zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Theodor Icklers Sprachtagebuch

Die neuesten Kommentare


Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag

Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben


03.03.2011
 

Placebo
Die Macht der Sprache

Ein interessanter Fall:
"Entgegen der landläufigen Meinung ist der Placebo-Effekt keineswegs ein Synonym für Wirkungslosigkeit. Studien belegen verblüffende Effekte. Die Bundesärztekammer empfiehlt den verstärkten Einsatz von Schein-Medikamenten.
(...)
Wie aber verträgt sich der Einsatz von Scheinmedikamenten mit Ethik und Recht? Die neue Stellungnahme nennt zwei Bedingungen: Das Placebo muss dem Patienten mindestens genauso gut helfen wie die Standardtherapie und er muss über den Einsatz informiert werden – zumindest im Groben. Es sei beispielsweise zulässig, dass der Arzt von einer unspezifischen Therapie spreche, um den Begriff Placebo zu vermeiden, sagte Robert Jütte. Dem Arzt überlassen bleibt auch die Wahl des Placebos. Manche sprechen sich mit einem Apotheker im Ort ab." (FR 3.3.11)



Zunächst einmal: Placebo-Effekt ist keineswegs ein Synonym für Wirkungslosigkeit. Man braucht es ja bloß ins Deutsche zu übersetzen, um diesen Unsinn zu durchschauen. Und wenn Placebos nicht wirkten, gäbe es gar keine.
Interessant ist der moralische Eiertanz: Man soll den Patienten aufklären, aber nicht zu sehr. Daß es sich um ein Placebo handelt, also gerade den Hauptpunkt, darf er natürlich nicht erfahren.
Ich weiß, daß es manchen geht wie Niels Bohr, der auf die Frage einer Studentin, ob er etwa an das Hufeisen über seiner Tür glaube, antwortete: "Natürlich nicht, aber ich habe gehört, daß es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt."
Die Anekdote ist ja sehr bekannt, aber ist sie nicht immer noch eine der besten und tiefsinnigsten?



Diesen Beitrag drucken.

Kommentare zu »Placebo«
Kommentar schreiben | älteste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.01.2018 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#37542

Placebo-Therapie ist gerechtfertigt, weil es psychosomatische Krankheiten gibt. Ich kenne ehrenwerte Menschen, die auf Homöopathie, Klangschalen, Kristalle, Fengshui u. ä. schwören und sicher auch erfolgreich streßbedingte Spannungskopfschmerzen usw. damit behandeln. Entspannung ist ja immer gut.

Dazu kommt der Nocebo-Effekt, also der anderswo aus sprachlichen Gründen schon diskutierte "eingebildete Kranke". Vgl. die Übersicht:
https://de.wikipedia.org/wiki/Nocebo-Effekt
mit guten Beispielen.

In der Wirtschaft liest man oft, die Stimmung sei schlechter bzw. besser als die Lage. Das spielt auch in der Beurteilung der Politik eine große Rolle. Wer überzeugt ist, daß die Regierung schadet, findet täglich Bestätigung; umgekehrt der mit der rosigen Brille.

Das ist natürlich banal, aber weil man ständig bei sich selbst und bei anderen damit zu kämpfen hat, soll es doch mal gesagt werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.02.2017 um 05.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#34505

In der Politik ist es ähnlich: "Ich empöre mich über X, also muß X schlimm sein."

"Schäuble vergleicht Schulz mit Trump." Ein Skandal. Also ist es schlimm.
"Merkel telefoniert mit Trump (oder Putin)." Kein Skandal. Also ist es normal.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.02.2017 um 07.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#34481

Es wird darauf hingewiesen, daß "glutenfreie" Lebensmittel nicht unbedingt gut sind, außer eben für die wenigen Zöliakiekranken.

Die Wortbildung und die Tatsache, daß das Wort als Werbeaussage verwendet wird, wirken zusammen: Wenn damit geworben wird, muß Glutenfreiheit etwas Gutes sein, Gluten also etwas Schlechtes.

Es gibt viele ähnliche Fälle. Besonders beliebt ist der Trick, etwas als "frei von x" zu bezeichnen, wo sowieso kein x drin ist. Die Aussage ist unter allen Umständen wahr und kostet buchstäblich nichts.

Andererseits wundert man sich manchmal, was alles "Spuren von Nüssen" enthalten kann...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.10.2012 um 06.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#21722

Da Hildegard von Bingen nun Kirchenlehrerin ist, habe ich mal über ihre medizinischen Verdienste nachgelesen. Dabei bin ich auf den Industriezweig Hildegard-Medizin und Klostermedizin gestoßen. Das will ich hier nicht weiter kommentieren. Aber mir fiel wieder einmal auf, daß ich in all meiner Aufgeklärtheit keineswegs immun gegen die Macht der Sprache bin. Liest man so Starkes über die wohl- und wundertätige Wirkung von Dinkel, kann man sich der Suggestion kaum entziehen und ißt das nächste Dinkelbrötchen mit Andacht, ja geradezu mit dem beglückenden Gefühl, von Gesundheit gleichsam durchrieselt zu werden. In unserem Ferienort Juist sieht man Erwachsene, die mit ernster Miene aufbereitetes Meerwasser schlürfen usw. Sanddorn kann was Köstliches sein, aber warum auf die Haut schmieren? Der Inbegriff des Abscheulichen ist Fabrikzucker.

In den letzten Wochen mußte ich über den dauerhaften Rettungsschirm schmunzeln. Das Attribut gibt sich klassifizierend und ist doch bloß ein frommer Wunsch.

Im Begriff der jugendgefährdenden Schriften, Filme usw. steckt eine Behauptung, die aber nie verifiziert worden ist. Noch in meiner Jugend war man sich einig, daß der Anblick weiblicher Brüste die Jugend gefährdet. (In einer katholischen Broschüre wurde jungen Mädchen empfohlen, Bärlappsporen in die Badewanne zu streuen, damit ihnen der Anblick ihres eigenen Körpers erspart bliebe. Man kann sich denken, wer auf solche Ideen kommt.) Die Maßstäbe verschieben sich zwar, aber die versteckten Behauptungen bleiben in jedem Fall ohne Nachprüfung.

Heute hat die SZ wieder einmal einen Artikel über die Nutzlosigkeit der meisten "Vorsorgeuntersuchungen". Sehr treffend wird nacherzählt, wie die Medizin den Gesunden als Objekt ihrer Geschäfte entdeckte. Einen wesentlichen Anteil am Erfolg hat der wunderbare Begriff Vorsorge selbst. Er ist unwiderstehlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.09.2011 um 18.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#19214

Wohl richtig. Hinzu kommt, daß wegen der E-Mail immer weniger Briefe auszutragen sind. Irgendwann geht das nicht mehr. Man kann doch nicht täglich einen Briefträger durchs ganze Dorf jagen, nur damit er eine Handvoll Briefe verteilt! Ein Dorf, in dem außerdem, wie gesagt, laut Statistik rund 750 psychisch Kranke leben!
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 07.09.2011 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#19212

Vielleicht wollen Sie ihm aus Barmherzigkeit den Gedanken ersparen, daß er sich mit dem Zeug Tag für Tag umsonst abschleppt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.09.2011 um 13.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#19211

Wie irrational ich selbst mich verhalte! Wenn der Postbote mir ein paar Umschläge überreicht hat, die offensichtlich nur Werbematerial enthalten, scheue ich mich, sie vor seinen Augen in die Papiermülltonne zu werfen. Ich warte damit, bis er außer Sichtweite ist. Dabei ist es ihm doch gewiß egal, was ich mit dem Zeug mache, nachdem er seine Pflicht getan hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.09.2011 um 09.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#19209

WIR HANDELN GRUNDSÄTZLICH FAIR - das steht zusammen mit einem Siegel auf jedem Schokoladenstückchen der GEPA. Hier kann man es auch sehen:
http://www.gepa-shop.de/index.php/mID/1.4/lan/de

Man traut sich kaum hineinzubeißen, es hat durch die moralische Inschrift was von einer Hostie. Das ist auch der Grund, warum ich es erwähne: die Macht der Sprache ...

Aus einer Kundenbeurteilung: „Somit tut man auf jeden Fall etwas Gutes, wenn man diese Schokolade isst - nicht nur für den eigenen Genuß, sondern auch für die Kakaobauern, die auf diese Weise nicht von den großen Konzeren ausgesaugt werden.“

Übrigens ist die Schokolade sehr gut! Allerdings schmeckt sie im ersten Augenblick leicht nach der Papierhülle, das ist nicht die beste Lösung. Wer das vermeiden will, sollte den Inhalt kurz auslüften lassen.
 
 

Kommentar von Karl Hainbuch, verfaßt am 06.05.2011 um 06.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#18594

Ob man Placebo wohl mal Platzebo schreiben wird? Wie platzieren. Oder spatzieren gehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2011 um 12.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#18260

Auf einer Schachtel mit homöopathischer Salbe lese ich gerade eine sehr umfangreiche und wissenschaftlich aussehende Umschreibung der Tatsache, daß praktisch keine Wirkstoffe drin sind. (Apotheker verkaufen sie, ohne mit der Wimper zu zucken.)
Es gibt aber auch sonst viele Texte, die nicht anders zu beurteilen sind, auch sprachwissenschaftliche, natürlich Rahmenlehrpläne, geisteswissenschaftliche Manifeste oder eben Dissertationen ...
 
 

Kommentar von rjb, verfaßt am 04.03.2011 um 10.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#18259

Heutzutage erwartet man von einem Medikament ja auch eine eindrucksvolle Liste möglicher Nebenwirkungen. Sollte ein verschriebenes Medikament nebenwirkungsfrei sein, dann drängt sich somit der Verdacht auf, daß es ein Placebo ist. Zur Tarnung müßten dem Placebo also Nebenwirkungen angedichtet werden. Da würde es mich interessieren, ob Patienten auch für ein Placebo angegebene Nebenwirkungen entwickeln.
 
 

Kommentar von Thomas Frieling, verfaßt am 03.03.2011 um 12.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1423#18256

Ein Placebo darf meines Erachtens immer dann eingesetzt werden, wenn der Arzt zum Ergebnis gekommen ist, daß den Beschwerden keine ernste Krankheit zugrunde liegt. Dasselbe gilt natürlich auch für "Komplementärmedizin". In diesem Fall entfällt auch der ganze moralische Eiertanz. Es ist aus medizinischer Sicht keine Behandlung erforderlich, und es erfolgt auch keine.

Dann gilt nämlich der Satz:

"Gegen eingebildete Krankheiten helfen am besten eingebildete Therapien."

Dennoch würde ich es meinem Arzt in jedem Fall übelnehmen, wenn er mich veräppelt.
 
 

nach oben


Ihr Kommentar: Sie können diesen Beitrag kommentieren. Füllen Sie dazu die mit * versehenen Felder aus und klicken Sie auf „Kommentar eintragen“.

Sie können in Ihrem Kommentar fett und/oder kursiv schreiben: [b]Kommentar[/b] ergibt Kommentar, [i]Kommentar[/i] ergibt Kommentar. Mit der Eingabetaste („Enter“) erzwingen Sie einen Zeilenumbruch. Ein doppelter Bindestrich (- -) wird in einen Gedankenstrich (–), ein doppeltes Komma (,,) bzw. ein doppelter Akut (´´) werden in typographische Anführungszeichen („ bzw. “) umgewandelt, ferner werden >> bzw. << durch die entsprechenden französischen Anführungszeichen » bzw. « ersetzt.

Bitte beziehen Sie sich nach Möglichkeit auf die Ausgangsmeldung.
Für sonstige Diskussionen steht Ihnen unser Diskussionsforum zur Verfügung.
* Ihr Name:
E-Mail:
(Wenn Sie eine E-Mail-Adresse angeben, wird diese angezeigt, damit andere mit Ihnen Kontakt aufnehmen können.)
* Kommentar:
* Spamschutz:   Hier bitte die Zahl einhundertvierundfünfzig (in Ziffern) eintragen.
 


Zurück zur vorherigen Seite | zur Tagebuchübersicht


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM