos“ ist, der „physischen Weltbeschreibung“ Alexander von Humboldts, also ein Mann, dem man Sprachkenntnis in höchstem Ausmaß zuschreiben muß. Die Reform stamme von selbsternannten Experten, „denen selbst die Autoren von Trivialromanen an Sprachgefühl und historischer Delikatesse weit überlegen sind.“ (S. 102) Das spricht wohl für sich.

Der letzte Teil des Buches (S. 119-176) besteht aus einem Wörterverzeichnis, das dem amtlichen Regelwerk 2006 unter „der Verantwortung des Rats für deutsche Rechtschreibung“ (S. 117) beigegeben wurde.

Seltsam, daß für den Umschlag des Buches der unruhigste Farbkontrast gewählt wurde, den es gibt: Rot mit Grün (vgl. Abb. auf dem vorderen Umschlag dieses Heftes). Um Frieden auszudrücken, ist diese Verbindung denkbar ungeeignet, und der Friede, der jetzt herrscht, ist auch nicht freiwillig geschlossen, sondern erzwungen worden und steht daher, wie alles Erzwungene, auf tönernen Füßen, und wie alles, was auf eine tragfähige Grundlage verzichtet, wird dieses Machwerk zusammenbrechen. Daran ändert dieses zwiespältige Buch nichts.

(Gottfried Fischer)

Haider, Hans: Schreibfrieden. Erste Hilfe zur neuen Rechtschreibung. Wien: Steinbauer 2006.

(Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung, den Text an dieser Stelle wiedergeben zu dürfen.)



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