zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Unter den Diskussionsthemen nach
           
Im Forum nach

Diskussionsforum

Zurück zum Forenbereich
»Sprachwissenschaft«


Beiträge zum Thema

»Soziolekte
und wie die Wissenschaft dazu steht«

Älteste Beiträge zuoberst anzeigen | nach unten


Jan-Martin Wagner
Kiel

Dieser Beitrag wurde am 01.02.2016 um 20.30 Uhr eingetragen.
Adresse: http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=305#11286


»Kiezdeutsch, das Deutsch Jugendlicher im Berliner Kiez, wird sprachwissenschaftlich untersucht und von Sprachwissenschaftlern als neuer deutscher Dialekt bzw. als Ethnolekt angesehen.«

(http://wikis.zum.de/zum/Kiezdeutsch)
nach oben

Jan-Martin Wagner
Kiel

Dieser Beitrag wurde am 01.02.2016 um 20.28 Uhr eingetragen.
Adresse: http://www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=305#11285


Die WELT, 27. Mai 2009

Kiezdeutsch bringt auch unsere Sprache voran

Von "Ja, isch aus Wedding" bis "Isch mach dich Krankenhaus": Der neue multiethnische Dialekt, auch "Kiezdeutsch" genannt, ist unter Germanisten umstritten. Die Wissenschaftlerin Heike Wiese lud deshalb zu einer Tagung nach Berlin. Sie sieht das "Kiezdeutsch" auch als Chance.

Die Sätze dieses lakonischen, ja, sparsamen Soziolekts klingen zugleich befremdlich und vertraut. Sie lauten beispielsweise: "Isch mach dich Krankenhaus" (Ich schlage dich krankenhausreif), "Isch mach dich Messer" (Ich greife dich mit einem Messer an) oder "Machst du rote Ampel" (Du gehst bei Rot über die Straße).

An sehr schwülen Tagen, an dem ohnedies beinahe bundesweit ein martialisches Donnerwetter in der Luft hing, muten solch rhetorische Gewaltsequenzen besonders bedrohlich an. Gerade dann, wenn sie mit bekräftigenden Eidesformeln wie "Isch schwör" oder mit vermeintlich erniedrigten Adressaten wie "Du Opfer" versehen werden.

Jetzt, da die Gewitter überall abgezogen sind, dürfte ein weniger umwölkter und also unvoreingenommener Blick auf performative Äußerungen wie diese möglich sein. Wagen wird ihn die mutige Potsdamer Germanistin Heike Wiese auf einer Tagung der Deutschen Akademien der Wissenschaft in Berlin: "In den Netzen der Sprache" lautet das Leitwort einer Veranstaltung, die "Freiheit und Fesseln" des oben auszugsweise zitierten türkisch-deutschen Idioms ergründen soll.

Wiese hat diesen hybriden Sprachstoff, aus dem die Albträume der Deutschlehrer und die Träume von Plakativ-Komödianten wie Erkan & Stefan sind, in einschlägigen Straßen-Feldstudien (etwa in Berlin-Neukölln) inspiziert und neu bewertet: "Kiezdeutsch" nennt sie jenen Jargon, der zumal in Teilen von deutschen Großstädten mit einem hohen Migrantenanteil von Heranwachsenden notorisch gesprochen wird.

In ihrer Studie gesteht die Philologin knappen Sätzen wie "Ja, isch aus Wedding" (Ich komme aus dem prekären Stadtteil Berlin-Wedding) oder "Morgen geh ich Karstadt" (Morgen statte ich dem ökonomisch labilen Warenhaus Karstadt einen Besuch ab) eine sprachlich deutlich höhere Wertigkeit als ihre Lingusistenkollegen zu.

Denn heutige Jugendliche unterscheiden sich Wiese zufolge in ihren lebensweltlichen Äußerungen zum einen grundlegend von schlichten Sprachregelungen früherer Gastarbeiter, zum anderen von mehrheitlich tumben Veralberungen seitens der deutsch-türkischen Komödiantenfront.

Vielmehr überbiete das neue "Kiezdeutsch", von Wiese als "multiethnischer deutscher Dialekt" gekennzeichnet, vormalige Mischsprachformen wie die "Kanak Sprak" oder das "Türkendeutsch" durch Erfindungsreichtum und grammatikalische Finesse.

Die kolonisierende Ironie der Sprachgeschichte besteht Wiese zufolge darin, dass "Kiezdeutsch" sowohl von Jugendlichen mit türkischen und arabischen Wurzeln als auch von deutschen Teenagern gesprochen werde. Der Synkretismus-Jargon sei nicht etwa von Herkunft oder Muttersprache der Nutzer abhängig, sondern lediglich vom Wohnort. Alle Sprecher jener Gruppen, die "musstu" und "lassma" sagen, würden zwar meist auch Hochdeutsch beherrschen, es aber in einer subversiv gestimmten Souveränitätsvolte ausblenden.

Derlei klingt tröstlich bis zukunftsweisend. Auch deshalb, weil Wiese "Kiezdeutsch" nicht als Integrationshemmnis für Migranten erachtet, sondern als eine an Auslassungen von Artikeln und Präpositionen reiche Zweitsprache, die Pubertierenden ein "Zugehörigkeitsgefühl" vermittle. Zumal dann, wenn sie ihrem eklektischen Sermon noch Lehnwörter aus dem Stammgebiet hinzufügen können. Etwa das türkische "lan" (Kumpel) oder das arabische "wallah" (nicht wahr?).

Folgt man Wiese, gibt es ganz ähnliche Grammatikmuster auch in niederländischen und skandinavischen Einwanderervierteln. Wie es scheint, kündigt sich eine neue sprachliche Internationale an. Vielleicht gehört ein Satz wie "Mein Vater geht Moschee mit Lederhose" bald zum innovativen Witz-Standard im Migrantenstadl.


(http://www.welt.de/kultur/article3812587/Kiezdeutsch-bringt-auch-unsere-Sprache-voran.html)
nach oben


Zurück zur Themenübersicht | nach oben


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM