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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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24.11.2005
 

Sinn entstellend
Ich bin dagegen

Die österreichische Agentur APA und danach der „Standard“ sowie andere Zeitungen kündigen die morgige Ratssitzung an. Der Rat für deutsche Rechtschreibung wolle keine "Sinn entstellenden" Trennungen mehr zulassen.
Hübsch gesagt, oder vielmehr geschrieben. Allerdings stimmt es nicht ganz. Der Rat läßt mit großer Mehrheit weiterhin sinnentstellende Trennungen zu, jedenfalls in den Augen derer, die noch Sinn für den Sinn haben. Deswegen werde ich auch dagegen stimmen. Das Zweitbeste ist mir nicht gut genug.

Unsere Nürnberger Nachrichten entstellen nicht nur Sinn, sondern auch Leserbriefe. Heute lassen sie jemanden alles boykottieren, was unter "Menschen verachtenden" Arbeitsbedingungen produziert wird. Den berühmten Komponisten Helmut Lachenmann finden sie "Stil prägend".



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Kommentare zu »Sinn entstellend«
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Kommentar von Auryn, verfaßt am 15.08.2007 um 11.18 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#9973

Sehr geehrte Damen und Herren,

stellen Sie sich vor, eine zunehmende Anzahl von Verstößen gegen Verkehrsvorschriften führt zur Änderung dieser Vorschriften.

Aber Tatsache ist, daß die Masse der Dummheit obsiegt und so wird denen, die nicht fähig oder zu bequem sind, Regeln jenseits der Comic-, Medien- und Internetsprache zu erlernen, Raum gegeben zur Manifestierung der Plattheit.

Wäre es nicht so bedauerlich, wäre es zum "tot lachen".

Auryn
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.11.2005 um 11.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1721

"Streit um des Kaisers Bart"

Keine Sorge, Borella! Genau dies ist das letzte Wort, das die große Mehrheit der Leute an den Schalthebeln über die Rechtschreibreform gesprochen hat und weiterhin sprechen möchte. Klingt ja auch sehr souverän. Wörtlich so im Fernsehen etwa Ministerpräsident Kurt Beck oder der Chef der Dudenredaktion, schon vor Jahren. Das heißt, man soll die ganze Diskussion doch bitte endlich einstellen, sie ist lästig. Dieselbe Haltung nun bei den sprachtauben Funktionären im Rat für Rechtschreibung, deren innigster Wunsch ist, möglichst gar nichts reparieren zu müssen, Grammatik hin oder her, Sprachdemokratie hin oder her usw. Aber selbst diese blinden Hühner, denen die Materie im Grunde völlig egal ist und die am liebsten die ganze Groß-/Kleinschreibung in Unordnung lassen möchten, finden die Großschreibung bei hat/bekommt/gibt jmdm. Recht/Unrecht revisionsbedürftig, zumindest einige von ihnen, wie man hört. (Wir hatten die Unangemessenenheit besonders im Kontext von Gerichtsentscheidungen festgestellt: Das Gericht gab dem Angeklagten Recht usw.)

Wenn man so etwas schon belanglos findet, warum nicht gleich die ganze Reform? Das wäre konsequent. Man findet des Kaisers Bart unwichtig, nicht einzelne Haare aus diesem Bart.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 26.11.2005 um 10.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1719

Zur Reformregel Großschreibung von „Recht“ in „Recht haben“:

Schon vor der Reform haben nicht nur Schüler zuweilen den Fehler gemacht, „Recht haben“ zu schreiben. Die Reformer wollten dies nun orthographisch absegnen. Nun gibt es viele Wendungen, die weiterhin das kleingeschriebene „recht“ verlangen. Hier ein Auszug aus dem Duden 2000:

Kleinschreibung:
- ein rechter Winkel
- der rechte Ort; der rechte Zeitpunkt
- zur rechten Hand, rechter Hand (rechts); jmds. rechte Hand sein (übertr.)
- jetzt erst recht
- so ist es recht; das ist [mir] durchaus, ganz, völlig recht; es soll mir recht sein
- das geschieht ihm recht
- das ist nicht recht von dir; es ist [nur] recht und billig; alles, was recht ist
- man kann ihm nichts recht machen
- du hast recht daran getan
- gehe ich recht in der Annahme, dass ...

© 2000 Dudenverlag

Man kann heute beobachten, daß – gerade auch in der Presse – eine inflationäre Verwendung des (vermeintlichen) Substantivs „Recht“ stattfindet. Alles was „Recht“ ist: Das Adverb gerät völlig ins Abseits. Hört ein durchschnittlicher Schreiber irgendwo RECHT, schreibt er automatisch groß. Fast alle obigen Wendungen sind davon betroffen. Sogar das Wörtchen „zurecht“ wird zerlegt in „zu Recht“. Ich bezweifle auch, ob Microsoft in der Lage ist, solche Feinheiten jeweils maschinell in den Griff zu bekommen. Ein Rest an Verstand scheint doch nötig zu sein, um schriftlich kommunizieren zu können.

Wer ein komplexes System, dessen Spielregeln er nicht kennt, verändert, um Erleichterungen zu erzeugen, wird immer solche Überraschungen erleben. Deshalb: Finger weg von einem evolutionären System!

 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 26.11.2005 um 09.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1717

Eine kurze Anmerkung zu dem Beispiel "Recht haben".

Da es in der (zumindest bei Word) hinterlegten Wörterliste beide Schreibungen gibt (und geben muß), also "recht" und "Recht" , kann der Schreiber unbehelligt schreiben, was er für richtig erachtet.
Der "Spell checker" meldet in erster Linie vergessene oder zu viel getippte Buchstaben sowie "legasthenische" Reihenfolgefehler. Und natürlich Fälle aus dem Bereich GZS.

Ansonsten finde ich die Diskussion hier ein wenig - einen "Streit um des Kaisers Bart". Aber das letzte Wort zu haben, das ist halt schon ...
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.11.2005 um 08.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1712

Also, jetzt wieder ernsthaft. Herr Lachenmann hatte zur Reformschreibweise hat Recht, von mir als Beispiel der Entstellung und Entfremdung (bzw. Verfremdung) bezeichnet, ausgeführt:

... das Gemeinte kann ... mit dem bösesten Willen niemandem unklar sein. Wenn sich der Schreibende ganz sicher ist, mit seiner Schreibweise genau das mitzuteilen, was er mitteilen will und der Lesende auch genau das versteht, gibt es keinerlei Entfremdung von nichts.

Der Haken ist, daß ein Schreiber mit der Haltung "Für die Rechtschreibung ist die Software zuständig" gar nicht mehr entscheidet, ob er hat recht oder hat Recht schreiben möchte, um das von ihm Gedachte dem Leser treffend zu übermitteln. Der PC, notfalls das Wörterbuch oder das Regelwerk, entscheidet: hat Recht. Der Schreiber winkt ab - was soll er da noch groß überlegen oder aufbegehren? So setzt sich die Manipulation durch, die Frau Pfeiffer-Stolz beschrieben hat.

Es kommen zwar fast dieselben Buchstaben beim Leser an, aber eine eigentlich (meist) ungewollte Großschreibung: Recht statt recht. Das erstere ist das Substantiv Recht mit dem Bedeutungsfeld "Justiz, Gerechtigkeit, juristische Ordnung". Das zweite ist das Adjektiv mit dem Bedeutungsfeld "wahr, stimmig, überzeugend". Ist das eine Nuance, nur weil beides eng verwandt ist und akustisch gleich klingt? Es geht darum, daß hier Unterschiede vorhanden sind - ähnlich ist nicht dasselbe wie identisch.

Der Schreiber, der sich der Maschine überantwortet, verzichtet nun darauf, die ihm richtig oder besser erscheinende Wahl zu treffen. Das sehe ich durchaus als Beispiel der genannten Entfremdung zwischen Schreiber und Text an. Daß viele Schriftsteller das orthographische Handwerk nicht gut beherrschen, sei nicht bestritten, auch der Vorrang der Gedanken und der Wortwahl vor der helfenden Rolle der Rechtschreibung; aber es widerspricht auch nicht der Beobachtung von Frau Pfeiffer-Stolz, daß die Sprachgemeinschaft ein Stück Identität verliert, wenn sie sich von irgendwelchen perversen Bürokraten und anschließend vom Computer unsachgemäße und unerwünschte Schreibungen aufdrängen läßt, für die hat Recht nur eines von tausend Beispielen ist.

Die hier als Exempel genannten Unterschiede zwischen Recht und recht kann man abhängig vom persönlichen Maßstab natürlich als "Feinheiten" einstufen, auf die es nicht ankomme. Nach demselben Prinzip ist es auch unerheblich, wenn man schreibt ist mir Recht oder zu Recht weisen - die ganze Reform samt ihren Auswüchsen und Nebeneffekten erscheint dann als Lappalie. Man kann es nachvollziehen, daß die geplagten Mitmenschen zu diesem erleichternden Urteil gelangen möchten, aber ich meine, man muß ihnen nicht mit diesem Bedüfnis nach Verharmlosung hinterherlaufen. Es ist auch nicht der Weltuntergang, wenn der Staat anordnet, beispielsweise Adjektive als Substantive darzustellen, aber es ist hochgradig unsinnig, es ist schlechter als nutzlos, es ist ein Mißgriff, der millionenfache Irritationen auslöst und den man so schnell in keinem anderen Gemeinwesen vorfindet. Kritik und Sorge kommen mir sehr angemessen vor.
 
 

Kommentar von nos, verfaßt am 26.11.2005 um 01.31 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1711


Des Mohren Recht (zu 296#1709)

Und ich hatte geglaubt, mir einen Ruf als „Brandlöscher“ erworben zu haben.
(... wobei es heutzutage äußerst schwierig ist, seinen Ruf zu verteidigen)

Als „Brandtwart“ werde ich wohl nicht in die Geschichte eingehen; eher als Mohr, der mit geschwärztem Gesicht gemeinhin verdächtig erscheint.



 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.11.2005 um 23.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1710

Es war ironisch gemeint. Ein Smiley hätte es vielleicht abgesichert, aber das finde ich so, wie wenn man hinzufügt: "Das war ein Scherz, bitte jetzt amüsiert sein." Also bitte nicht ernst nehmen. Verteidigung ist nicht nötig, weil keine Kritik vorausging.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 25.11.2005 um 22.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1709

Ich habe geglaubt, mir in den zurückliegenden Rechtscheibkriegsjahren einen ehrwürdigen Ruf als Friedefürst erworben zu haben, der geht offenbar jetzt den Bach runter. Die Segel hatte ich nun doch genauso gestrichen, wie ich die Nase von der Diskussion so langsam voll hatte, und nun geht es doch weiter.

Habe ich denn behauptet, eine Schreibweise wie „Recht haben“ fände ich in Ordnung? Ist es mir nicht gelungen, deutlich zu machen, daß wenn Menschen, die sich vor dieser Schreibweise nun mal einfach nicht ekeln können, sosehr wir uns das wünschen, ohne jegliche Identitäts- oder Integritätsverluste einander genau das in allen Facetten mitteilen können, was sie sich mitteilen wollen? Mir persönlich wäre diese Orthographie zu primitiv, genauso wie manchen, die in mir hier plötzlich einen Treulosen wittern. Wem es in der Orthographie so sehr auf die Nuancen ankommt, daß er ihren Verlust durch Änderungen von Schreibweisen befürchtet, sollte auch imstande sein, Nuancen einer Mitteilung, die sowohl in der vertrauten Rechtschreibung gehalten als auch deutlich formuliert sind, wahrzunehmen. Oft verhindert die vorweggenommene Befürchtung einer Aussage die Wahrnehmung der eigentlichen Aussage selbst. Da helfen dann keine orthographischen Nuancierungsfertigkeiten mehr weiter. .


 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.11.2005 um 21.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1708

Was tun bei drohender Reformunempfindlichkeit?

Verwundert stelle ich fest, daß Herr Lachenmann die Schreibung Recht haben nicht in ihrer ganzen Verfehltheit anprangert, sondern als unschädlich hinstellt. Das ist Absentia horroris, der sogenannte Ekelverlust: ein verbreitetes Symptom der modernen Lebenseinstellung, das allen möglichen Erscheinungen der kulturellen Dekadenz Vorschub leistet. Wie können wir Sie vom Ekelverlust heilen, lieber Herr Lachenmann?

Ich schlage folgende Therapiesitzung vor. Betrachten Sie ausgiebig den folgenden Satz:

Ich habe Recht

Stellen Sie sich dabei bitte etwas total Ekelhaftes vor. Etwas absolut Scheußliches. So lange, bis Sie sich übergeben müssen. Dann wird das schon wieder.
 
 

Kommentar von nos, verfaßt am 25.11.2005 um 20.29 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1707

„Zurzeit/zur Winterzeit" braucht’ s keine Rasenmäher

Ich finde es ausgesprochen schade, daß Reformkritiker stets zur sachlichen Argumentation angehalten werden, während Reformbetreiber sozusagen Narrenfreiheit genießen und sich das schnöde Argument „Die Fakten sind geschaffen. Ergo hat sich das Sprachvolk tunlichst daran zu halten!“ zu Nutze machen können.
Diese Argumentation wurde im Jahre 1996 ermöglicht – ausschließlich mit Hilfe eines „Staatsstreichs“. Und jener Staatsstreich hat die annähernd 100jährige Gültigkeit eines weitestgehend funktionierenden kommunikativen Systems mit bürokratischem Federstrich beseitigt, wobei nicht einmal die sogenannte Beweislast (der sich prinzipiell sämtliche Reformer und Reformatoren zu unterziehen haben) angetreten werden mußte.
"Nein" und abermals "Nein"! Mit Sachlichkeit allein kann man einem Monopolisten nicht zu Leibe rücken; eher mit dem Gegenteil!

Es spielt keine Rolle, wer dafür gesorgt hat, daß das einstige System nahezu 100 Jahre währte/wehrte. Und es ist unsinnig, nachzufragen, ob die Schriftsteller oder deren Lektoren; ob die Lehrer oder deren Schüler; ob die literatur- oder die gebrauchstextproduzierenden Medien; die Lexika oder die Wissenschaft – (wer, mit welchem strategischen Erfolg auch immer) – das gesamte System vor dem Verfall bewahrten.
Allenfalls spielt die Entwicklung eine Rolle: Der Umstand, daß spätestens seit dem Ende der 60er-Jahre Verfallserscheinungen des Systems unübersehbar; in wesentlich größerem Ausmaß allerdings nur herbeigeredet wurden.
Insofern läuft alles auf die Frage hinaus: Ist das neue System besser?

Dafür hätte ich gerne einen Beweis, von jenen, denen die Beweislast obliegt!
Und solange diese nicht erbracht ist, behalte ich mir vor, in gedämpftem Zynismus gegen die Art von Rasenmäherpolitik vorzugehen, die unser Staatswesen „zurzeit noch“ auszeichnet.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 25.11.2005 um 19.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1706

Ach, wie schön ist es doch in der heimischen Gaaaas-tronomie, wo ich eben saß und bei einem Täßchen Kaffee Zeitungen durchblätterte.
Keineswegs denke ich immer an die Rechtschreibreform, wäre auch angesichts des vorweihnachtlich verschneiten Salzburg nicht angebracht. Ich lese einfach nur.

… sagte Derselbe in der Ansprache …
… jetzt erst Recht …
… konnte dem Vorsitzenden nichts Recht machen …
… Gas-tronomie …
… das sei auf die Wetterlage der vergangenen Monate zurück zu führen …

Verhöhnung des Lesers.

Heute früh aus Neugierde nachgeforscht: der altertümliche „Ausweis“ kommt tausendfach in vielerlei Gestalt daher:

Aussweiss
Aussweis
Ausweiß
Aussweiß
Ausweiss

Seltsamerweise konnte ich keinen einzigen „Außweiss“ finden. Wahrscheinlich Beamtenwillkür oder reine Formsache.

 
 

Kommentar von WL, verfaßt am 25.11.2005 um 19.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1705

Ungern, lieber Herr Wrase, denn das Gemeinte kann auch in Ihrem Beispiel mit dem bösesten Willen niemandem unklar sein. Wenn sich der Schreibende ganz sicher ist, mit seiner Schreibweise genau das mitzuteilen, was er mitteilen will und der Lesende auch genau das versteht, gibt es keinerlei Entfremdung von nichts. Aber wenn es der Wahrheitsfindung und dem inneren Frieden dient, soll mir Alles Recht sein.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.11.2005 um 18.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1704

Lieber Herr Lachenmann,

Sie haben, zugegeben, Recht. Wobei ich diesmal mit der Anwendung der neuen Rechtschreibung demonstriere, dass mit derselben durchaus Qualitätseinbußen und eine Entstellung des Gemeinten verbunden sein können, also auch eine Entfremdung des Textes vom Schreiber, wie sie Frau Pfeiffer-Stolz thematisiert hat. Können wir uns nicht darauf einigen, dass Sie beide Recht haben?
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 25.11.2005 um 17.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1703

Aber lieber Herr Wrase,
wir wissen doch alle, daß es schon immer und gar nicht wenige Autoren gegeben hat, die ihre Texte entweder diktierten oder erst einmal, ohne auf die Rechtschreibung zu achten, mit tausend Tippfehlern sich von der Seele schrieben und die Sorge um die Rechtschreibung Sekretärinnen oder Lektoraten überließen, bei denen sie die Beherrschung der Orthographie voraussetzten!
Diese Autoren waren gewiß nicht grundsätzlich an der Sprach- und Schreibqualität desinteressierte "Schreiberlinge" oder "Schreiber minderen Rechts". Ich könnte aus meiner Verlagserfahrung einige hochangesehene Schriftsteller aufführen, deren selbstgetippten schluderigen Manuskripte ich zu sehen bekommen habe, und die dennoch in die deutsche Literaturgeschichte als so etwas wie Sprachtitane eingegangen sind.
Andere, die sich über auch nur die geringste Korrektur eines Kommas oder sonst einer Schreibung entsetzlich aufregen konnten, stellten sich oft als Autoren von inhaltlich und sprachlich höchst mäßiger Qualität heraus. Umso schlimmer für einen Lektor, der dann wider besseres Wissen schlechtes Deutsch stehen lassen muß.
Ich sage ja gar nicht, daß es nicht wünschenswert wäre, wenn man sich beim Schreiben bewußt einer gepflegten Orthographie befleißigt. Aber es handelt sich um eine Sekundärtugend und deswegen bricht so manche Empörung bei genauerem Hinsehen allzuleicht wegen mangelnder Stringenz in sich zusammen und das tut dem Gesamtbild der Argumentation gegen die Rechtschreibung nicht gut, im Gegenteil.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.11.2005 um 16.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1702

Andererseits ist da schon was dran. Es gibt diese verbreitete Einstellung: "Mir egal, welche Rechtschreibung, das macht doch sowieso heute der PC." Wer seine Kompetenz auch "nur" bei der Rechtschreibung an eine Maschine abtritt, macht sich in gewisser Weise tatsächlich zu einem Schreiber minderen Rechts, und diese Selbstentwertung sehe ich durch einen Ausdruck wie "Schreiberling" - in diesem speziellen Kontext - treffend repräsentiert. "Mir egal, welche Rechtschreibung, dafür ist eh die Software zuständig" - wenn sich jemand angesichts dieser zeitgemäßen Haltung Sorgen über das Verhältnis von Schreibern und ihren Produkten macht, ist noch kein Apokalyptiker. Es gibt doch sogar Schriftsteller, die bewusst auf den Einsatz des PCs verzichten, damit sie weiterhin gezwungen sind, sich genau zu überlegen, was sie wie schreiben wollen.

Um zu demonstrieren, dass ich auch den Ausführungen von Herrn Lachenmann zustimme, schreibe ich diesen Text gegen meine Gewohnheit in neuer Rechtschreibung. Es ist (in diesem Fall) kein Qualitätsverlust damit verbunden. Die Nachteile der neuen Rechtschreibung sind in anderen Bereichen wohl noch größer: Verlust der einheitlichen Schreibkonventionen, die beim Schreiben wie beim Lesen hilfreich waren. Dazu die Politik, das Finanzielle, der ganze unnötige Aufwand beim Lernen, beim Korrigieren, bei der Konvertierung, bei immer neuen Modifizierungen der Rechtschreibung, dem keinerlei Ertrag gegenübersteht - und natürlich die allgemeine Verwirrung.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 25.11.2005 um 15.13 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1701

Bei allem Verständnis für eine auch temperamentvolle Ablehnung der Rechtschreibreform sollte man bei seinem Hader doch die Kirche im Dorf lassen.

Journalisten und Autoren sind nicht zwangsläufig „Schreiberlinge“, für die die Orthographie „Drecksarbeit“ ist, nur weil sie in der hausintern vorgeschriebenen neuen Rechtschreibung arbeiten und das nicht so kritisch sehen wie unsereins.

„Die Entfremdung der Menschen von der Sprache“, Verlust des „innigen Kontakts zum Geschriebenen und Gedachten“ und „Verzicht auf Sinnstiftung und Identität“ sind wohl auch reichlich weit hergeholte Schreckensbilder, die herbeizuführen die Rechtschreibreform denn doch kaum die zerstörerische Potenz haben dürfte.

Gerade daß sie diese apokalyptischen Folgen so überhaupt nicht hat, ist doch das Problem, denn dann hätte sie nicht zehn Jahre überleben und sich so weit verbreiten können, wie das jetzt der Fall ist, sie hätte auch keinerlei Zukunftschancen. Die Reform ist nicht verheerend schlimm, aber sie ist hundsmiserabel und peinlich. Dies und die Begleiterscheinungen ihrer Entstehung und Durchsetzung sind Grund genug, sie energisch zu kritisieren und abzulehnen.

Nicht die Zerstörung eines unwiederbringlichen Sinn- und Identitätsträgers ist das Problem, sondern die Beschädigung, die Verschlechterung einer gut entwickelten kollektiven Kommunikationskultur. Auch in einer weniger ausgereiften, fehlerhaften und fehlerträchtigen Rechtschreibung kann alles formuliert und vermittelt werden, nur eben schlechter, zumindest vorläufig. Das merkt man aber nur im Vergleich, und wer die von uns bevorzugte „alte“ Rechtschreibung nicht mehr gelernt hat, wird keinen Mangel empfinden, deren Vorzüge auch nicht mehr erkennen können und schon gar nicht erleben müssen, daß die hier an die Wand gemalten Menetekels jemals Wirklichkeit werden.

Es ist die alte Weisheit: Wenn „Sender“ und „Empfänger“ denselben „Code“ verwenden, dann funktioniert die Kommunikation, und für alles, was vermittelt werden soll, wird es entsprechende Signale geben, auch für die feinstnuancierten Aussagen. Diese Signale werden „Sender“ und „Empfänger“, die die Mittel der traditionellen Rechtschreibung nicht haben, wenn ein Bedarf dafür vorhanden ist, entsprechend entwickeln. Es ist kaum zu befürchten, daß Neuschriebler, die zu tiefen und differenzierten Gedankengängen fähig sind, diese nicht schriftlich adäquat werden ausdrücken können oder gar zu solchen Gedankengängen nicht mehr in der Lage sein werden, weil die orthographischen Mittel sich in einigen Teilbereichen gegenüber der überlieferten Rechtschreibung geändert haben.

 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 25.11.2005 um 13.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1700

tot geboren

Der Duden aus dem Jahr 2000 verzeichnet "tot geboren" als neue und einzig richtige Schreibung, im Duden 2004 heißt es "tot geboren, auch totgeboren".

Gibt man beim Googeln "tot geboren" ein, so wird man gefragt: "Meinten Sie totgeboren?"

Jetzt frage ich mich, ob hier das Suchprogramm veraltet oder zwei Schritte voraus ist ...

Übrigens: zum kürzlich erwähnten Gaßpedal paßt der Außpuff oder Ausspuff. Unzählige Male herauszugoogeln.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 24.11.2005 um 18.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=296#1693

Natürlich geht das alles, und es geht noch weiter. Haben wir doch die Maschinen, die den Schreiberlingen bei den Printmedien die orthographische "Drecksarbeit" abnehmen. Auf diese Weise wird nun langfristig die Entfremdung der Menschen von der Sprache vorangetrieben. Mehr und mehr überlassen sie ihre Sprache dem Schicksal elektronischer Korrekturprogramme. Sie verlieren den innigen Kontakt zum Geschriebenen (und Gedachten) und verzichten, ohne es zu wissen, auf Sinnstiftung und Identität.
 
 

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