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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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03.08.2006
 

Geistesriesen
Die ZEIT ist und bleibt das Intelligenzblatt der Deutschen

Nach so vielen dummen Kommentaren nun das erlösende Wort von Jens Jessen:

"Zu den Merkwürdigkeiten der Debatte gehörte, dass in all der Aufregung vollständig vergessen wurde, zu welchem Zweck die Reform einst ins Werk gesetzt worden war, nämlich um den Schülern das Schreibenlernen zu erleichtern. Darum wurde von den Gegnern der Reform auch nicht das Naheliegende eingewandt: dass der Mensch im Laufe seines Lebens unendlich mehr liest als schreibt, und deswegen Orthografie vielleicht besser der Lese-erleichterung statt der Schreiberleichterung dienen sollte."

Ach nee! Das sollten wir vergessen haben? Ich meine, wir haben es zehn Jahre lang und bis zum Überdruß gepredigt, aber die ZEIT hat es nicht hören wollen in ihrem Zimmerschen Wahn vom "Bürokratenstreich" usw.


Hier zur Erinnerung noch einmal eine Stelle vom Anfang meines "Schildbürger"-Büchleins, immerhin schon 1997 erschienen:

"Vom Sinn der Rechtschreibung

Schreiben für Leser

Das Rechtschreiben hat denselben Zweck wie das Schreiben überhaupt. Wir schrei­ben, um dem Leser einen Inhalt mitzuteilen. Es ist zum Beispiel günstig, dieselben Wörter im­mer auf die gleiche Weise zu schreiben, damit der Leser sie sogleich als die­selben wieder­erkennt. Die Rechtschreibung hat im Laufe der Jahrhunderte noch viele weitere Hilfsmit­tel gefunden, die allesamt dazu dienen, dem Leser einen bestimmten Inhalt möglichst sinnfällig vor Augen zu führen. (...)

Die Orientierung an den Bedürfnissen des Lesers ist der Schlüssel zum Verständnis der Rechtschreibung und zur Beurteilung der Rechtschreibreform.

Jeder von uns liest hundert- bis tausendmal mehr, als er schreibt. Viele Texte werden nur einmal ge­schrieben, aber tausend-, ja millionenfach gelesen. Es ist ganz natürlich, daß sich alles um den Leser dreht. Auch der sogenannte gute Stil hat dasselbe Ziel: Wenn wir an einem Text feilen, prüfen wir, wie er auf uns als Leser wirkt. Fallen die Betonungen gleich beim ersten Lesen auf die richtigen Stellen? Dann ist schon viel ge­wonnen. Außerdem gilt: Nicht alles, was man hören kann, kann man auch schreiben. Diesen Mangel machen wir in der Schrift wenigstens teilweise wett, indem wir man­ches schreiben, was man nicht hö­ren kann, zum Beispiel Großbuchstaben oder den funktionalen Unter­schied zwischen das und daß.

Schreiben und Lesen stehen einander keineswegs symmetrisch gegenüber. Selbst Or­thographieforscher verkennen dies gelegentlich. So spricht Dieter Nerius von einer "Aufzeichnungsfunktion" und spiegelbildlich dazu von ei­ner "Erfassungsfunktion", womit er die Seite des Schreibenden und die des Lesen­den berücksichtigt zu haben glaubt: Sowohl dem Interesse des Schreibenden als auch dem des Lesenden müsse die Rechtschreibung entgegenkommen. Aber ein solches spiegelbildliches Verhältnis gibt es nicht. Das Lesen kommt nicht als etwas Zweites zum Aufzeichnen hinzu, sondern das Schreiben selbst geschieht unter ständiger Kontrolle durch das Au­ge, d. h. der Schreibende, auch wenn er nicht ausdrücklich für Leser schreibt, sondern um des reinen Aufzeichnens willen, kann nicht umhin, während des Schreibvorganges das Geschriebene zu lesen. Auch dies beweist noch einmal den Vorrang des Lesens."



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Kommentare zu »Geistesriesen«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.05.2020 um 16.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#43547

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5201

Die taz hatte Herrn Landolt früher schon einmal befragt. Damals sagte er:

Es liegt in der natur der sache, dass die befürworter der reform ihr anliegen nicht so fanatisch vertreten wie die gegner. (taz 12.8.04)

Die Natur der Sache besteht darin, daß die Reformer die Staatsmacht hinter sich wissen; die Gegner haben nur ihre Argumente.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2013 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#24253

Fritz Pasierbsky/Sara Rezat: Überreden oder Überzeugen? Sprachlichen Strategien auf die Schliche kommen. Tübingen 2006.

In diesem Buch gibt es ein Kapitel "Wie korrekt sind induktive Argumente? oder Wie ein ZEIT-Autor die alte Rechtschreibung schlecht verteidigt".

2004 hatte Jens Jessen wieder einmal die reformierte Rechtschreibung verteidigt, Ulrich Stock die "alte". Pasierbsky und Rezat sagen, sie gehörten nicht zur Jubelschar der Reform-Befürworter, aber sie wählen eben doch den Text des Reformkritikers aus, um ihn zu zerpflücken, obwohl man das mit Jessens Texten natürlich genau so machen könnte. Was liegt daran, ob Herr Stock die Reform mit falschen Argumenten ablehnt? Das kann nur sterbenslangweilig werden, wie das ganze Buch.

Laienhafte Gegner der Reform gab es ebenso wie laienhafte Befürworter, sogar noch mehr. Und sie hatten recht, auch wenn ihre Argumente falsch waren, denn die Begründungspflicht lag bei den Reformern. Wenn Sprachwissenschaftler, die immerzu behaupten, sie hätten eine gesellschaftliche Verantwortung, so auf die Verteidiger der üblichen Sprache eindreschen, ist das ziemlich peinlich.
 
 

Kommentar von Klaus Malorny, verfaßt am 06.08.2006 um 11.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5224

Sehr geehrter Herr Ickler,

wenn Ihnen die Zeit dazu nicht zu schade ist -- verdient hätte es Herr Knaden meines Erachtens. Natürlich habe ich ihm damals wie heute ordentlich meine Meinung geschrieben, aber die ist natürlich unbedeutend.

 
 

Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 05.08.2006 um 16.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5205

Mit Rolf Landolt hat die taz einen "Orthografieexperten" zu Rate gezogen, der ihrem eigenen Niveau voll und ganz entspricht. Allerdings: Die Fragen des Redakteurs lassen durchscheinen, daß er nicht ganz glauben kann, was er da an Unfug unterbreitet bekommt. Nun ja, irgendwie muß auch die taz ihre Zeilen füllen. Schwamm drüber.
 
 

Kommentar von taz, verfaßt am 05.08.2006 um 11.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5201

http://www.taz.de/pt/2006/08/01/a0134.1/text

"Wir müssen weiter diskutieren"
Der Orthografiexperte Rolf Landolt hält die Rechtschreibreform für unfertig

Wie finden Sie, dass der Duden nun empfiehlt, "sitzen-bleiben" je nach Sinn getrennt oder zusammenzuschreiben?

Es ist ein Rückschritt - aus einer präwissenschaftlichen, laienhaften Auffassung heraus ist man wieder dazu gekommen, Bedeutungen stärker zu differenzieren. Das ist der Rechtschreibung nicht angemessen.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 05.08.2006 um 11.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5199

Die Behauptung der "Wiederherstellung klassischer Schreibweisen" ist lediglich formal vertretbar.

Früher gehörte zu einer gewissen Schreibweise auch eine klare Bedeutung, heute kann man sich in vielen Fällen für jede von zwei unterschiedlichen Bedeutungen nach Belieben eine Schreibung aussuchen, wenn man lustig ist auch genau die gegenteilige der sinnrichtigen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 05.08.2006 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5198

Ich möchte hier mal ein Wort für diesen Herrn Knaden einlegen. Zwar überschätzt er sich, zwar ist er ignorant. Aber was ist diese Selbstüberschätzung und Ignoranz verglichen mit denselben Merkmalen bei den Reformern! Und bei den Politikern! Und bei den Journalisten der meinungsbildenden Blätter. Herr Knaden bildet sich eben ein, wie viele andere auch, er stehe auf der richtigen Seite, und dann bläst er die Fanfare für die Reform, so gut er es eben kann. Ihn trifft aber keine Schuld, im Gegensatz zu den genannten Gruppen, die für den Mist verantwortlich sind.

Ich sehe bei einem kleinen Licht wie Herrn Knaden keinen großen Unterschied zu den Millionen anderen, die die Reform loben, nachdem die Propaganda ihr den Weg gebahnt hat. Bei vielen Themen bilde ich mir meine Meinung in erster Linie dadurch, daß ich aufsauge, wer was ungefähr darüber sagt, und wenn sich bei einigermaßen vertrauenswürdigen Gewährsleuten eine vorherrschende Einschätzung zeigt, neige ich ihr ebenfalls zu. Wenn ich keine Ahnung vom Thema hätte, würde ich bei der Rechtschreibreform vielleicht auch so daherreden wie der Modelleisenbahner, nach dem Motto: Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß ich falsch liege, dasselbe sagen die meisten anderen schließlich auch.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 05.08.2006 um 10.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5197

Theoretisch könnten beide recht haben: Wenn 0,6 Prozent des Wortschatzes geändert wurden und davon der Rat 80 Prozent einer Revision unterzogen hat, käme ein Resultat von 0,5 Prozent hin. Aber es sind ursprünglich viel mehr als 0,6 Prozent reformiert worden, und viel weniger als 80 Prozent der verbotenen Schreibungen wurden wiederhergestellt. Zehetmair meinte ja wohl auch, unseriös genug: 80 Prozent ohne die ss/ß-Schreibung. Trotzdem ist seine Zahl zu hoch.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 05.08.2006 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5196

An Borella:

80 % der klassischen Schreibungen wurden wirderhergestellt (Behauptung des Wanderpredigers Zehetmair)

Der Rat durfte nur 0,5 % des Wortschatzes anfassen (Behauptung eines mittelhohen Angestellten eines mittelmäßigen Abendblatts)

Wer lügt?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2006 um 06.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5195

Der von Herrn Malorny entdeckte Beitrag des Modelleisenbahners Knaden ist wirklich köstlich! Die Unwissenheit fällt neben der grotesken Selbstüberschätzung gar nicht ins Gewicht. Vielleicht eine Überkompensation der Miniaturisierung. Soll ich ihm schreiben und darüber aufklären, daß die Modelleisenbahnzeitschrift MIBA im Rechtschreibrat keine zentrale Rolle gespielt hat?
 
 

Kommentar von borella ;-(, verfaßt am 04.08.2006 um 22.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5192

Unterschwellig wird in vielen Artikeln die Meinung vertreten: liebe Leute regt euch nicht auf, es sind ohnehin nur wenige Prozent der Wörter, die überhaupt von der Reform betroffen sind; davon geht die Mehrheit auf die neue s-Schreibung und nur ca. 1% betreffen den Rest.
Sich wegen 1% aufzuregen, haben wir denn wirklich nichts Wichtigeres zu tun ...

Kleinlichkeit wird einem also unterstellt, wenn man über eine falsche, eine zweideutige oder eine sonstwie störende Schreibweise innerhalb von 100 Wörtern überhaupt zu diskutieren bereit ist (dieser Beitrag hat übrigens 136 Wörter).

Obwohl die Häufigkeit statistisch vermutlich noch viel geringer ist, so stellt sich doch die Frage, warum soll man freiwillig diese Verkomplizierungen, also die nach dem Zufallsprinzip vom Sinn abgekoppelten neuen Schreibweisen, für gut befinden, wenn man weiß, daß es über viele Jahrzehnte schon wesentlich bedeutungsgerechtere Schreibweisen gab?
 
 

Kommentar von Klaus Malorny, verfaßt am 04.08.2006 um 21.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=583#5191

Nicht nur die ZEIT versucht, sich ins rechte Licht zu rücken und sich Persilscheine auszustellen, auch wenn man dabei die Wahrheit ein bißchen verbiegen muß. Ein Herr Knaden von der vermutlich größten deutschen Modelleisenbahnzeitschrift MIBA erklärt nun, einen Beitrag zur Initiierung der jüngste Reform der Reform geleistet zu haben (http://www.miba.de/miba/06/08/3.htm). Er bezieht sich dabei auf ein Editorial, das er zwei Jahre zuvor schrieb, wohl in der Hoffnung, daß niemand nachliest. In diesem Editorial (http://www.miba.de/miba/04/10/3.htm) ist nämlich außer dümmlichen Gequatsche gegen die Reformgegner nichts zu finden. Mir blieb bei derartigen unverfrorenen Behauptungen die Spucke weg.
 
 

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