zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Theodor Icklers Sprachtagebuch

Die neuesten Kommentare


Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag

Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben


24.12.2010
 

Nicht pornographisch
Anmerkung zur Literaturkritik

Der schwule Sex ist sehr geradeaus und unverklemmt inszeniert, ohne voyeuristisch zu sein. (abendblatt.de 23.12.10 über einen neuen Film von Tykwer)

Leider habe ich keine Sammlung angelegt, aber seit Jahren beobachte ich, daß Film- und Buchkritiker, nachdem sie über die sehr direkte Darstellung sexueller Handlungen berichtet haben, hinzufügen zu müssen glauben, es sei "weit von Pornographie entfernt" oder so ähnlich. Oder andersherum: "herrlich schamlos".
Besonders Reich-Ranicki muß immer wieder hervorheben, daß seine amerikanischen Lieblingsautoren zwar viele Sexszenen schildern, aber dabei keineswegs pornographisch wirken.

Mir kommt das verklemmt vor. Warum gibt man den Begriff der Pornographie nicht ganz auf? Der eine treibt dies, der andere das, und manche kaufen das Buch oder gehen in den Film, weil sie gewisse Feuchtgebiete oder schwulen Sex anregend finden, was denn sonst? Vor 50 Jahren gab es den sprichwörtlichen Studienrat, der sich "zu Studienzwecken" den Playboy kaufte. Irgendwie hat er überlebt. Unsere Sprache hat sich in diesem Bereich sehr verändert, manche haben es nicht mitgekriegt.



Diesen Beitrag drucken.

Kommentare zu »Nicht pornographisch«
Kommentar schreiben | älteste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 01.09.2015 um 10.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#29823

Diese Dummheit tritt auch in der feministischen Haltung zutage, die auf das Recht zu freizügiger weiblicher Kleidung pocht, selbst harmloseste männliche Reaktionen als Sexismus anprangert und zugleich von der Werbung Prüderie verlangt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.09.2015 um 06.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#29822

Mit einem Verbot von Hotpants war kürzlich bereits eine Schule aus Horb am Neckar in Baden-Württemberg in die Schlagzeilen geraten. In dieser Woche wurde bekannt, dass der Fall nun im Bonner Haus der Geschichte verewigt wird. Ausgestellt werden unter anderem ein Brief an die Eltern aus Horb und ein weißes T-Shirt, das unpassende Kleidung bedecken sollte. (Spiegel 28.8.15)

Das "Haus der Geschichte" macht sich lächerlich, indem es das Bestehen auf anständiger Schulkleidung lächerlich zu finden vorgibt. Es ist ja unmöglich, daß erwachsene Menschen nicht wissen, wie erregbar (und erregend) Jugendliche sind und wie schwer es auch ohne das ist, heutzutage Unterricht zu erteilen. Daraus überhaupt eine Schlagzeile und einen museumswürdigen "Fall" zu machen zeugt von außergewöhnlicher Dummheit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.07.2015 um 04.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#29389

In der FAZ hat eine gewisse Julia Bähr einen sehr dummen Artikel zum diesjährigen Streit um die sommerliche Kleidung von Schülerinnen veröffentlicht: www.faz.net
Leserbriefe haben schon das Nötige dazu gesagt. (In heißen Ländern tragen die Schülerinnen auch im Sommer Uniform, nämlich Rock und Bluse, das ist praktisch und sieht auch hübsch aus.)
Ich erwähne den lächerlichen Vorfall, weil er mich an die Gewohnheit verklemmter Literatur- und Filmkritiker erinnert, pornographische Produkte "nicht pornographisch" zu finden und damit durchblicken zu lassen, man sei da ganz anderes gewohnt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.04.2015 um 09.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#28740

Ich verschwand im Walde. Darüber haben nun schon Generationen sich lustig gemacht – was nicht hindert, daß deutsche Schriftsteller von Rang und Namen ganz ähnlich schreiben. Aber auch in der Huffington Post, die heute meinen pornographischen Grundbedarf deckt, findet man schöne Sätze: Ich stöhnte vor Leidenschaft. Das ist doch nett, daß die Verfasserin eines vorabgedruckten Romans nicht nur ihr Stöhnen berichtet, sondern auch mitten im Getümmel die überraschende Ursache nicht vergißt. Andererseits: Mit diesem einfachen Trick werden alte Brötchen sofort wieder knusprig und lecker. Ein informatives Blatt, muß ich öfter lesen...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.02.2014 um 05.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#25142

Viel Sex und doch kein Porno
(Handelsblatt 14.2.14 über den Film "Nymphomaniac" von Lars von Trier)
Die Kunstbeflissenheit der Kritik ist so groß, daß es auch beim besten Willen gar nicht mehr möglich ist, etwas Pornographisches hervorzubringen. (Warum hat der Film eigentlich einen englischen Titel? Ist das Phänomen auf deutsch so wenig nennbar wie Gender, Diversity usw.?)

Beim Morgenkaffee habe ich den Test der BILD absolviert, um festzustellen, ob ich sexsüchtig bin. Ich gebe zu, daß ich die Fragen nicht ehrlich beantwortet, sondern gewissermaßen einen Mann konstruiert habe, der es sich, nun ja, ein bißchen gemütlich machen will, dabei aber durchaus treu und zuverlässig ist. Das Ergebnis hat mich erschüttert:

Sie haben 3 von 12 Punkten erzielt!
Sexualität nimmt bei Ihnen möglicherweise einen zu hohen Stellenwert ein. Urteilen Sie ganz ehrlich, ob Sie sich nicht von einem Arzt oder Psychologen beraten lassen sollten.


Daraus schließe ich, daß man nur dann nicht behandlungsbedürftig ist, wenn Sex einem ungefähr so viel bedeutet wie Zähneputzen oder Staubsaugen. Ich kann nur jedem empfehlen, diesen Test auch einmal zu machen. Wir sind alle krank, aber zahlen es auch die Kassen? Da bleibt wohl noch viel zu tun.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.04.2013 um 06.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#23046

Odenwald-Schüler Cohn-Bendit hat jahrelang in verschiedenen Medien behauptet, er habe fünf- bis sechsjährige Kinder, die ihm anvertraut waren, sexuell mißbraucht. Heute sagt er mit nicht ganz eindeutigen Worten, diese Behauptungen seien nur eine angeberische Fiktion gewesen. Eine gewisse Thea Vogel hat noch 2011, dreißig Jahre nach den wirklichen oder vermeintlichen Taten, in einem offenen Brief gesagt, Cohn-Bendit habe ihren Sohn und andere Kinder nicht belästigt. Heute nimmt sie das zurück, ihr Sohn sei gar nicht von Cohn-Bendit betreut worden: Sie habe Cohn-Bendit seinerzeit aus politischen Gründen entlastet, sagte Frau Vogel weiter: „Ich war empört darüber, dass aus einem Buch, das er 1975 geschrieben hatte, 2001, also 26 Jahre nach seinem Erscheinen, eine Kampagne gegen Dany gemacht wurde, um ihn politisch zu diskreditieren.“ Sie hat also die Öffentlichkeit getäuscht.

Wenn der sexuelle Mißbrauch nicht stattgefunden hat, hätte Cohn-Bendit also den behaupteten Beitrag zur "sexuellen Befreiung des Kindes" gar nicht geleistet und seinen Genossen nur etwas vorgeflunkert. Hat er aber doch stattgefunden, dann fragt sich, wieso die Justiz nach den offenen Geständnissen nicht eingeschritten ist. Andere Politiker sind über belanglose Affären ohne strafrechtliche Relevanz gestürzt. Der Unterschied im Umgang mit solchen Sachen stimmt auffallend mit der Parteizugehörigkeit überein.

Verfassungsrichter Voßkuhle scheint rechtzeitig erkannt zu haben, wofür man ihn benutzen wollte. Es geht nicht um die vermeintliche demokratische Tugend des Verzeihens, wie Kretschmann fabuliert, sondern um Rechtsfragen, vor allem aber um Geschichtsfälschung und deren Aufklärung. Der falsche Zungenschlag in der Darstellung der "68er" sollte nicht alles beherrschen. Wir haben die Zeit doch auch erlebt (ich habe im roten Marburg sogar mal ein Flugblatt verfaßt und verteilt) und wissen, daß nicht alles so war wie heute behauptet.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 02.01.2011 um 13.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17671

"Warum gibt man den Begriff der Pornographie nicht ganz auf?"

Warum sollte man? Außerhalb der Kunstkritik läßt er an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, und besonders die junge Generation geht ständig ganz unverklemmt damit um. Verklemmt gibt sich nur das Feuilleton. Dort schließen Kunst und Pornographie einander ohne Rücksicht auf Realität und Kunstgeschichte noch immer aus. Die Wurzeln dieser Verlogenheit vermute ich in prüderen Zeiten, die Künstlern, Kritikern und Publikum noch Anlaß zur Komplizenschaft gaben. Man einigte sich darauf, daß etwa die Nacktheit mythischer oder allegorischer Gestalten nur deren tieferem Sinn diene, und konnte so in lustvoller Unschuld das Rubenssche Urteil des Paris oder die dicke Leda mit dem Schwan betrachten. Es brauchte sich auch niemand zu fragen, warum Delacroix seine Freiheit obenrum nicht warm angezogen hatte, bevor er sie auf die Barrikaden schickte.

Seit das pornographiebedürftige Publikum auf den Kunstbetrieb nicht mehr angewiesen ist, heucheln Kunst und Kritik allein weiter und entscheiden nun völlig losgelöst, was pornographisch sei oder nicht, künstlerisch bedeutsam oder nicht. Rainer Werner Fassbinder reagierte einst auf die Ermordung Hanns Martin Schleyers, indem er seinen Penis in die Kamera hielt. Dies wurde sogleich als „schonungslose physische und psychische Selbstentblößung" gerühmt ("Lexikon des internationalen Films“). Niemand fragte, was Fassbinders schwiemelige Nudel mit der RAF zu tun habe. Schade eigentlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.12.2010 um 06.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17641

Es sind auch schon Familienväter bei Paßkontrollen festgenommen worden, weil sich in ihrer Brieftasche das "Nacktfoto" eines Säuglings fand ... Sollte wider Erwarten irgendwo ein Kind auftauchen, tut man gut daran, eine strenge Miene aufzusetzen und wegzugucken.
Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kultur des Verdachts, die allmählich auch die Sprache schwer handhabbar macht.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 25.12.2010 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17640

Die Unterscheidung leuchtet ein; Umberto Eco hat in diesem Sinne einmal jedwede Darstellung eines Vorgangs, die ebensoviel Zeit in Anspruch nimmt wie der Vorgang selbst, als pornographisch bezeichnet. Die Definition hat nur einen Haken: Pornographie im herkömmlichen Sinne als solche zu identifizieren, setzt ebenfalls Phantasie voraus.

Dazu fällt mir ein Redaktionsphotograph ein, der auszog mit dem Auftrag, zur Bebilderung eines entsprechenden Gemeinderatsberichtes einen Kinderspielplatz abzulichten, aber nicht wieder zurückkehrte. Der arme Kerl hatte, wie es sich für die Zeitung gehört, darauf geachtet, daß auf den Bildern auch Menschen zu sehen waren. Das waren bei dem Motiv Spielplatz unvermeidlicherweise Kinder. Womit er nicht gerechnet hatte, waren die Passanten, die seinem Treiben zusahen und schließlich Verdacht schöpften, ihn ergriffen und zur nächsten Polizeiwache schleppten. Der aufgebrachten Menge glücklich entkommen, erging es ihm dort nicht viel besser. Immerhin gelang es ihm, einen Beamten dazu zu bewegen, bei der Redaktion anzurufen, die seine mutmaßliche faule Ausrede bestätigen könne. Trotzdem hatte der Chef noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten, bis der vermeintliche Kinderpornograph wieder auf freien Fuß kam.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 25.12.2010 um 14.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17639

Für Leute, die auf Pornographie stehen, ist der Begriff Pornographie ein Qualitätsmerkmal, welches bedeutet, daß im jeweiligen Material sexuelle Tätigkeiten und die damit verbundenen Körperregionen detailliert und in Großaufnahme zu sehen sind.
In der Kunst muß es dem Filmemacher gelingen, Bilder, die der Pornofilmer einfach detailliert zeigt, in der Phantasie des Betrachters entstehen zu lassen.
Jedenfalls meine ich, bei Aufgabe des Pornographiebegriffs wäre unsere Sprache ärmer.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.12.2010 um 07.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17638

Zur Heuchelei würde ich auch das unendliche Geschwätz über die angeblich so schwierige "Balance zwischen Nähe und Distanz" zählen, die von den Erziehern und Lehrern gefunden werden müsse.

Man sollte sich noch einmal anhören, was ein Betroffener in einem ausgezeichneten Interview erzählt, dann wird das feinsinnige Gerede sofort zuschanden:

Lebenslange Last – ein Missbrauchsopfer der Odenwaldschule berichtet. (NDR Info – Das Forum – 26.03.2010)
 
 

Kommentar von PL, verfaßt am 25.12.2010 um 00.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17637

Die Rechtschreibreform war und ist Pornographie. Obwohl: Ob wohl verstanden oder wohlverstanden, beides ist pfui!
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 24.12.2010 um 22.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17636

Unser Freund Tauss hat sich mit dem Thema Pornographie ja wissenschaftlich offenbar auch eindeutig mehr beschäftigt als mit seinem anderen Fachgebiet Rechtschreibreform. Ist ja, je nach Geschmack, viel anregender.

Fröhliche Weihnachten!
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 24.12.2010 um 20.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1386#17635

Diese Schutzbehauptungen machen sich den »Kunstvorbehalt« zu eigen, der »Kunst« davor schützt, offiziell als »Pornographie« deklariert zu werden – während man andererseits immer wieder aufs neue feiert, daß die Schranken zwischen E und U, Hoch- und Subkultur, Kunscht, Kitsch und Trash eingerissen werden.
 
 

nach oben


Ihr Kommentar: Sie können diesen Beitrag kommentieren. Füllen Sie dazu die mit * versehenen Felder aus und klicken Sie auf „Kommentar eintragen“.

Sie können in Ihrem Kommentar fett und/oder kursiv schreiben: [b]Kommentar[/b] ergibt Kommentar, [i]Kommentar[/i] ergibt Kommentar. Mit der Eingabetaste („Enter“) erzwingen Sie einen Zeilenumbruch. Ein doppelter Bindestrich (- -) wird in einen Gedankenstrich (–), ein doppeltes Komma (,,) bzw. ein doppelter Akut (´´) werden in typographische Anführungszeichen („ bzw. “) umgewandelt, ferner werden >> bzw. << durch die entsprechenden französischen Anführungszeichen » bzw. « ersetzt.

Bitte beziehen Sie sich nach Möglichkeit auf die Ausgangsmeldung.
Für sonstige Diskussionen steht Ihnen unser Diskussionsforum zur Verfügung.
* Ihr Name:
E-Mail:
(Wenn Sie eine E-Mail-Adresse angeben, wird diese angezeigt, damit andere mit Ihnen Kontakt aufnehmen können.)
* Kommentar:
* Spamschutz:   Hier bitte die Zahl einhundertvierundfünfzig (in Ziffern) eintragen.
 


Zurück zur vorherigen Seite | zur Tagebuchübersicht


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM