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27.06.2015
Analogie
Der zweite Weg des Sprachwandels
Die sogenannten Junggrammatiker sind dafür bekannt, daß sie die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze postuliert haben. Lautwandel geschieht mit der blinden Mechanik, mit der man einen Buchstaben auf der Schreibmaschine gegen einen anderen austauscht. Die bekannten Ausnahmen werden meistens durch Analogie erklärt. (Weitere Einzelheiten lasse ich weg.)
Chomsky und seine Anhänger haben die Analogie als Erklärung abgelehnt. Der Begriff sei leer. Andere haben ihn rehabilitiert. Vgl. Esa Itkonens Buch dazu. Vgl. auch:
„It seems idle metaphysics (...) to distinguish surely between 'rule-governed behavior' and ‘analogical learning‘, since on a higher level of sophistication analogies are restatable as rules, and rules may be viewed as the results of analogy.“ (Adam Makkai in McCormack, William/Wurm, Stephen (Hg.): Approaches to language. The Hague/Paris 1978:334)
Wir haben heute zum Beispiel ein langes a in Tag; es ist nach den obliquen Formen, wo es frühneuhochdeutsch eingetreten war, auf den Nominativ ausgedehnt worden, obwohl die Silbe dort geschlossen ist.
Lateinisch wurde ursprünglich honos, honoris dekliniert, mit Rhotazismus, vgl. honestus, wo das s des Stammes erkenmbar ist. Hier wurde der Nominativ analogisch zu honor umgeformt.
Das griechische Deponens hepesthai (folgen; vgl. das identische lat. sequi) hat das Synonym diokesthai nach sich gezogen (statt diokein).
er brauch nicht kommen hat Verlust der Endung und geänderte Konstruktion von den Modalverben übernommen, in die es funktional eingegliedert worden ist und immer weiter wird.
tückisch : Tücke = hämisch : x (so ist Häme entstanden)
In der Syntax übernehmen Wörter die Konstruktion ihrer Synonyme und Antonyme. Nach Sütterlin ist sich irren reflexiv geworden nach sich umdrehen usw.
Der dänische Linguist Christian Rogge hat einen neuen Grundsatz, freilich übertreibend, in die Diskussion gebracht: Die Analogie-Gleichungen, wie etwa Hermann Paul sie aufgestellt hat, dürfen nicht beliebige Beispiele aus dem Wortschatz enthalten, sondern nur solche, die in Kontexten konkret zusammen vorkommen. Das ist bei den Synonymen und Antonymen der Fall (wie unter "Synonymie" gezeigt). Der an sich unmögliche Genitiv des Nachts wurde ermöglicht durch die Nachbarschaft von des Tags im selben Kontext. Aus extravertiert wurde extrovertiert in der Nachbarschaft von introvertiert. Nachdem Kind und Weib den heute üblichen Plural ausgebildet hatten, übernahm Mann ihn ebenfalls, weil es im selben Kontext aufzutreten pflegt. - Ein fruchtbarer Gedanke jedenfalls.
Analogie ist mit dem Reim verwandt, wie der Gestaltsychologe Albert Wellek erkannt hat. Aus lat. reddere wurde rendere unter dem Druck von prendere (kein Beispiel von Wellek!).
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2018 um 08.56 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1639#39697
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Weil Eigennamen nur bezeichnen und nicht bedeuten, entwickeln sie sich nicht konsequent lautgesetzlich. Zum Beispiel die griechisch-lateinischen Heiligennamen:
Tönnies < Antonius
Löns < Apollonius
Eroms < Hieronymus
usw., jeweils mit vielen Nebenformen.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.07.2015 um 14.35 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1639#29439
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Nach dem Wort "Brückentechnologie", bei dem jeder zuerst an den Brückenbau denkt, unsere Regierung aber die Atomenergie meint und es korrekt "Überbrückungstechnologie" nennen müßte, hat sie nun das neue Wort "Brückenfinanzierung" erfunden, bei dem wieder jeder zuerst an den Brückenbau denkt, aber Überbrückungsfinanzierung meint. Ist es auch Blödsinn, hat es doch Methode. Kann denn die Politiker niemand lehren, wie man richtig spricht?
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.07.2015 um 10.50 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1639#29416
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Jacob Wackernagel lag teilweise im Streit mit den Junggrammatikern (Brugmann, Paul), aber in Wirklichkeit war der Unterschied nicht so groß. Die Junggrammatiker waren entschieden der Ansicht, daß die Menschen sich immer gleich bleiben und daher die „Triebkräfte“ des Sprachwandels zu allen Zeiten dieselben sind. Wackernagel stellt das so dar, als hätten sie gemeint, die Menschen seien in grauer Vorzeit schon ebenso rational gewesen wie heute, und bestreitet es. Andererseits kann er nicht leugnen, daß die Menschen heute noch ebenso irrational sind wie früher, als sie noch Gegenstände personifizierten, sexualisierten und eben überhaupt so waren, wie Lévy-Bruhl es den Primitiven nachsagt. Aber das Sprachmaterial, das beide Seiten vorführen, ist dasselbe, und die Erklärung eigentlich auch. Das zeigt sich z. B. an der Genus/Sexus-Diskussion, wo Wackernagel der „romantischen“ Linie Herder-Humboldt-Grimm folgt, die Junggrammatiker gern ihren Proportionsgleichungen und „Analogien“. Die Ergebnisse sind aber doch sehr ähnlich.
Was in der Sprachgeschichte neu hinzukam und immer noch wächst, ist die Rationalität der Fachsprachen (nicht streng mit Schriftlichkeit verbunden, aber in der Praxis doch damit einhergehend). Aber auch in diesem Punkt sind sich beide Schulen einig.
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