07.11.2013


Dankwart Guratzsch

Doppelt so viele Fehler dank Rechtschreibreform

Die neue Rechtschreibung verwirrt Schüler, statt zu helfen. Die Verantwortlichen wollen das nicht hören, aber neue Studien zeigen jetzt klar: Die Schreibleistung hat sich dramatisch verschlechtert.

Merkwürdig still geworden ist es um den "Rat für deutsche Rechtschreibung" in Mannheim, der doch eigentlich eingesetzt war, als "maßgebende Instanz in Fragen der deutschen Rechtschreibung" die "Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren". Wäre er wirklich aktiv, müsste er Alarm schlagen. Denn weder ist es gelungen, die durch die Rechtschreibreform zerrüttete Einheitlichkeit zurückzugewinnen, noch die Rechtschreibleistungen der Schüler zu verbessern.

Sie haben sich vielmehr bei allen Schultypen dramatisch verschlechtert. Dafür werden zwar verschiedenste Gründe, unter anderem neue Unterrichtspraktiken, angeführt. Aber ein erstaunlich hoher Anteil von Fehlern geht offenbar unmittelbar auf die Reform von 1996 zurück. Sie scheint auf bestem Wege, sich als der größte Rohrkrepierer der deutschen Kulturpolitik seit 1945 zu erweisen.

Schon 2008 hatte der Germanist Uwe Grund (Saarbrücken, heute Hannover) in einer umfangreichen Studie nachgewiesen, dass sich die Fehlerquote in Schülerdiktaten und -aufsätzen gegenüber der Zeit vor der Reform erhöht hat. Kritiker hatten ihm darauf eine zu schmale Datenbasis angekreidet. Jetzt hat Grund auf der Jahrestagung der Forschungsgruppe Deutsche Sprache in Frankfurt/Main nachgelegt und auf der Grundlage einer erdrückenden Datenmenge ermittelt, dass die falschen Schreibungen in Diktaten und Aufsätzen seit der Rechtschreibreform verdoppelt haben.

Die Reform provoziert Fehler

Dem Befund liegen für die Auswertung von Schülerarbeiten aus der Zeit vor der Reform ein Korpus von 1500 Klassenarbeiten der Gymnasialstufe mit 400.000 Wörtern, die Sekundärauswertung einer DDR-Studie mit 2,2 Millionen Wörtern sowie zwei Schweizer Studien zur 6. Klasse der Primarschule sowie zu den Abiturklassen zugrunde. Für die Zeit nach der Reform hat Grund zusätzlich zwei Studien im Auftrag der Kultusministerkonferenz zum Leistungsstand bei Neuntklässlern (2008 und 2010) sowie die erst vor wenigen Wochen publizierte Erhebung des Gießener Germanistikprofessors Wolfgang Steinig über die Rechtschreibleistungen von Viertklässlern 1972/2001 herangezogen. Insgesamt kann er sich damit für diesen Bereich auf einen Korpus mit 3,5 Millionen Wörtern stützen.

Die Erkenntnisse auf dieser riesigen Datenbasis sind alarmierend. Sie zeigen nicht nur, dass sich die Fehlerquote "in etwa verdoppelt" hat, sondern auch, "dass gerade in den Bereichen, in denen die Reform eingegriffen hat (zum Beispiel Groß-/Kleinschreibung, Getrennt-/Zusammenschreibung), die Fehlerzahlen besonders stark angestiegen sind". Der Vermutung, ein solcher Anstieg müsse mindestens zum Teil den noch mangelhaften Deutschkenntnissen von Migrantenkindern angelastet werden, kommt der Autor damit zuvor, dass er diesen Faktor in seiner Analyse von vornherein herausrechnet.

Als Totalblamage für die neue, 1996 eingeführte Rechtschreibung erweist sich auch das vermeintliche Prunkstück der Reform, die geänderte Schreibung von Wörtern mit Wechsel zwischen ss und ß. Auf der Grundlage seines gewaltigen Datenmaterials aus der Zeit vor der Reform kann Grund aufzeigen, dass hier überhaupt kein Änderungsbedarf bestand: "Auf dem Gymnasium musste eine Lehrerin sechs Klassenarbeiten mit einer durchschnittlichen Länge von 220 Wörtern durchsehen, um auf einen Fehler in Wortformen wie Naß, Nässe (jetzt Nass, Nässe), wußten (jetzt wussten) und ähnlich zu stoßen." Das hat sich mit der Reform geändert. Die neue s-Schreibung erweist sich als Fehlerfalle und treibt die Fehlerzahl um durchschnittlich 20 bis 30 Prozent in die Höhe.

Die ss/ß-Änderung ist ein Reinfall

Vor allem hat die neue ss/ß-Schreibung bei Wörtern mit einfachem Silbenschluss-"s" zu Verwirrung, Unsicherheit und einer völlig neuen Fehlerkategorie geführt. Wie bereits andere Studien belegt haben, kommt es vermehrt zu Unsinnsschreibungen wie "Sarkassmus", "Kommunissmus", "Nazissmus" (in Anlehnung an "Narzissmus"), und zwar um so mehr, je mehr die alten "ß"-Schreibweisen ("Narzißmus") in Vergessenheit geraten.

Es mutet peinlich an, wie derart alarmierende Forschungsergebnisse von Mitgliedern des Rates für deutsche Rechtschreibung bisher übergangen oder bagatellisiert worden sind. Noch 2011 hatte der Germanist Jakob Ossner gemeint, "in die verbreitete Klage über den Rechtschreibverfall nicht ohne weiteres einstimmen" zu können. Es könne "viele Gründe dafür geben", dass die Rechtschreibleistungen gesunken sind. Auf diesem beschönigenden Standpunkt zu beharren wird nach Grunds jüngster Studie, die der Autor 2014 nochmals erweitern will, immer schwerer fallen.

Hinzu kommt, dass Grunds Erkenntnisse durch weitere unabhängige Studien gestützt werden. Das jüngste Beispiel bildet die Gießener Längsschnittstudie, die die Schreibkompetenz von Viertklässlern unter die Lupe nimmt. Hier stieg die Fehlerzahl pro hundert Wörter von sieben (1972) über zwölf (2002) auf 17 (2012) Fehler – ein verheerendes Resultat, dessen Auswirkungen in letzter Konsequenz alle Berufssparten bis hin zu den Universitäten, der Wirtschaft und den Kulturinstituten zu spüren bekommen.

Quelle: WELT online
Link: http://www.welt.de/kultur/article121635352/Doppelt-so-viele-Fehler-dank-Rechtschreibreform.html

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