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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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27.02.2009
 

Bayerische Heimat
Kritische Vergleiche

Und weiter geht's am Stammtisch! Bischof Mixa hat in bewährter Weise die Abtreibungen mit der Judenvernichtung verglichen. Einige Zeitungen meinen allerdings, er habe gerade umgekehrt den "Holocaust" mit den Abtreibungen verglichen. Als ob dies dasselbe wäre!

Als Kanzler Kohl Gorbatschow mit Goebbels verglich, haben Sprachkritiker klargestellt, daß vergleichen nicht gleichsetzen bedeutet. Später sah man Gorbi und Kohl in den bekannten Strickjacken ganz locker beisammensitzen, und damit war irgendwie die Luft raus.

Was Mixa meint und gesagt ist hat, ist freilich gar nicht neu:

"11.6.2005 (KNA)
Kardinal Lehmann: Vergleich Abtreibung–Holocaust zulässig
Ein Vergleich des „Abtreibungsskandals“ mit dem Holocaust stellt nach Ansicht von Kardinal Lehmann nicht die Einzigartigkeit des historischen Holocaust in Frage. Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz bezog sich auf einen Vergleich, den Kölns Kardinal Meisner am Dreikönigstag gezogen hatte. Lehmann hob hervor, in diesem Punkte sei er uneingeschränkt mit dem Kölner Kardinal einig. Die Bischöfe verstünden die Unterschiede zwischen dem Abtreibungsskandal und der Ausrottung eines ganzen Volkes, sähen aber auch mögliche Ähnlichkeiten."

Ich habe schon mal Donald Davidson zitiert: "Everything is like everything, and in endless ways." (siehe hier)
Mit unseren großen blauen Augen lesen wir nun:

"Mixa stellte den von den Nationalsozialisten ermordeten rund sechs Millionen Juden die Zahl von etwa neun Millionen Abtreibungen gegenüber, die es laut Expertenschätzungen in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland gegeben habe. «Diese neun Millionen fehlen uns», so Mixa weiter: «Ich sage deutlich, dass wir dadurch auch die Zukunft unserer bayerischen Heimat gefährden.»"

Ach so! Man erwartet von einem Bischof eigentlich eine andere Begründung. Diesen Ausrutscher scheint niemand bemerkt zu haben, alle starren bloß auf die andere Hälfte des Vergleichens.



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Kommentare zu »Bayerische Heimat«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2015 um 04.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#30389

Nach all den Lobgesängen auf die Kinderlosigkeit ist es ganz nett, daß Harald Martenstein sich mal zu den Freuden später Vaterschaft bekennt. Und mit mehr Recht als die freiwillig kinderlosen Frauen meint er, unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck zu stehen. Wird er nicht zu früh sterben und seine Kinder als Halbwaisen zurücklassen? Er rechnet sich bei durchschnittlicher Lebenserwartung noch 20 Jahre aus, und da er sich mit dem Kleinen vom zweiten Geburtstag bis zur Pubertät zu beschäftigen gedenkt, hat er noch reichlich Zeit.

Wäre er Sprachwissenschaftler, könnte er sich das nicht leisten. Gerade die ersten beiden Jahre müßt ihr sorgfältig dokumentieren! (Das habe ich zwar auch meinen Studenten immer eingeschärft, aber ich glaube, keiner hat es gemacht.)

Und außerdem ist es vollkommen out, sich um die Säuglingspflege zu drücken. Das Füttern und Baden und Windelwechseln soll wohl die Frau allein machen? Aber damit bringt man sich auch selbst um den Hauptteil des Vergnügens.

Was die Pubertät betrifft, so bin ich der Meinung, daß die vollkommenste "Ablösung" die unvollständige ist. So gesehen, sind 20 Jahre dann doch wieder nicht viel.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2015 um 04.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#30302

Politik und Wirtschaft vermitteln, dass Frauen erst als beruflich erfolgreiche Mütter etwas Wert sind. Wer sich von diesem Gedanken infizieren lässt, ist selbst schuld. (Sarah Diehl in der ZEIT, 21.10.15)

Mal so, mal so: Wert – schuld.

Die Verfasserin kämpft übrigens wieder mal gegen diesen vermeintlichen gesellschaftlichen Druck, außer einem tollen Beruf auch ebensolche Kinder haben zu müssen. Ist das wirklich so? Die Wirtschaft bevorzugt mobile Kinderlose, der Wissenschaftsbetrieb ebenfalls. Ich kenne viele kinderlose Frauen, denen niemand einen Vorwurf macht. Sprachlich gesehen gehört zur Überschrift Die Frau braucht kein Kind eine Angabe des Ziels. Das folgt später: um glücklich zu sein. Und: Kinderlose Paare sind im Durchschnitt glücklicher usw. Man glaubt immer den gleichen Artikel zu lesen, ob von Sarah Diehl, Melanie Mühl, Antonia Baum... Immer ist das Lebensglück die Trumpfkarte. Diese Vereinfachung macht das Thema auch für Deutschaufsätze geeignet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.07.2015 um 05.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#29547

In der ZEIT hat eine gewisse Eva Maria Bachinger einen Beitrag veröffentlicht, der zugleich für ihr neues Buch werben soll. Er verteidigt die Kinderlosigkeit, ich habe ihn aber nicht zu Ende gelesen, weil er ungefähr auf diesen Ton gestimmt ist: Selbstverständlich ist ein Kinderwunsch nicht uneigennützig, kein Kind wird aus reiner Barmherzigkeit gewünscht. Die Alternative zeigt die Beschränktheit dieses Denkens. Abgebrüht und dazu noch ungläubig wie ich bin, kann ich doch solche Obszönitäten nicht gut vertragen. Erstaunlich viele Leser stimmen ihr mehr oder wenig gehässig zu, mein Bild des typischen ZEIT-Lesers bestätigt sich, und man kriegt richtig Angst, eigene Kinder einer solchen Horde von Selbstverwirklichern auszusetzen. Kein Wunder, daß sie aus allen Rohren gegen Familienförderung schießen.
(Als Variante zur "Barmherzigkeit" kommt noch vor: Keiner zeugt ein Kind, um Steuerzahler bzw. Rentenbeitragszahler in die Welt zu setzen. Natürlich nicht, aber wer hätte denn je so etwas behauptet?)

Die Frage, ob Kinder glücklich machen, kommt mir ungefähr so sinnvoll vor wie "Macht das Leben glücklich?"
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.04.2015 um 12.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#28680

Gibt man bei Google "regretting" ein, wird automatisch "motherhood" ergänzt – bloß wegen einer unbedeutenden israelischen "tiefenpsychologischen Studie", die nun doch tatsächlich ein Tabu gefunden hat, das man brechen könnte: eben Mütter, die es bedauern, daß sie welche sind. Das ist nun die neue Sau, die ein paar Wochen lang durchs Dorf getrieben wird. Die FAS hat, wie zu erwarten, das Thema an die kesse Antonia Baum übergeben, die schon voriges Jahr an gleicher Stelle lauthals bekundete, daß sie keine Kinder hat und auch keine haben will usw. – Baum hat auch ein ganz neues Thema entdeckt: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.02.2015 um 06.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#28071

Wieder muß ich den Papst in Schutz nehmen. Aus seiner Bemerkung über das Kinderkriegen haben die Medien je nach Gesinnung, entstellende Überschriften gemacht:

Papst: Wer keine Kinder will, ist egoistisch
Papst verurteilt kinderlose Paare
Keine Kinder zu bekommen, ist egoistisch

Usw. - Die Äußerung war zweifellos etwas problematisch, sie war auch logisch nicht ganz richtig, weil der Papst die Pflicht zur Fortpflanzung mit einem Hinweis auf die schönen Seiten der Elternschaft verband; das ist ja immer verkehrt.

Aber es steckt ein ernstes Problem dahinter, auch abgesehen von der Religion (und von moralischen Vorwürfen wie "Egoismus"). Wir nehmen an, daß es ein Menschenrecht ist, sich für oder gegen Kinder zu entscheiden. Wendet man aber den kategorischen Imperativ an, dürfte es auf eine Pflicht zur Fortpflanzung hinauslaufen. Natürlich kann nicht jeder, und ultra posse nemo obligatur, das ist klar. Aus der Pflicht der Bürger ließe sich auch eine Verpflichtung des Staates zur Unterstützung von Familien herleiten. Ich weiß nicht, ob und wo das schon mal diskutiert worden ist.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 27.01.2015 um 16.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27897

Wobei der Taufbefehl natürlich nicht jesuanisch ist (Jesus hat nie getauft); wahrscheinlich nicht einmal im ursprünglichen Evangelientext enthalten, sondern spätere Zufügung.

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 25.01.2015 um 11.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27887

Zur Frage der Rechtgläubigkeit hier ein amüsantes Diagramm aus Schottland:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Churches_of_Scotland_timeline.png
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 25.01.2015 um 11.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27886

Der kulturelle und wissenschaftliche Vorsprung Europas beruht gerade darauf, daß er so viele Wurzeln hat: Griechen, Römer, Assyrer, Perser, Inder, Araber. Die Abschottung von den "Heiden" während der katholischen Staatsreligion führte geradenwegs ins "Finstere Mittelalter" mit totaler Rückständigkeit auf allen Gebieten.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 24.01.2015 um 12.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27879

In Matt. 28, 19 und ähnlichen Stellen ist von »allen Völkern« die Rede. Das kann sich wohl nicht bloß auf die Stämme Israels beziehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.01.2015 um 11.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27877

Das hängt davon ab, ob Jesus sich selbst schon so verstand. Ich sehe gerade, daß ich einen gestern verfaßten Text, der sich auf die Universalisierung bezog, gar nicht abgeschickt hatte. Hier ist er:

Dawkins und andere, auch unser Reemtsma, haben unterschieden zwischen Respekt für Personen und Respekt für ihre Weltanschauungen. Letzteren sind wir nicht schuldig, während alle Personen dieselbe Würde haben und Respekt verdienen. Wir lesen vielleicht sogar schon in der Schule die Mythen der Griechen und Römer. Das sind Geschichten, aber sie müssen doch mal etwas mehr gewesen sein. Aus Indien kenne ich die wildesten religiösen Erzählungen. Solche fernen Geschichten „respektieren“ wir natürlich nicht. In meiner Jugend diskutierte ich gern mit Zeugen Jehovas und bat sie ins Wohnzimmer, zum Leidwesen meiner Mutter, die in solchen Leuten nur Verrückte sah. Später schenkte mir jemand das Buch Mormon, aus dem meine Frau und ich unter viel Heiterkeit einige Teile lasen. Ich kenne aber sehr nette und respektable Mormonen. Ich habe auch gute Bekannte, die manchmal unvermittelt von „unserem Herrn Jesus“ sprechen; ich mache dann eine neutrale Miene und warte, bis das Gespräch auf etwas anderes kommt. Selbstverständlich behandele ich alle anständigen Zeitgenossen mit demselben Respekt. Aber Religionen muß man nicht respektieren.
Wenn die Frommen die Unterscheidung nicht mitmachen, wird es heikel. Aus kirchlichen Kreisen hört man oft, Kritik an Religion sei Intoleranz und menschenrechtswidrig. Manche fühlen sich beleidigt oder besser: gekränkt, wenn man ihren Glauben für haltlos erklärt. Das ist ihr Problem. Mögen sie doch, wie es im AT heißt, die Ungläubigen für Toren halten, solange sie bloß nicht anfangen zu missionieren. Aber gerade davon können eben viele nicht Abstand nehmen. Dabei sollte jeder mit seinem eigenen Seelenheil hinreichend ausgelastet sein – warum muß man sich denn um das der anderen kümmern? Das erklärt sich wohl nur aus jener alten Lehre von der Kollektivhaftung, wonach das ganze Volk den Zorn eines Gottes auf sich zieht, wenn auch nur eines seiner Glieder es an Unterwürfigkeit fehlen läßt. Die Universalisierung der ursprünglichen Stammesreligion führte dann zu einer allgemeinen Kreuzzugsmentalität, die außerdem bestens zum Kolonialismus paßte.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 24.01.2015 um 10.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27876

Der entscheidende Unterschied, abgesehen von den Lehren im einzelnen, ist der zwischen Nationalkult und Weltreligion. In dieser Hinsicht stehen sich Christentum und Islam nahe, und insofern greift auch die Bezeichnung »jüdischer Reformator« zu kurz.

Übrigens kann man daran, daß Jerusalem von den Briten kampflos geräumt wurde, erkennen, daß das Abendland längst untergegangen ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.01.2015 um 08.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27875

Da ich zufällig gerade in der Septuaginta lese, noch ein paar banale Bemerkungen: Jesus war ein jüdischer Reformator. Das Judentum ist im Christentum "aufgehoben", und das kann man noch genauer sagen. Das AT ist Teil der "Gantzen Heiligen Schrifft", weshalb Luther es auch übersetzt hat; er war ja kein am Judentum interessierter Religionswissenschaftler. In den Kirchen wird aus dem AT und aus dem NT gelesen ("Wort des lebendigen Gottes"). Die Frage "christliches oder jüdisches" Erbe des Abendlandes ist krumm und schief gestellt.
Jesus hat sich, wenn ich ihn recht verstehe, gegen die Paragraphenreiterei gewisser Ultraorthodoxer gewendet, wie es zu allen Zeiten und auch heute wieder naheliegt. Das ist der ewige Kreislauf, daß auch die humanste Lehre in die Hände und Köpfe inhumaner Eiferer geraten kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.01.2015 um 04.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27873

Oft folgert man aus einem wirklichen oder vermeintlichen "Erbe" eine Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten – eine Spielart des naturalistischen Fehlschlusses. Daran möchte ich mich nicht beteiligen, so sehr mich die Schnurkeramiker sonst interessieren.
Ich möchte noch einmal jenen Punkt hervorheben, der mir als vollkommen Außenstehendem am meisten in die Augen springt: das Bestehen auf Rechtgläubigkeit. Damit beginnen die Zehn Gebote, darauf bestehen die Katechismen, es ist der wichtigste Satz des Islam, und Luther hat noch einmal nachgelegt. Und darüber ist es zu den Religionskriegen gekommen, die erst mit der Aufklärung beigelegt wurden, sich aber heute noch so auswirken, daß man über Religion am besten nicht spricht (noch weniger als über Geld, Sex und Politik).
Etwas Vergleichbares, also ein "Glaubensbekenntnis" als A und O, habe ich außerhalb der abrahamitischen Religionen nicht gefunden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.01.2015 um 23.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27872

Eine Schwierigkeit ist auch, daß, wenn man vom Judentum spricht, meist nicht zwischen dem Volk und der Religion unterscheidet. Mit dem Christentum, Hinduismus, Buddhismus ist aber immer nur die Religion gemeint. Wenn man von christlich(-jüdisch) geprägter Kultur spricht, dann beleuchtet man also den Gegenstand nur von der Seite der Religion. Dann muß man das aber auch mit dem Wort jüdisch so beibehalten, und dann findet man meiner Ansicht nach, daß unsere Kultur so gut wie keine speziell jüdisch-religiöse Prägung erfahren hat.

Nimmt man dagegen alles, was das Judentum auch in nichtreligiöser Hinsicht eingebracht hat, mit dazu, dann haben wir in der Tat, wie auch Prof. Ickler ungefähr sagte, nicht nur eine christlich-jüdische, sondern eine germanisch-heidnisch-christlich-jüdisch-islamisch-griechisch-römisch-chinesisch-keltisch-...-indische Kultur.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 23.01.2015 um 20.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27871

Bevor die Sache noch öder wird (und ich will auch langsam ins Wochenende): Natürlich ist das Gerede vom christlich-jüdischen Abendland verlogen und heuchlerisch, etwas wohlwollender gesagt alberner Wiedergutmachungsreflex. Aber wenn wir denn hinnehmen, daß etwa Spinoza, Mendelssohn, Varnhagen, Rabbi Löw und der Golem, Scholem Alechjem, Kafka, der jüdische Witz oder auch die Chassidim und das Schtetl nicht zur Kultur des Abendlandes gehören – noch kein Posaunist hat Merkliches zur Kultur des Streichorchesters beigetragen. Juden hatten eben nicht so viel Gelegenheit, zu einer Kultur beizutragen, bei der die Taufe das entrée-billett war. Und wenn sie sich einbringen durften, dann eben nur unter völliger Verleugnung ihres Judentums. Nu? Ist das etwas, worauf man irgendwie stolz sein oder was man nur für bewahrenswert halten sollte?
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 23.01.2015 um 17.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27870

"Viele Juden haben zweifellos Großes geleistet, (...) als vollständig in die Gesellschaft integrierte Personen."
Aber darum geht es ja nicht...
"Wenn man aber nicht einmal die Religion als christlich-jüdisch bezeichnet (...)"
Wenn man nicht einmal von katholisch-christlicher Religion spricht, und auch keine der protestantischen Landeskirchen mit Ausnahme der Pfälzischen die Bezeichnung "christlich" im Namen führt, "wieso sollte man es dann bei der auf ihr basierenden Kultur tun?"
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.01.2015 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27869

Lieber Herr Strowitzki,
Juden hatten in Deutschland und Europa oft zu leiden, das wissen wir alle, aber auch das hat nicht zur Aufnahme von typisch jüdischen Glaubenselementen in den Alltag einer christlich geprägten Kultur geführt. Nur darum geht es hier.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 23.01.2015 um 14.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27867

Wie gut die Juden in die christliche Kultur integriert waren, durften sie jeden Karfreitag hautnah erfahren.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.01.2015 um 01.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27859

Lieber Herr Achenbach,
Ihr erster Punkt könnte vor allem begründen, daß ein gläubiger Mensch, nach seiner Religion befragt, anstatt "christlich" besser "christlich-jüdisch" antworten sollte. Das sagt aber niemand, obwohl den meisten schon bewußt ist, daß das Christentum jüdische Wurzeln hat. Wenn man aber nicht einmal die Religion als christlich-jüdisch bezeichnet, wieso sollte man es dann bei der auf ihr basierenden Kultur tun?

Um Juden nicht auszugrenzen? Tut man das, wenn man einfach nur wahrheitsgemäß von einer christlich geprägten europäischen Kultur spricht? Wir haben Religionsfreiheit, die Kultur ist sowieso historisch gewachsen. Da sind die Feiertage, die den Jahreslauf gestalten, die Sonntagsruhe, der heimatliche Klang der Kirchenglocken, unsere aus christlichen Idealen erwachsene Moral und Wertevorstellungen. Im Falle einer christlich-jüdischen Kultur müßte man auch ungefähr sagen können, was konkret daran nicht mit "christlich" abgedeckt ist, sondern eben jüdisch ist. Ich wüßte nicht, was in unserem täglichen Leben auf rein jüdischem Glauben und Traditionen beruht. Viele Juden haben zweifellos Großes geleistet, aber das sicher nicht im Zusammenhang mit ihrer Religion, sondern als vollständig in die Gesellschaft integrierte Personen. Sowohl die Relativitätstheorie als auch das Buch der Lieder und vieles mehr haben einen bedeutenden Einfluß auf unsere Kultur, aber diese Kultur ist dadurch kein bißchen jüdischer (im religiösen Sinne) geworden.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 22.01.2015 um 18.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27858

Lieber Herr Riemer,

es gibt zwei Gründe, von „christlich-jüdisch“ zu sprechen:

Zunächst ist die christliche Religion aus der jüdischen entstanden, und beide Religionen haben bis heute Gemeinsamkeiten (Zehn Gebote, Altes Testament).

Ferner und für uns Deutsche wohl noch wichtiger ist, daß man mit diesem Ausdruck vermeiden will, die Juden auszuschließen oder, wie man heutzutage sagt, „auszugrenzen“.

Natürlich ist mit diesem Ausdruck - durchaus beabsichtigt - wiederum eine „Ausgrenzung“ der Moslems verbunden. Zumindest diejenigen, die sagen, daß der Islam zu Deutschland gehöre, müßten daher konsequenterweise „jüdisch-christlich-islamischen“ Traditionen beschwören. Das wäre aber doch zu schwerfällig, außerdem könnte sich an der Reihenfolge Streit entzünden. Da wäre „abrahamitisch“ schon besser.

In der englischen Wikipedia gibt es unter „Judeo-Christian“ eine längere Darlegung zu den Untertönen des Begriffs.

Sprachliche Anmerkung:

Nach dem reformierten Duden müßte man eigentlich jüdischchristlich schreiben (eine andere Reihenfolge ist nicht vorgesehen). Für jüdisch-christlich gibt der Duden andere Bedeutungen an. Eine Grundlage dafür kann ich in den Amtlichen Regeln nicht entdecken. Diese sind allerdings bei Zusammensetzungen aus zwei Adjektiven ohnehin völlig mißglückt. Nach bewährter Rechtschreibung bezöge sich jüdischchristlich auf eine jüdische Art des Christentums.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2015 um 05.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27853

Die Sache mit dem Regenwald-Vergleich hätte ich nicht für möglich gehalten; vielen Dank für den Hinweis, lieber Herr Riemer.
Die dpa hat ja schon bei der Durchsetzung der Rechtschreibreform eine üble Rolle gespielt.
Über "christlich-jüdisch" kann man endlos diskutieren, die Begriffe sind so unbestimmt wie das "Dazugehören" von etwas zu etwas. Ich hatte mal von "abrahamitisch" gesprochen, damit die wesentliche Übereinstimmung dieser drei Hauptreligionen nicht aus dem Blick gerät. Von außen betrachtet, unterscheiden sie sich kaum voneinander. Den Anhängern kommt es natürlich nicht so vor, aber das ist bei Sekten immer so. (Ein Blick auf die indischen Hauptreligionen ist lehrreich – wer von uns sieht da schon so grundlegende Unterschiede wie sie selbst?) Bei "christlich-jüdisch" fällt ja sofort das Lückenhafte auf - wo bleibt denn "griechisch-römisch", ja, und sogar "germanisch", horribile dictu. Und "keltisch" und "schnurkeramisch"...
Man kann einander wegen Einzelheiten einer esoterischen Lehre (Transsubstantiation usw.) die Köpfe einschlagen. Man kann aber auch alle Menschen, die an Götter glauben, großzügig zusammenfassen und sich davon absetzen. Was soll's? Wünschenswert ist ein Rechtsstaat, der all das zusammenhält und ein zivilisiertes Zusammenleben erzwingt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.01.2015 um 00.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27852

Wer redet vom "christlich-jüdischen" Abendland? In Europa gibt es meiner Meinung nach keine christlich-jüdische, sondern nur eine christliche Tradition und Kultur. Juden waren und sind immer sehr gut integriert, heutzutage bemerkt man gar nicht, ob jemand Jude ist. Ihre Traditionen und Religion pflegen sie im Privaten. Wo in der deutschen oder europäischen Kultur gibt es jüdische Bezüge? Wenn man sich sehr bemüht, findet man sicher etwas, ein paar jüdische Friedhöfe und Synagogen vielleicht, und ein paar koschere Fleischereien. Bedeutende jüdische Personen (Einstein, Marx, Heine, Kafka, ...) waren für ihre Leistungen als Deutsche oder Angehörige anderer europäischer Nationen bekannt, aber nicht für ihre Religion. Das alles rechtfertigt kaum den Ausdruck christlich-jüdisches Abendland.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.01.2015 um 14.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27851

Es wäre doch eine schöne Testaufgabe für die Nationalisten, zu versuchen, alle arabischen Wörter im deutschen Wortschatz durch deutsche Wörter zu ersetzen. Ich bin sicher, sie würden grandios scheitern. Das Gerede vom christlich-jüdischen Abendland würde dadurch ebenfalls unglaubwürdig.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 21.01.2015 um 14.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27850

Ja, so ist das mit der zunehmenden Islamisierung! Wahrscheinlich wird dpa bald in dipa (deutsch-islamische Presse-Agentur) umbenannt und jede Zeitungsmeldung mit der Basmallah eingeleitet.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 21.01.2015 um 14.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27849

Ist es nicht trotzdem eine traurige Entwicklung? Die Massenmedien gehören immer größeren Konzernen, und die versuchen natürlich, jede einzelne Zeitung so billig wie möglich zu produzieren. Anstatt eigene Journalisten zu beschäftigen, bedienen sich alle aus dem Nachrichtensupermarkt dpa.

Bei Meldungen aus dem Ausland kann ich noch verstehen, daß nicht jede kleine Zeitung Journalisten in allen fernen Ländern haben kann. Aber hier geht es um Innenpolitik, um das, was gleich nebenan passiert. Einen Fernseher sollte wohl auch die kleinste Zeitungsredaktion besitzen, um beispielsweise eine Talkshow kommentieren zu können. Aber selbst das ist nicht mehr möglich, weil sich kleine Zeitungen neben großen Konzernen einfach nicht behaupten können.

Die Leute regen sich über Gammelfleisch auf und kaufen trotzdem weiter im Supermarkt statt beim Fleischer. Genauso ist es mit Zeitungen. Man kauft eben billig statt Qualitätsjournalismus, man läßt sich lieber vom "Mainstream" berieseln statt sich eigene Gedanken zu machen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.01.2015 um 09.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27847

Die dpa garantiert schon seit Jahrzehnten, daß alle Bundesdeutschen weitgehend die gleichen Texte zum Frühstücksei serviert bekommen. Das ist also nicht neu, ist aber noch schlimmer geworden, seit die schmächtige Konkurrenz aus AP/ddp/dapd vom Markt ist.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.01.2015 um 22.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27846

Exakt den gleichen Text
Als die Frau gefragt wurde, ..., durfte sie unwidersprochen antworten: ...
findet man z. B. heute auch in der Online-Ausgabe der Mitteldeutschen Zeitung. Wir haben zum großen Teil wirklich nur noch eine Einheitspresse.

Das mit dem "Vergleich" sieht hier fast aus, als sei das nur Ihr ironischer Kommentar, verehrter Prof. Ickler, aber gerade so hat es tatsächlich heute kurz nach 19.00 Uhr der DLF (Autorin: Barbara Schmidt-Mattern) gebracht (Hervorhebung von mir):

Keine Frage, es gibt bestimmt Angenehmeres als sich mit Leuten auseinanderzusetzen, die Muslime mit dem Regenwald vergleichen - auch wenn es beides in Sachsen, respektive Deutschland nicht gibt, könne man ja ruhig dagegen sein. Solche wirren Aussagen, die im Bauch und nicht im Kopf entstehen, machen nicht gerade Lust auf Dialog.

Es gibt eben Leute, die eine so festgezurrte Meinung haben, daß sich jegliche Überprüfung an der Realität erübrigt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2015 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#27844

Nach „Karnickel“-Äußerung:

Kaninchenzüchter kritisieren den Papst

Nach Papst Franziskus’ Äußerung, Katholiken müssten sich nicht wie „Karnickel“ vermehren, meldet sich Deutschlands höchster Kaninchenzüchter zu Wort: Die Aussage des Papstes sei pauschal und unnötig.
Kaninchenzüchter haben Papst Franziskus für seine „Karnickel“-Äußerung kritisiert. Man dürfe nicht allen Kaninchen pauschal ein erhöhtes Sexualverhalten unterstellen, sagte Erwin Leowsky, der Präsident des Zentralverbandes Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter, am Dienstag. Die sexuellen Ausschweifungen träfen nur auf die freilebenden Tiere zu. Die Fortpflanzung bei Zuchtkaninchen verlaufe hingegen in geordneten Bahnen.
(FAZ 20.1.15)

Der Papst hatte sich eindeutig an freilebende Katholiken gewandt, nicht an Zuchtkatholiken, die sich selbstverständlich in geordneten Bahnen fortpflanzen.

Und gleich noch einer: Oertel hatte in der Sendung jedenfalls wenig auszustehen. Als die Frau gefragt wurde, warum ausgerechnet im von Muslimen fast freien Dresden vor der Islamisierung des Abendlandes gewarnt werde, durfte sie unwidersprochen antworten: „In Deutschland wird auch gegen die Abholzung des Regenwaldes demonstriert, obwohl es keinen Regenwald gibt.“ (FR 18.1.15)

Die Pegida-Frau durfte also "unwidersprochen" Muslime mit Bäumen vergleichen! Dabei war ihr Vergleich schlagfertig und ziemlich gut, auch bei näherer Betrachtung: Wenn man nur vor Entwicklungen warnen dürfte, von denen man selbst betroffen ist, wäre die politische Beteiligung bald am Ende.
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 02.03.2009 um 13.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#13993

Mich haben schon seit der Schule die Begriffe Inkommensurabilität und Inkomparabilität (gerade als Duo) weit mehr angesprochen - kommt man damit nicht auch tatsächlich weiter als mit der Vergleicheritis?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 27.02.2009 um 22.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1116#13978

Im Interesse der Komparabilität sollte sich Mixa dafür verwenden, daß auch die Leugnung des Genozids an den bayerischen Embryonen unter Strafe gestellt wird. Vergleichbares Recht für alle!
 
 

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Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
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