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08.03.2005
Menschen verachtend
Irgend jemand soll die Rechtschreibreform als „menschenverachtendes Massenexperiment“ bezeichnet haben.
Dagegen haben die Reformer scharf protestiert: es müsse „ein Menschen verachtendes Massenexperiment“ heißen – oder so ähnlich, vielleicht habe ich es nicht richtig verstanden.
In den „Stellungnahmen“ der Ratsmitglieder findet man folgende Auslassung eines der schärfsten Reformdurchsetzer:
„Sollte sich herausstellen, dass die neuen Getrennt- und Zusammenschreibungen auch nach endgültiger allein verbindlicher Einführung keine breite öffentliche Akzeptanz finden, müsste langfristig über einen neuen, grundlegend anderen Ansatz in diesem Bereich nachgedacht werden. Nach dem 1.8.2005 hat der Rat genügend Zeit, ggf. notwendige grundsätzlichere Korrekturen/Umarbeitungen vorzunehmen, die detailliert und ausgewogen mit aller ggf. hinzuziehbaren Sachkenntnis erarbeitet und überprüft werden sollten. Dies könnte auf der Basis von empirischer Beobachtung der Sprachentwicklung (...) geschehen. Auf diese Weise könnten auch langfristig tragbare und konsensstärkende Konzepte entwickelt werden.“
Das heißt: Während 12 Mill. Schüler noten- sowie versetzungsrelevant die „endgültig allein verbindlichen“ Neuschreibungen lernen müssen, wissen wir Reformer natürlich die ganze Zeit, daß das Ganze ein Humbug ist. Aber damit das Geschäft weitergeht (der Text ist von einem Wörterbuchverlag), setzen wir es erst einmal durch und besichtigen erst hinterher die Schäden. Dann könnten wir ggf. auch Sachkenntnis einsetzen. WIR haben ja viel Zeit!
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.04.2010 um 11.37 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=34#15963
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Für die Geschichte der Rechtschreibreform dürfte folgendes interessant sein:
Gesprächsnotiz:
Am 8.4.1997 gegen 21 Uhr rief mich der Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission für Rechtschreibung, Prof. Dr. Gerhard Augst, an und teilte mir mit, daß KMK-Präsident Prof. Wernstedt angeregt habe, mich sowie andere Kritiker der geplanten Rechtschreibreform zum Vortrag bei der genannten Kommission, eventuell im Rahmen eines Kolloquiums über bestimmte Reformkomplexe einzuladen.
Ich antwortete, daß mir eine konstruktive Mitarbeit an der Reform nur unter der Bedingung sinnvoll erscheine, daß
– die vorzeitige Einführung der Reform an den Schulen sofort gestoppt werde und die Kommission diese Notwendigkeit den Kultusministern nahelege und der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringe,
– die Diskussion vom Termindruck (Stichtag 1.8.1998) befreit werde und – dies ist das Wichtigste –
– die Vorgabe, am Regelwerk dürfe substantiell nichts geändert werden, aufgehoben werde.
Ich wies in einem anschließenden Geplänkel über den dritten Punkt noch darauf hin, daß einige Regeln auf dem Wege der Interpretation klargestellt werden könnten (z.B. § 34, besonders E1), andere hingegen nicht (z.B. § 36 mit seinen grammatisch fatalen Folgen).
Ich habe gegenüber Herrn Augst mehrfach hervorgehoben, daß ich durchaus zur Mitarbeit an der Bewältigung der Rechtschreibkrise bereit bin, jedoch nur unter den genannten Bedingungen, die mir nicht unbillig zu sein scheinen, da sie lediglich den Verzicht auf mutwillige und völlig unnötige Einschränkungen fordern.
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8.5.1997:
Sehr geehrter Herr Augst,
vielleicht habe ich – als Internetmuffel – etwas übersehen, aber mir scheint, daß die Öffentlichkeit viel zu wenig, ja eigentlich überhaupt nichts erfährt über die doch unmittelbar bevorstehenden Taten der Kommission, deren Vorsitzender Sie sind. Es war zu hören, daß eine Liste mit Klarstellungen herausgebracht werden soll, und auch von Zahlen wird gemunkelt: 1000 bis 2000 Zweifelsfälle, stimmt das? Allerdings soll sich das nur auf einen Vergleich zwischen Bertelsmann und Duden beziehen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich schreibe. Die anderen Wörterbücher dürfen ja nicht außer acht gelassen werden. Zum Beispiel kann ich den beiden genannten keine klare Auskunft zu einer Zweifelsfrage entnehmen, die mir kürzlich kam: Kann Attaché jetzt auch Attachee geschrieben werden? § 20 beschränkt die Schreibweise mit ee nicht ausdrücklich auf Neutra, der Hinweis auf Kaffee deutet – ebenso wie der Lamee im Wörterverzeichnis – im Gegenteil an, daß auch Maskulina betroffen sind. Das amtliche Wörterverzeichnis gibt von den Beispielwörtern aus § 20 den Abbé ohne Variante, den Lamé mit Variante Lamee und den Attaché überhaupt nicht. Duden und Bertelsmann haben nur die herkömmliche Form ohne Variante – aber ist das auch richtig? Das Buch von Eichler hat den Attachee. Ich will an diesem unscheinbaren Beispiel nur zeigen, daß die Klarstellungen sich nicht auf die beiden genannten Bücher beschränken dürfen, sonst geht es mit der Kritik gleich wieder los, und im neuen Schuljahr wird die Verwirrung an den Schulen noch größer, als sie schon ist.
Ähnliche Bedenken könnten sich an dem Wort weitgehend entzünden, und hier läßt sich auch gleich zeigen, daß besagte Verwirrung auch die erlauchtesten Geister ergriffen hat. So schreibt Herr Nerius in seinem Buch von 1996 systematisch weit gehend, aber weitergehend: eine weitergehende Normierung (8), diese Regelung mehr oder weniger weit gehend zu ändern (8f.), wenn es weit gehend orthographisch korrekt ist (14) usw. Bisher war es ja gerade umgekehrt, wenn man von der österreichischen Sonderregelung absieht. Ist das nun eigentlich richtig? Ich sehe Klarstellungsbedarf. Das Neriussche tiefgreifend kommt mir auch nicht ganz geheuer vor. Ich will Sie mit diesen Fragen natürlich nicht für eventuelle Irrtümer Ihres Kollegen verantwortlich machen, sondern erwähne dies nur, um auf eine objektive Schwierigkeit aufmerksam zu machen. Es ist ja üblich geworden, den Wörterbuchmachern alle Schuld an Widersprüchen und Unklarheiten zuzuschieben. Offenbar zu Unrecht.
Ich finde, die Kommission sollte ihre Geheimniskrämerei aufgeben und recht bald sagen, wie man sich die nächsten Schritte konkret vorzustellen hat. Die Öffentlichkeit, die Lehrer, die Wörterbuchkäufer haben ein Recht darauf. Ich selbst kann mir zum Beispiel beim besten Willen nicht vorstellen, wie die erforderlichen Klarstellungen möglich sein sollen, wenn man nicht zugleich das Regelwerk ändert (sogar "sehr tief greifend").
Mit freundlichen Grüßen
(Theodor Ickler)
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Nachdem Augst mich zu Gesprächen eingeladen hatte, die meine Bedingungen nicht erfüllten, sondern darauf hinausliefen, das Regelwerk zu retten, schlug ich einen anderen Ton an:
24.5.1997:
Sehr geehrter Herr Augst,
besten Dank für Ihre Einladung! Ich kann ihr aber nicht Folge leisten. Mit Wissenschaftlern, auch und gerade mit Ihnen, spreche ich sehr gern und ohne Vorbedingungen über Rechtschreibfragen, mit den Reformern allerdings nicht mehr. Dazu ist es einfach zu spät.
Durch meine Mitwirkung könnte außerdem bei den – ohnehin sehr schlecht beratenen – Kultusministern der irrige Eindruck entstehen, es sei alles auf dem besten Wege, wenn nun sogar die schärfsten Kritiker mithelfen, etwa noch vorhandene Kinderkrankheiten der Reform zu heilen. So ist es aber ganz und gar nicht.
Die Kommission ist in meinen Augen nicht arbeitsfähig, und der Gegenstand, den sie bearbeiten soll, ist irreparabel verunglückt. Meine Argumente kennen Sie, ich lege zu allem Überfluß noch einen neuen Aufsatz und eine Skizze bei, die neues Material enthalten. Weiteres ist in Vorbereitung, mein Buch dazu erscheint in ca. 3 Wochen.
Übrigens bestreite ich den Kultusministern überhaupt das Recht, der Bevölkerung mit Hilfe der Schule eine neue Rechtschreibung zu verpassen. Wenn wir erwachsenen Schreiber einmal der Meinung sein sollten, wir brauchten eine neue Rechtschreibung, dann werden wir uns eine schaffen, und dann mag die Schule nachziehen und sie den Kindern beibringen. Der umgekehrte Weg ist eine Verirrung. Bestimmt kennen Sie das von W. Kopke ans Licht gezogene Wort des Abgeordneten Stephani im Reichstag von 1880; es trifft genau meine Meinung.
Was Ihre Kommission zur Rettung des Unrettbaren zu tun gedenkt, interessiert mich überhaupt nicht. Nur einen einzigen Nutzen könnte sie noch stiften: das Ende dieses menschenverachtenden Massenexperiments verlangen und sich dann selbst auflösen.
Einstweilen warten wir auf die angekündigte Liste mit "Klarstellungen". Wir werden sie als Offenbarungseid ansehen und folglich auf rückhaltlose Vollständigkeit achten. Die Lehrer und Eltern, die Verlage, die Wörterbuchkäufer wollen endlich wissen, woran sie sind.
Mit freundlichen Grüßen
(Theodor Ickler)
Dies ist der Text, auf den Augst dann – zuerst im Rechtsausschuß des Bundestages – die Behauptung stützte, ich hätte die Rechtschreibreform mit den Nazigreueln auf eine Stufe gestellt. Das wiederholt er, wie wir gesehen haben, bis zum heutigen Tage.
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