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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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07.06.2016
 

stehen bleiben
Zur GZS bei Verben

Lektüre schützt vor Neuentdeckungen

„Im Allgemeinen wird angenommen, dass das Kopulaverb bleiben im Deutschen das Andauern eines Zustands denotiert, genauer gesagt, dass bleiben einen Zustand assertiert und einen identischen Vorzustand präsupponiert (voraussetzt). Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung, dass bleiben im Deutschen (und Niederländischen) aber nicht (nur) das Andauern eines Zustands zu denotieren scheint, sondern ambig ist, d.h. zwei verschiedene Lesarten hat. Diese Ambiguität besteht zum einen im Kontext von infiniten Positionsverben, wie unter (1) und (2)a),b), wo die beiden Lesarten durch den Kontext desambiguiert werden:

(1) Peter blieb stehen.
(2) a. Alle rannten los, nur Peter blieb stehen.
b. Nachdem er drei Stunden gerannt war, blieb Peter endlich stehen.

In (2)a) bezeichnet bleiben einen Zustand, nämlich den des Stehens von Peter, und dieser Zustand ist ein andauernder, d.h. Peter stand vorher, und er steht weiterhin. In (2)b) bezeichnet bleiben ebenfalls den Zustands des Stehens von Peter, aber es ist kein andauernder Zustand, denn unmittelbar zuvor rannte Peter. Die "reguläre" Lesart, nach der bleiben das Andauern eines Zustands bezeichnet, wird die REMAIN-Lesart von bleiben genannt. In der anderen Lesart scheint bleiben einen Zustandswechsel zu denotieren und damit äquivalent zuwerden zu sein. Deshalb wird diese Lesart als BECOME-Lesart bezeichnet.“

-
Das steht, ohne die tollen englischen Ausdrücke (in Versalien!), seit je in den Wörterbüchern und Grammatiken, so auch bei mir im „Kritischen Kommentar“:

„Die Reformer rühmen sich, eine alte Dudenspitzfindigkeit beseitigt zu haben, nämlich Unterscheidungen wie stehenbleiben und stehen bleiben (so Gallmann/Sitta 1996, S. 47). Es ist zuzugeben, daß die Erklärung dieses Unterschieds nicht immer überzeugend gelungen war; z. B. wird in Duden Bd. 9 wieder der übertragene Gebrauch mit dem eigentlichen, grammatischen Unterschied verwechselt und vermischt. Daß ein Druckfehler stehenbleibt und nicht wie ein Bote, der sich nicht setzen darf, stehen bleibt, ist nicht nachvollziehbar. Ihrem grammatischen Bau nach sind beide Wendungen identisch. Gallmann und Sitta übernehmen leider die Redeweise von „wörtlicher und übertragener Bedeutung“ (1996, S. 111). Der eigentliche Unterschied, der zwar nicht konsequent, aber doch tendentiell in der Schreibweise ausgedrückt wird, ist folgender: Wer stehenbleibt, kommt zum Stehen; wer dagegen stehen bleibt, steht weiterhin. Während ich an der Türklinke hängenbleibe, sagt man von einem Bild, daß es hängen bleibt, wo es hängt. Dies entspricht der unterschiedlichen Behandlung von Verbindungen des Verbs bleiben mit Adjektiven: Das Paradebeispiel der Reformer, übrig bleiben, wurde bisher zusammengeschrieben, weil es nicht heißt 'weiterhin übrig sein' – im Gegensatz zu gültig bleiben = 'weiterhin gültig sein'; bleiben hat also einen ähnlichen Status wie ein Kopulaverb (vgl. Eisenberg 1989, S. 94), und dies war der Grund der Getrenntschreibung. Anders gesagt: Das Kopulaverb bleiben hat eine durative Aktionsart und ergänzt sein und werden in ganz systematischer Weise. Dagegen hat bleiben in Kombination mit Verbzusätzen eine punktuelle Bedeutung; es ist daher auch mit Adverbien wie plötzlich kombinierbar: plötzlich hängenbleiben usw. Das vielzitierte Beispiel sitzenbleiben ('nicht versetzt werden') widerspricht dieser Deutung nicht: Während der Klassenverband unaufhörlich weiterrückt, kommt das Curriculum des Sitzenbleibers zu einem plötzlichen Halt. Bei jenem Mauerblümchen, das sitzenbleibt oder sitzen bleibt, während alle anderen unter die Haube kommen, kann man zu verschiedenen Schreibungen gelangen, je nach gewählter Bildlichkeit.“



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Kommentare zu »stehen bleiben«
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Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 29.09.2017 um 16.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#36374

SZ vom 26.9., Unterüberschrift:
In Frankreich macht sich die Regierung dafür stark, die Zugsparten von Alstom und Siemens zusammen zu legen.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.08.2016 um 03.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#33133

„Getrennt- oder Zusammenschreibung bei Verwendung in übertragener Bedeutung: Sie hat es bleiben lassen (seltener bleiben gelassen) oder bleibenlassen (seltener bleibengelassen). Bei Verwendung in konkreter Bedeutung muss getrennt geschrieben werden: Du kannst die Kinder ruhig noch ein bisschen bei uns bleiben lassen.“ (Duden)

"Unterlassen" ist gewiß eine besondere Bedeutung von bleiben lassen, aber ist es eine "übertragene"? Da könnte man lange grübeln. Ich glaube nicht, daß man so etwas regeln kann, ohne unzumutbaren Nachschlagebedarf zu erzeugen – der sich aber in keinem Fall lohnt, weil die Schreibweise keine nützliche Unterscheidung vermittelt.
Vgl. Wir können auch es bleibenlassen. – Wir können es auch bleiben lassen, wie es ist. Ob das nun richtig geschrieben ist?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.08.2016 um 06.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#33118

Unsere Zeitungen können bekanntlich nicht über die Rechtschreibreform berichten, ohne gleich ein Quiz anzuhängen, mit Abbildung des gelben Wörterbuchs zum Wohle des Verlags.

http://www.fnp.de/nachrichten/politik/Rechtschreib-Quiz-Wie-fit-sind-Sie;art673,2165566

Das bringt mich noch einmal auf von Eisenberg auch in die Neuregelung eingeführte Erfindung zur Getrennt- und Zusammenschreibung von Positionsverben mit bleiben usw. Man soll also tatsächlich an der Ampel stehen bleiben, wärend die Uhr stehenbleibt. Ebenso steckenbleiben (stocken) usw. – also jeweils der übertragene Gebrauch zusammengeschrieben.
Das ist übriggeblieben von dem "neuen Begriff", der angeblich entstanden ist. In Wirklichkeit ist auch das Stehenbleiben an der Ampel ein neuer Begriff, der sich aus der Bedeutung der Teile nicht erschließt. Man hat ja nicht gestanden und steht weiterhin, sondern kommt zum Stehen.
Aber natürlich ist es absurd, Metaphern wie bei der stehengebliebenen Uhr durch eine andere Schreibweise auszuzeichnen, und das wird ja auch gar nicht allgemein durchgeführt, sondern nur bei der GZS mit Verben.
Ein Prunkstück in jedem Quiz, eben weil es absurd ist.
("Was hat keine Beine und geht doch? Die Uhr!" – Strahlende Gesichter auf dem Kindergeburtstag und im Rat für deutsche Rechtschreibung...)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.07.2016 um 11.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#32883

Ab Freitag tritt das neue Hundegesetz in Kraft. Wer dann Bellos Haufen liegenlässt, muss mit 35 Euro Bußgeld rechnen. (Berliner Kurier)

Man könnte unterscheiden, daß Bello den Haufen liegenläßt, während sein Herrchen ihn liegen läßt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.07.2016 um 12.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#32877

Für die klare Unterscheidung von vollendeten und unvollendeten Handlungen ist es oft eindeutiger, den Infinitiv oder das Partizip Perfekt zu benutzen. Die finiten Formen des Präsens und Präteritums sind nicht eindeutig, wenn Verbstamm und Präfix in beiden Fällen getrennt geschrieben werden.
 
 

Kommentar von Uwe Haleksy, verfaßt am 19.07.2016 um 18.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#32869

Meine Goldene Regel ist folgende:
Wenn die beiden Wörter einen zu einem klaren Endzustand führenden Vorgang bezeichnen und durch ein EINZELNES anderes Tätigkeitswort ersetzt werden können, dann zusammen.
Beispiel:
zusammenstoßen (= kollidieren)
zusammen stoßen (= miteinander stoßen, z.B. ins selbe Horn)
stehenbleiben (= anhalten)
stehen bleiben (= im Zustand des Stehens verharren, sich also nicht setzen)
wiederkehren (= zurückkommen)
wieder kehren (= schon wieder Samstag und das Treppenhaus ist dreckig)

Kann das jemand bestätigen oder widerlegen?
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 11.07.2016 um 17.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#32813

Ich will mal ehrlich sein und zugeben, daß ich lange brauchte, um diesen Hinweisen hier wenigstens etwas zu folgen; und jetzt meine ich, daß ich ihnen sogar - etwas wenigstens - gefolgt bin. Aber, Mann, sobald diese Verben als finite Verben verwendet werden, hat ja keiner eine Schwierigkeit, und in den Perfektzeiten können wir Gott sei Dank etwas ohne ge- liegen lassen, welches ich beide Male so schreiben würde oder, wenn's mir weiterhin queer läge und ich mich nicht bei vielleicht was Falschem liegen geblieben sehen lassen möchte, dann doch wohl irgendwie umformen würde. Bei der normalen Aussprache von sowas hat mich noch keiner wissen lassen, daß er mich nicht richtig verstanden hätte. Aber vielleicht sind die Menschen nur zu höflich und bleiben bei mir stehen und laufen nicht gleich weg, wenn ich was auch mir sehr Kompliziertes sagen will. Ja, ich hab's erlebt, manche sind ja sogar stehengeblieben, weil ich etwas sagte. Was bewegte die wohl stehenzubleiben (mit Komma vor dem Infinitiv stehen hier oder ohne?) und stehen zu bleiben? (Wobei ich weiß, ich hätte dies nicht schreiben sollen.)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.07.2016 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#32811

"Sitzen machen!" sagt der Coca-Cola-Chef in dem Film "Eins Zwei Drei" von 1961 mit Horst Buchholz.

Nach meiner Meinung gibt es Zustandsverben und Vorgangsverben (vgl. Zustandspassiv und Vorgangspassiv.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 11.07.2016 um 10.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1653#32810

In Kurzform könnte man es vielleicht so ausdrücken:

stehen bleiben = "stehen sein"
stehenbleiben = "stehen werden"

ebenso mit lassen:

stehen lassen = "stehen sein machen"
stehenlassen = "stehen werden machen"

lassen ist also zwar keine Kopula wie bleiben, die GZS geht aber ganz analog.
 
 

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