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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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29.07.2005
 

Arme Irre

Schriftsteller gelten hierzulande nicht viel.
Das IDS bescheinigte ihnen jahrelang Narrenfreiheit. Und als die KMK-Bürokraten sich noch fest im Sattel wähnten, ließen sie es an Arroganz nicht fehlen:

„Schriftsteller und Publizisten müssen also zur Kenntnis nehmen, daß ihre Interessen deshalb bei der Neuregelung der Rechtschreibung nicht im Vordergrund stehen, weil die neue Orthographie sich in erster Linie an den Bedürfnissen derjenigen orientiert, für welche die Regierungen unmittelbar Verantwortung tragen: die Schulen und die Behörden.“ (KMK-Pressemitteilung vom 25.10.1996)

In derselben Tonlage äußerte sich noch viel später ein Lehrer(!)-Vertreter, der heute im Rat für deutsche Rechtschreibung sitzt. Er mokierte sich über „die späten Dichter, die irgendwann einmal gemerkt haben, dass es da eine Reform gibt. Die machen aber ohnehin mit der Sprache, was sie wollen, und überschätzen jetzt plötzlich die Orthographie.“ (Ludwig Eckinger im Kölner Stadtanzeiger 6.2.2004)




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Kommentare zu »Arme Irre«
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Kommentar von Stefan Stirnemann, verfaßt am 29.07.2005 um 12.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=197#818

Angst vor der Vergänglichkeit

"Viele Dichter und Schriftsteller beteiligen sich lebhaft am Protest gegen eine Neuregelung der Rechtschreibung, wollen in Schulbüchern keine Umsetzung ihrer Texte in die neue Schreibweise dulden und fürchten, sie würden von künftigen Generationen nicht mehr verstanden. Schauen wir doch einmal bei einem Eckpfeiler deutscher literarischer Kultur nach, bei Goethe. (...)

Wir gehen davon aus, dass die meisten Leser und Leserinnen den 'Werther' in der Rechtschreibung von 1901/2 kennen gelernt haben. Es geht uns hier nicht um einen philologisch-textkritischen Vergleich der Ausgaben, der übrigens recht ergiebig ist, insbesondere wenn man die Erstausgabe mit der Ausgabe letzter Hand vergleicht und dann einmal schaut, was Trunz von wo übernommen hat. Es geht uns um die Wirkung von Weltliteratur in unterschiedlichen orthografischen Varianten. Wo ist der kulturelle Verfall der Übertragung in die neue Rechtschreibung aus der Fassung in der Rechtschreibung von 1901/2? Ist ein kultureller Verfall eingetreten bei den erheblich gravierenderen Änderungen, die Goethe selbst vorgenommen hat, und bei den Änderungen zwischen 1832 und 1951? Gibt es irgendwelche Verständnisprobleme in den Varianten und bei der Umsetzung in die neue Rechtschreibung?
Weder Lessing noch Goethe noch Schiller, weder Eichendorff noch Heine noch Fontane, Grimms Märchen nicht und auch nicht Wilhelm Busch oder Karl May hat ein heutiger Leser in originaler Orthografie gelesen, vom sprachmächtigen Martin Luther ganz zu schweigen. Wovor haben "Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Günter Grass, Siegfried Lenz, Botho Strauß, Ernst Jünger, Patrick Süskind, Hilde Domin und Günter de Bruyn" (Der Spiegel Nr. 42 vom 14.10.96: S.262) eigentlich Angst? Vor der Vergänglichkeit alles Irdischen und so auch ihrer Texte oder vor einer neuen Rechtschreibung, die dafür sorgt, daß diese Texte auch von künftigen Generationen noch gelesen werden können? Denn sie glauben doch nicht im Ernst, auch im Jahre 2100 schrieben unsere Kindeskinder noch so wie man 1901/2 schrieb."


Quelle:
Probleme bei der Umsetzung der neuen Rechtschreibung im Wörterbuch
Die Rechtschreibreform, Pro und Kontra, Herausgegeben von Hans-Werner Eroms und Horst Haider Munske (Berlin, Erich Schmidt Verlag 1997) (S. 25)

Karl-Dieter Bünting, Professor für Linguistik der deutschen Sprache an der Universität Essen Bünting/Ramona Karatas (Hgg.): Deutsches Wörterbuch. Mit der neuen Rechtschreibung. Isis Verlag Chur 1996, Nachdruck 1997)

Wilfried Timmler, Mitarbeiter der Arbeitsgruppe für Sprachberatung und Lexikografie der Universität Essen.

Eine kurze Besprechung drängt sich auf:
1) Die wenigsten Leser haben 'Werther' in der Rechtschreibung von 1901/2 kennengelernt: man schrieb damals noch Fraktur, nicht Antiqua. Und es ist sehr oberflächlich, von der "Rechtschreibung 1901/2" zu reden: auf der zweiten orthographischen Konferenz 1901 in Berlin wurde nichts grundlegend Neues beschlossen.
2) Was sind "unterschiedliche orthografische Varianten"? Gibt es noch Varianten, die sich nicht unterscheiden und insofern nur dem sehr geübten linguistischen Auge als Varianten auffallen?
3) "Wo ist der kulturelle Verfall der Übertragung in die neue Rechtschreibung?" Bessere Frage: Wo ist der Vorteil? In die andere Waagschale legen wir Lesbarkeit (Eszett) und Vertrautheit. Wer damit brechen will, braucht sehr gute Gründe. Mehr als ein Kulturbruch, ein echter Verfall ist die Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung (auch in der Fassung des Rates für Rechtschreibung).
4) Originale Orthografie: Ist damit die Handschrift gemeint oder die Druckgestalt? Es gibt auch heute noch Autoren, denen die schöne Druckgestalt genauso ein Anliegen ist wie eine schöne Handschrift.
5) Die Vergänglichkeit alles Irdischen und ihrer Texte: Der schlechte Interpret, der schlechte Sprachforscher fühlt sich heimlich als Knecht des zeitgenössischen Dichters und Sprachschöpfers. Jetzt kann er ihm einen Tritt versetzen.
6) 2100 so schreiben wie 1901/2? Man hat auch abgesehen von der Fraktur schon bald nach 1901 nicht mehr so geschrieben wie 1901. Beispiele aus dem Wörterverzeichnis von damals: Kardätsche (wer kennt das Wort noch?), Cylinder, Cigarre, das Hemde, Abends, Schifffahrt. Mit Schifffahrt schreiben wir 2005 so, wie man 1901 zum Teil noch geschrieben hat.
 
 

Kommentar von Pavel Nemec, Praha 4, verfaßt am 29.07.2005 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=197#816

Ein Volk muß wohl wesentlich länger unter einer Herrschaft der Dummheit gelitten haben als das deutsche, damit es den Wert seiner unabhängigen Dichter zu schätzen weiß und den für die Freiheit engagiertesten sogar zum Staatspräsidenten wählt.
 
 

Kommentar von Harald Keilhack, verfaßt am 29.07.2005 um 11.19 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=197#815

Es ist ja schon längst anerkannte Realität, daß die Stimme eines Ministerialbürokraten oder Kultusministers mehr Gewicht hat als die eines Schriftstellers oder gar Nobelpreisträgers - wir sind eben keine Kulturnation.
Und Deutschland ist ja bekanntlich elitefeindlich. Nicht einmal ein Müntefering rechnet sich selbst zur Elite, ungeachtet all seiner Machtfülle, und feuert lieber Breitseiten gegen „Hochwohlgeborene“ ab.
Schon dies unterstreicht den Etikettenschwindel der Elitefeindlichkeit, die den Weg für eine Pseudo-Elite aus Dummschwätzern, Technokraten und Duckmäusern erst möglich macht.
Die (pseudo-)sozialistische Bildungspolitik mit ihrer vielbeschworenen Chancengleichheit zementiert diese Verhältnisse: Anpassungsdruck für Hochbegabte in Richtung Mittelmäßigkeit, den in einigen Bundesländern SPD-Minister durch ihre Einheitsschule noch verstärkt haben.
Viele überdurchschnittlich kreative und intellektuelle junge Menschen kommen entsprechend angeknackst aus dem Schulbetrieb heraus. Sie haben ein wichtiges Lernziel bereits verinnerlicht: Daß sie nämlich in diesem Staat niemals etwas zu sagen haben werden. Viele finden ihre mehr oder minder prekäre Beschäftigung in einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Nische - so liberal sind wir ja, dies zu erlauben.
Die Diktatur der Mittelmäßigkeit feiert derweil ihren Triumphzug. Die Folgen dieses Treibens werden uns im Wirtschaftsteil einer jeder Zeitung plastisch vor Augen geführt.
Wir müssen der „Rechtschreibreform“ dafür danken, daß sie all diese Absurditäten eines maroden Politik- und Gesellschaftssystems eindrucksvoll beweist.

 
 

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