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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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22.01.2008
 

Gremienprosa
Lang, dünn und „korrekt“

Ich befasse mich seit einiger Zeit mit dieser Textsorte. Wenn Gremien einen Text aushecken, muß er am Ende verschiedene Eigenschaften haben, die ihn ungenießbar machen.
Er muß "konsensfähig" sein, darf also keine deutlichen Positionen enthalten. Er muß nach was aussehen, wird also auch Banales mit großem terminologischem Aufwand weitläufig umschreiben. Und dann ist nach meinen Beobachtungen noch etwas ausnahmslos der Fall: Die Texte sind politisch korrekt (feministisch) und orthographisch folgsam – bis hin zu "selbstständig", das die Verfasser für eine reformbedingte Neuschreibung halten und vorsichtshalber einsetzen, wo sie es früher keineswegs verwendet hätten.

Bildungsstandards sowie der "Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Fremdsprachen" samt Kommentarliteratur sind gute Beispiele, es gibt aber zahllose weitere.



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Kommentare zu »Gremienprosa«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2016 um 06.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=954#33020

Nach jahrzehntelanger Diskussion über Lernziele und objektive Testverfahren ist man schließlich beim "Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen" angekommen, dem absoluten Tiefpunkt. Die "Kompetenzstufen" (der Ausdruck wurde erfunden, um die behavioristischen "Lernziele" in Vergessenheit zu bringen) sind so vage definiert, daß jedem Testtheoretiker die Haare zu Berge stehen müßten:

https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinsamer_Europ%C3%A4ischer_Referenzrahmen

In der Praxis funktioniert es, weil man sich auf die Intuition erfahrener Sprachlehrer verlassen kann. Das war ja schon immer so, und auch hier gilt: Außer Spesen nix gewesen. Als Beobachter und ein bißchen Leidtragender war ich lange genug involviert und bin froh, daß ich nichts mehr damit zu tun habe. Immerhin habe ich den Typ besser kennengelernt, der nichts lieber tut, als in Gremien herumzusitzen und zu schwadronieren, Didaktiker eben, ein Irrweg der Evolution.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.09.2015 um 07.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=954#29889

In einem anderen Zusammenhang habe ich schon einmal einen Satz aus dem "Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen" zitiert:

Bei auditiven rezeptiven Aktivitäten (beim Hören) empfangen und verarbeiten Sprachverwendende als Hörer einen von einem oder mehreren Sprechern produzierten gesprochenen Input.

Er steht hier für Millionen vergleichbare. Die Frage, die mich seit meiner Schulzeit beschäftigt: Wie kommen Menschen dazu, einfache Dinge (hier: "Hörer hören, was Sprecher sprechen") in so komplizierte Phrasen zu verpacken, daß sie am Ende wohl selbst glauben, etwas Bedeutendes gesagt zu haben? Mit der eingeklammerten Rückübersetzung in Nomaldeutsch entlarven die Verfasser ihr eigenes Imponiergehabe.

Zum pseudowissenschaftlichen Glanz der Fremdwörter kommt noch die hochstaplerische Anlehnung an technische Modelle, als ob die Sprachwissenschaft schon imstande wäre, Sprache in Begriffen wie "Input" zu fassen.

(Die unaussprechlichen "Sprachverwendenden" kommen aus der feministischen Küche, werden aber durch die "Hörer" und "Sprecher" unterlaufen.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2015 um 06.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=954#29371

Noch einmal zu den Bildungsstandards Deutsch:

Die Schülerinnen und Schüler können anspruchsvolle Fachinhalte Verständnis fördernd referieren, auch unter Verwendung selbst verfasster stützender Texte.

Das ist grauenhaft, aber mir kommt es heute auf das Wort anspruchsvoll an.
Es ist eigentlich eine rechtes Bürokratenwort, von der Wortbildung her. In den Bildungsstandards gehört es zu den häufigsten überhaupt. Durch die Verwendung in der Produktwerbung (anspruchsvolles Business-Herrenhemd) ist es zusätzlich unbrauchbar geworden.

Ursprünglich sind Personen anspruchsvoll, dann auch Prüfungen und Aufgaben (es paßt also zu den "Herausforderungen" in der großsprecherischen Rhetorik unserer Tage). Dann wurden die Hemden, Armbanduhren, Füllfederhalter usw. anspruchsvoll, und wir mußten uns bang fragen, ob wir vor diesen Gegenständen bestehen könnten.

Anspruchsvoll bedeutet schwierig und eben auch unverständlich und ist daher ein Ideal jener Stillehre, die schon den Schülern Bildungssprache vermitteln will. Wie ich sehe, hat Reinhard Mey das Wort schon vor 30 Jahren in einem ebenso betitelten Lied verewigt:

Bei allem, wo keiner weiß, was es bedeuten soll
Sagen wir vorsichtshalber erst mal: „Das ist anspruchsvoll!“

 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 22.01.2008 um 18.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=954#11243

Vor einigen Jahren gab's eine lokale österreichische Diskussion zum Text der Bundeshymne. Speziell die Passage: "Heimat bist du großer Söhne" wurde von einigen als sexistisch, also absichtlich das weibliche Geschlecht erniedrigend, bekämpft. Die Diskussion ebbte zwar schnell wieder ab, da Frauen wie Männer fragten, ob man denn keine anderen Sorgen hätte.
Trotzdem eine kurze Reminiszenz. Damals wollte man neben anderen Änderungen:
"Heimat bist du großer Söhne" zu: "Heimat großer Töchter, Söhne"
umtexten.
Diese Änderung wäre orthographisch eine holprige Aufzählung, gesungen jedoch wäre daraus "Heimat großer Töchter Söhne" geworden, also ein Hinweis auf Söhne, die in diesem Fall von angeblich großen Töchtern abstammen, letztlich aber von Töchtern, die historisch niemand kennt. Ob das wirklich im Sinne der Betreiber(innen) gewesen wäre?
Auch der Begriff "Vaterland", der später im Originaltext noch vorkommt, sollte eliminiert werden, als ob Frauen keinen Vater hätten.
Diese Geschichte fiel mir ein, als ich im Beitrag die Formulierung von politisch korrekten (feministischen) Texten las.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2008 um 18.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=954#11242

Ja, die Kopfnoten! Die wurden zwar schon zu meiner Schulzeit nicht so tragisch genommen, aber richtig ist sicher der Gedanke, daß eine Schule, die neben Bildungs- auch Erziehungsziele hat, deren Erreichung auch überprüfen muß. Ohne Erfolgskontrolle kann man auch die Ziele gleich wieder einpacken, denn an wohlklingenden Phrasen ist ja kein Mangel. Nur daß die Lehrer, an deren Ausbildung ich ja mitwirke, in gar keiner Weise qualifiziert sind, Persönlichkeits- und allgemeine Verhaltensmerkmale der Schüler zu beurteilen, schon gar nicht bei diesen Massen. Außerdem würde das Urteil vor allem den häuslichen Verhältnissen gelten, und das kann es ja wohl nicht sein.
Ich selbst war und bin ein sehr unordentlicher Mensch und sowohl extrem faul als auch extrem fleißig, ein kreuzbraver Tunichtgut sozusagen. Mein Klassenlehrer nannte mich einen schlechten Schüler in Primusgestalt. Was soll man so einem ins Zeugnis schreiben?
 
 

Kommentar von AH, verfaßt am 22.01.2008 um 15.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=954#11240

Mit einem jedesmaligen Zusammenzucken zur Kenntnis zu nehmen war auch von Lehrern (mit durchschnittlich über 120 Schülern), daß in den per Kamera präsentierten Notentabellen (6 Noten x 120) bei den "gräulichen" Kopfnoten "Selbstständigkeit" erscheint, und so auch auf den Zeugnissen in NRW!
 
 

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