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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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27.09.2006
 

Blankliegende Nerven
Eine Fallstudie – oder: Alles wird von Tag zu Tag einfacher und einfacher

Amtliches Wörterverzeichnis 2006:

blank [polieren, blankpolieren; putzen, blankputzen … § 34(2.1)]
blank [liegen, blankliegen [Nerven] § 34 E5]


Dies sind die angeführten Regeln, ergänzt um den Absatz (2.2), ohne den E5 nicht verständlich ist:

"§ 34 (2.1) Es kann zusammen- wie auch getrennt geschrieben werden, wenn ein einfaches Adjektiv eine Eigenschaft als Resultat des Verbalvorgangs bezeichnet (sog. resultative Prädikative), zum Beispiel:
blank putzen/blankputzen, glatt hobeln/glatthobeln, klein schneiden/kleinschneiden; kalt stellen/kaltstellen, kaputt machen/kaputtmachen, leer essen/leeressen
(2.2) Es wird zusammengeschrieben, wenn der adjektivische Bestandteil zusammen mit dem verbalen Bestandteil eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung bildet, die nicht auf der Basis der Bedeutungen der einzelnen Teile bestimmt werden kann, zum Beispiel:
krankschreiben, freisprechen, (sich) kranklachen; festnageln (= festlegen), heimlichtun (= geheimnisvoll tun), kaltstellen (= [politisch] ausschalten), kürzertreten (= sich einschränken), richtigstellen (= berichtigen), schwerfallen (= Mühe verursachen), heiligsprechen
E5: Lässt sich in einzelnen Fällen keine klare Entscheidung darüber treffen, ob eine idiomatisierte Gesamtbedeutung vorliegt, so bleibt es dem Schreibenden überlassen, getrennt oder zusammenzuschreiben."


Das amtliche Wörterverzeichnis verweist ausdrücklich auf E5, postuliert also, daß bei blank liegen der idiomatische Charakter nicht klar ist und daher beide Schreibweisen möglich sind.

Der Fall ist so kompliziert, daß der Duden einen eigenen Kasten dafür eingerichtet hat; er ist 2006 schon dreimal so groß wie 2004. Auch dort heißt es ausdrücklich: "die Nerven haben blank gelegen od. blankgelegen". Da hier von adjektivischem Gebrauch keine Rede sein kann, muß man tatsächlich annehmen, daß entgegen (2.2) die Zusammenschreibung nicht obligatorisch eintritt. Es ist schwer einzusehen, wieso gerade die blankliegenden Nerven (außer im anatomischen Grundkurs) nicht idiomatisch gebraucht sein sollten.

Es wird aber noch komplizierter. Man sollte meinen, daß Verben mit bloß- sich ebenso verhalten wie die mit blank-. In diesem Fall hält der Duden keinen Kasten für nötig, stellt aber ausdrücklich fest, daß bloß liegen und sich bloß strampeln nur getrennt geschrieben werden dürfen. So will es auch das amtliche Wörterverzeichnis:

bloß [legen, bloßlegen [Mauern] … § 34(2.1); liegen, bloßliegen [Nerven] … § 34 E5; liegen
(unbedeckt), strampeln [sich] … § 34(2.3)]


Was zunächst das Bloßstrampeln betrifft, so sollte man meinen, daß es sich um eine mustergültige Resultativkonstruktion handelt, denn das Kind strampelt so lange, bis es bloß liegt. Der Verweis auf § 34 (2.3) hilft nicht weiter, denn dort steht nur:

"In den anderen Fällen wird getrennt geschrieben. Dazu zählen insbesondere Verbindungen mit morphologisch komplexen oder erweiterten Adjektiven, zum Beispiel:
bewusstlos schlagen, ultramarinblau streichen, ganz nahe kommen, dingfest machen, schachmatt setzen".


Die Beispiele sind alle nicht im entferntesten vergleichbar, bloß ist ja auch nicht morphologisch komplex (der Ausdruck kommt übrigens nur an dieser Stelle vor und wird leider nicht erklärt). Es kann sich also höchsten darum handeln, daß es ein "anderer Fall" ist, also nicht resultativ im Sinne von (2.1), aber gerade das leuchtet nicht ein.
Außerdem verschleiert der Dudeneintrag, was im amtlichen Wörterverzeichnis steht: daß nämlich bloß liegen im Gegensatz zu bloß legen nur getrennt geschrieben werden darf, falls es sich auf Drähte oder Mauern bezieht, also nichtidiomatisch gebraucht wird.
Des Rätsels Lösung findet sich in der dudeneigenen Regel K 56: "Ebenso gilt Getrenntschreibung bei intransitiven und reflexiven Verben." Diese Zusatzregel wird man im amtlichen Regelwerk so vergeblich suchen wie die Begriffe intransitiv und reflexiv. Sie kommen nur in einer nichtamtlichen "Handreichung" vor, die sich die Geschäftsführerin des Rechtschreibrates zusammen mit einigen Mitgliedern ausgedacht hat, ohne daß sie aber vom Rat insgesamt zur Kenntnis genommen oder gar ins Regelwerk aufgenommen worden wäre.
[Nachtrag: Hier hat mich mein Gedächtnis im Stich gelassen: In der Handreichung steht es auch nicht. Es muß im Hinterzimmer ausgebrütet worden sein.] Die Dudenredaktion scheint es aber trotz ihrer Mitwirkung an dieser Hintergrundaktivität nicht verstanden zu haben, denn im Kasten zu blank steht ausdrücklich, daß Drähte blank liegen oder blankliegen können, obwohl das Verb doch ebenso intransitiv ist wie bloß liegen.

In den bisherigen Versionen der Reform sah die Sache noch ganz anders aus:

2004: blank [polieren … § 34 E3(3); poliert … § 36 E1(1), adjektivisch auch blankpoliert … § 36 E2(2)]

1996: blank [polieren/poliert ...(*)] § 34 E3(3), § 36 E1(1.2)


Bei bloß wurde das Verzeichnis von 1996 (gleichlautend noch 2004) allerdings unverständlich:

bloß (nur) [liegen ... § 34 E3(2)] bloßliegen
bloßliegen (unbedeckt) ... § 34(2.2) bloß liegen


Sollte gemeint sein, daß durchgehend zusammengeschrieben wird außer wenn es sich um die Gradpartikel bloß = "nur" handelt?



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Kommentare zu »Blankliegende Nerven«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.09.2014 um 06.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#26655

Ich habe Prodikos erwähnt, den Begründer der Synonymik. Er war mit Sokrates befreundet, dessen Definitionsmethode er wohl beeinflußt hat und damit die Grundlage der ganzen Logik und die Sprachorientiertheit der Philosophie bis zum heutigen Tage. Platon behandelt ihn daher besser als die meisten anderen Sophisten und gehört ja auch einer anderen Generation an, ohne unmittelbare Konkurrenz.

Dazu eine hübsche Einzelheit. Prodikos legt ja auf genaue Bedeutungsunterscheidungen Wert. Im "Protogaras" läßt Platon ihn zusammen mit anderen Sophisten auftreten. Der Gastgeber hat eine Rumpelkammer leergeräumt, und darin sitzt Prodikos mit seinen Zuhörern. Sokrates berichtet:

„Wovon sie aber sprachen, konnte ich von draußen nicht vernehmen, wiewohl sehr begierig den Prodikos zu hören, denn gar weise und göttlich dünkt mich der Mann zu sein. Allein die Tiefe seiner Stimme verursachte in dem Gemach ein dumpfes Getöse, das alles Gesprochene unvernehmlich machte.“

Also durch die Eigenresonanz der Kammer verschwimmt ausgerechnet die Rede des auf Deutlichkeit versessenen Prodikos zu einem ununterscheidbaren Brei!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.07.2013 um 15.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#23560

heiligsprechen, heiliggesprochen schreiben die meisten Medien heute zusammen, Ausrutscher können als Versehen erklärt werden.

Die Getrenntschreibung (wegen -ig) war auch mal so ein Vorzeigeergebnis der Reform.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.09.2010 um 09.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#16809

In einem Forschungsmagazin aus Baden-Württemberg las ich:

Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass sich DNA-Sequenzen von Neandertaler und Homo sapiens schon vor etwa 500.000 Jahren auseinander entwickelt haben.

Das ist eine weiterer Fall von reformbedingter Irreführung.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 10.11.2006 um 09.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#6690

Wie der interessante Google-Befund beweist, kommt man hier mit Analogieschlüssen nicht weit. Von Fall zu Fall ist das Ergebnis verschieden. So unterscheidet sich bei der Steigerung von sexy das Verhältnis beim Komparativ (i/y = 30) und beim Superlativ (i/y = 1) um den Faktor 30. Wenn nicht einmal vom Komparativ auf den Superlativ geschlossen werden kann, dann natürlich auch nicht von der Pluralschreibung bei Baby auf die Schreibung der Steigerungsformen bei sexy oder umgekehrt. Man kann auch nicht einfach den Befund von Baby auf Lady oder Tory oder Community übertragen. Die stets individuellen Verhältnisse muß man einzeln eruieren. Man kann sich sonst täuschen, wie ich selbst bei Lady, wo ich wesentlich mehr Plural mit y erwartet hätte.

Solche Bereiche der Unsicherheit und des Übergangs gibt es überall in der Sprache, sogar in der Grammatik. In aller Regel ist es klar, was für eine Wortart vorliegt, oft jedoch auch nicht. Ich hatte neulich eine entsprechende Frage im Strang "Probleme mit der GZS" gestellt: Handelt es sich bei sauber machen eigentlich eindeutig um einen Verbzusatz vor dem Verb? Der Zweifel ging davon aus, daß es mir abwegig vorkommt, bei sauber sein von einem Verbzusatz zu sprechen.
Vergleiche:
Das ist Sauberkeit
Das ist sauber
Ich glaube, daß auch die Kategorie Verbzusatz unscharfe Ränder hat.

(Falls jemand dazu etwas sagen will, bitte im Strang "Probleme mit der GZS".)
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 09.11.2006 um 15.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#6687

"Gere sexier als Clooney" stand neulich mal im Internet. Hoppala! denke ich mir, da kann kein Profi am Werk gewesen sein, das ist ja halbes Englisch!

Beim zweiten Nachdenken fand ich die Steigerung des urdeutschen und nicht seltenen Wortes "sexy" subtrivial. Im Englischen ist es klar: sexy, sexier, sexiest. Im Deutschen ist das nicht klar. Steigert man wie im Englischen? Oder wie im Deutschen (sexy, sexyer, am sexysten)? Oder gemischt? Die Reformer wollten bekanntlich unseren Erstklässlern den originalsprachlichen Endungswechsel beim Wort "Baby" nicht zumuten; auch der echte Profi schreibt "Babys" (so Herr Wrase). Dementsprechend müßten analog auch hier Erstklässler und Profis "sexyer" und "am sexysten" schreiben. Aber tun sie das denn auch?

Fragen wir doch einfach mal Google ("Seiten auf Deutsch"): Dort finden sich 1480 "sexyer" und 44.300 "sexier". Die englische Steigerungsform ist also im Internet ganz deutlich häufiger als die nach deutschen Regeln gebildete. Beim Superlativ zeigt sich ein Patt: 12.500 "sexyste" und 12.500 "sexieste" (Als Suchstring wurde eine gebeugte Form gewählt, um englische Fundstellen auszuschließen).

Im Leipziger Wortschatz finden sich sehr wenige Belege, was zur Vorsicht bei der Interpretation gemahnt. Die wenigen Belege aber zeigen die gleiche Tendenz; beim Superlativ finden sich in Leipzig für die englische Form deutlich mehr Fundstellen als für die deutsch gebildete.

Was sagt denn der Profi dazu, Herr Wrase?

(Sinngemäß gleiche Google-Ergebnisse beim Wort "happy")
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 10.10.2006 um 19.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5828

Lieber Herr Wrase, bitte verzeihen Sie mir diese drastische Aussage, aber mir scheint, daß Sie genau der Sinnverfälschung auf den Leim gegangen sind, die ich im Kern anprangern will. Ich habe mich, wie gesagt, gar nicht so sehr an dem Komparativ gestört (der macht die Sache nur besonders augenfällig), sondern vielmehr an der Aussage an sich.

Sie haben recht, daß es bei der einer Beurteilung mittels richtig und falsch darum geht, ob eine vorgeschlagene Lösung zu einem vorgegebenen Kriterium paßt. Würde man mit einem bestimmten Vorgehen das Ziel verfehlen, wäre es falsch, so zu handeln. Solange die Zielstellung aber noch nicht feststeht, ist eine derartige Beurteilung nicht nur sinnlos, sondern sie führt in die Irre – denn sie suggeriert, daß diese Zielstellung schon feststünde.

Was ist denn das Ziel in dem konkreten Fall, welche Kriterien sind hier maßgeblich? Gibt es schon einen Konsens, welche Rahmenbedingungen bei der Annäherung der Türkei an die EU eingehalten werden sollen? Nein! Daher kann es keine richtige bzw. falsche Lösung geben, wie mit der Türkei zu verfahren ist, – und also auch keine „richtigere“ bzw. „falschere“.

Was Frau Merkel gesagt hat, betrifft in Wirklichkeit die Auswahl der Zielstellung – eben weil letztere noch nicht feststeht. Es ist ein Beitrag zur politischen Debatte und zudem eine reine Meinungsäußerung, weil sie die Kriterien, die sie erfüllt wissen will, nicht nennt. Indem sie aber – wie Sie herausstellten – diplomatisch geschickt von der „richtigeren“ Lösung spricht, unterstellt sie, daß die Kriterien, anhand derer die Situation zu beurteilen ist, schon feststünden, – was natürlich nur die Kriterien sein können, die sie für relevant hält; ein zugegebenermaßen nicht ungeschickter rhetorischer Kunstgriff, seine Meinung wenn schon nicht durchzusetzen, so doch mit einem gewissen Glaubwürdigkeitsvorschuß unters Volk zu bringen.

Kurz: Ihre Meinungsäußerung kommt als Tatsachendarstellung daher und beansprucht damit eine Gültigkeit, die fehl am Platze ist.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 10.10.2006 um 18.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5827

Zu Herrn Kukulies (#5789): Folgen Sie den Verweisen und sehen Sie selbst! Ja, dort steht ein „i“, wo ein „e“ hingehört. Das geht bestimmt auf das Konto der Nachrichtenagentur, die diesen Textteil verbreitet hat.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.10.2006 um 20.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5808

Merkel hat politisch korrekteres Deutsch gewählt

Lieber Herr Wagner,
ich schätze Ihre sprachliche und logische Sensibilität, aber ich habe auch Verständnis für Frau Merkels Wortwahl. Eine bessere Lösung wäre zweifellos das normalere Deutsch (schon wieder so ein Komparativ!), aber wie klingt es, wenn sie einfach von der besseren Lösung spricht? Ich finde, das klingt danach, daß die andere Lösung schlechter sei, nicht gut sei, schlecht sei. Wenn sie die Lösung richtiger nennt, ist die andere Lösung nicht notwendigerweise schlecht, sie paßt nur aus irgendeinem Grund nicht optimal zu einem Kriterium. Es klingt (meine ich) danach, daß beide Lösungen richtig seien, nur die eine sei noch richtiger als die andere. Das ist dimplomatisch geschickt ausgedrückt! So ähnlich (und so verlogen) wie die Rede davon, daß alle gleich seien (nur sind einiger "gleicher", das heißt eben doch anders).

Für einen logisch gestählten Denker ist die Komparation von richtig sicherlich unerträglich, aber der Lebens- und Sprachwirklichkeit, zum Beispiel diplomatischen Erfordernissen, wird sie sehr gut gerecht. Auch hier muß man von Schulmeisterei sprechen, wenn man den Komparativ richtiger als "falsch" bezeichnet. Wenn Sie richtige Lösung verstehen als "geeignete Lösung", dann können Sie richtig komparieren. Und so wird es auch gemacht. Das ist stilistisch nicht besser, aber falsch ist es nicht, es ist vielleicht sogar korrekter.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 07.10.2006 um 11.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5796

Schreibungen wie "glühend flüssig" sind semantisch wahrscheinlich nicht Kombinationen aus Bedingung und bedingter Eigenschaft, sondern kookurrente Eigenschaften. Die lexikographisch bereits eingebürtert Schreibung könnte daher ohne Not in die einer vermittelten Adposition "glühend-flüssig" (Tandemadjektiv) überführt werden, bevor jemand auf die Idee kommt, es als direkte Adposition (nicht nachmachen!) "glügendflüssig" zu schreiben.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.10.2006 um 19.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5793

"glühend flüssig" sehe ich als Verkürzung von "in glühendem Zustand flüssig", wenn das denn für Gestein überhaupt zutrifft. Für Eisen gilt das so allgemein nicht, es kann glühend fest oder flüssig sein. Wasser ist glühend gasförmig. Quecksilber ist kalt flüssig. Andere Metalle, z.B. Gold, glühen nicht, wenn sie flüssig werden. (Das gilt alles nur bei normalem Druck.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.10.2006 um 18.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5792

Lesefrüchtchen:

Im Duden Universalwörterbuch von 2001 steht:
"Magma, das; -s, Magmen [lat. magma < griech. mágma= geknetete Masse, Bodensatz] (Geol.): glühend flüssige Masse im od. aus dem Erdinnern, die beim Erkalten zu Gestein wird."

Wie ist dieses "glühend flüssig" eigentlich syntaktisch zu analyseren? Inzwischen soll ja eine neue Auflage herausgekommen sein. Sie müßte mehrere tausend Änderungen enthalten, aber wer will das alles noch nachprüfen?



In der Dudengrammatik § 1526 wird dargestellt, daß "folgend" als "Artikelwort" funktioniert. Daraus würde eigentlich die traditionelle Kleinschreibung folgen.



Wolfgang Gerke: Kapitalmarkt ohne Moral? Erlanger Universitätsreden 68/2006.
"Ludwig Ehrhardt"
"als Welt umspannender Zeitgeist"
"ein riesen Schafott"
(viele weitere Rechtschreibfehler)



Schlimmer als die Kongreßdokumentation "vernünftiger schreiben" (1973) ist das folgende Bändchen:

"Rechtschreibung – Müssen wir neu schreiben lernen?" Hg. von Wilhelm W. Hiestand. Weinheim/Basel:Beltz 1974.
Der ganze extrem ideologische Band ist in Kleinschreibung gehalten, auch Titel, Namen, Zitate sind umgesetzt, und außerdem in vereinfachter Fremdwortschreibung: emfase, foneme als teoretische konstrukte usw., mariateresianische schulreform, das ß ist völlig abgeschafft (Schweizer Schreibweise).
Keiner der Beiträger hat später diese Reformschreibung benutzt, obwohl es allen jederzeit freigestanden hätte.



„Großschreibung oder kleinschreibung? Meinungen zu einem umstrittenen Thema“, hg. von Alexander U. Martens. Schriftenreihe des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 1974. Lauter besonnene Betrachtungen von Siegfried Unseld, Ernst Klett, Reinhard Mohn u. a. Unseld erinnert daran, daß Brecht klein schrieb und groß drucken ließ, "weil er leicht gelesen werden wollte".
Alle Beiträger heben das Lesen hervor und plädieren für weniger strenge Benotung der Schreibleistung.

"Beim Setzen handelt es sich um eine Dienstleistung Weniger zugunsten vieler Leser." (Der Satz zeigt die jederzeit mögliche Vermeidung von Zweideutigkeit durch Großschreibung. Im alten Duden war das leider nicht so dargestellt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.10.2006 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5790

Logisierende Pedanten und "Sprachmeisterer" (E. Engel, den R. H. mit Grund hier angeführt hat), denken sich aus, was Komparativ ud Superlativ bedeuten könnten, und daran messen sie dann die wirkliche Sprache. In der Sprachgeschichte nachzusehen, welche Funktion diese Formen wirklich seit je hatten, das fällt ihnen nicht ein. Dadurch entgeht ihnen gerade das Beste. Das ist wie in der Synonymik. Synonyme, so sagen die Logizisten, sind vollkommen gleichbedeutende, in jedem Kontext austauschbare Wörter, und die gibt es nicht. Damit ist das hochinteressante Gebiet der distinktiven Synonymik zu Ende, bevor es richtig angefangen hat. In Wirklichkeit haben sich die Synonymiker von Prodikos über Girard bis in die kümmerliche Gegenwart stets mit den Unterschieden bedeutungsähnlicher Wörter beschäftigt, und der Ertrag war jederzeit bedeutend. Die Logizisten haben mit ihrer unrealistischen Forderung nur lähmend gewirkt. Die ganze Landschaft war so verödet, daß der Synonymduden in den sechziger Jahren ein Flop war und eingestampft werden mußte. Die kumulativen Synonymiken dagegen verkaufen sich bestens, obwohl sie wenig nützlich sind und vom Verlag fast keine Arbeit erfordern.

Diese ganze schulmeisterliche Auffassung macht erst die Erfolge solcher bornierten Sprachkritiker wie Sick möglich (und jetzt den SPIEGEL-Artikel über die angebliche Verlotterung des Deutschen).
 
 

Kommentar von Christoph Kukulies, verfaßt am 06.10.2006 um 16.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5789

Herr Wagner, wurde tatsächlich in beiden Fällen "priviligiert" geschrieben? Wieder so eine schleichende Anglisierung der Orthographie.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.10.2006 um 13.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5786

Nach dem Unglück mit dem Transrapid verlautete aus dem Verkehrsministerium aus Hannover, das Sicherheitskonzept müsse "weiter optimiert" werden. - Also: optimiert war es. Da werden sich die Toten und ihre Hinterbliebenen aber freuen.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.10.2006 um 13.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5784

Die folgenden Beispiele gehören nicht nur in die Rubrik „Deutsch für Besserwisser“, da es um eine falsche Verwendung von Begriffen geht, und zwar in einem Bereich, in dem es auf den Unterschied zwischen Tatsachendarstellungen und Meinungsäußerungen ankommt (und darauf reagiere ich allergisch, vgl. hier):

»Zugleich bekräftigte Merkel am Freitag im ARD-"Morgenmagazin", dass ihre Partei eine "priviligierte Partnerschaft" mit der Türkei nach wie vor für die "richtigere" Lösung halte als eine EU-Vollmitgliedschaft des Landes.«
(Fulda-Info)

»Gegenüber der ARD äußerte sie zwar, dass ihre Partei eine „priviligierte Partnerschaft“ mit der Türkei nach wie vor für die „richtigere“ Lösung halte als eine EU-Vollmitgliedschaft des Landes, [...]«
(Focus online)

Das Problem liegt hier nicht in der Komparationsform, sondern in der falschen (!) Verwendung von richtig und falsch, denn gemeint sind gut und schlecht. Richtig hätte es einfach bessere Lösung heißen müssen.
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 06.10.2006 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5782

| Integration (zum Beispiel von Menschen oder Wörtern) ist naturgemäß
| ein Prozeß, bei dem der Abschluß oder die Vollständigkeit zumeist in
| weiter Ferne liegt. Es ist deshalb ganz natürlich, daß man vollständig
| in diesem Zusammenhang steigern kann.

Ein wahrer Profi hätte das Wort "vollständig" wahrscheinlich nicht gesteigert. Nun sind wir aber – außer Profis – nebenher natürlich alle noch Menschen und als solche fehlbar.

Der eine steht mit einem Schmunzeln zu seinem Lapsus, der andere verteidigt seine Position, von der jeder außer ihm selbst weiß, daß sie schon verloren ist.

So sind die Menschen halt verschieden.

Gestern habe ich an Sie gedacht: In der Zeitung stand die Überschrift "Torys suchen neue Mitte".

Ich gestehe zu, daß ein Erstklässler den Satz wohl nicht verstanden hätte, wenn in ihm die Schreibung "Tories" vorgekommen wäre. Der deutsch gebildete Plural erleichtert sicherlich gerade dieser Lesergruppe den Zugang zu dem so betitelten Artikel.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.10.2006 um 08.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5781

Integration (zum Beispiel von Menschen oder Wörtern) ist naturgemäß ein Prozeß, bei dem der Abschluß oder die Vollständigkeit zumeist in weiter Ferne liegt. Es ist deshalb ganz natürlich, daß man vollständig in diesem Zusammenhang steigern kann. Und überhaupt: Wer ist perfekt? Was ist schon vollständig? Es geht nicht nur um Sprachqualität, sondern schon von der Sache her ist es abwegig, Vollständigkeit als Merkmal zu verstehen, das nur ganz oder gar nicht vorliegen kann. Google liefert zum Beispiel aufschlußreiche Mengen von Belegen für die Formulierung nicht ganz vollständig: ca. 70.000. Oder nehmen wir einfach das Wort unvollständig: Google beweist, daß Abweichungen von der Vollständigkeit recht häufig festgestellt werden. Das kann man sogar mit zwei n schreiben unnvollständig und erhält immer noch 179 Fundstellen. Für den Komparativ vollständigere Integration (410) gibt es mehr Belege als für den Ausdruck überzeugende Integration (231).

Wenn ich zehn Liter getankt habe, ist mein Tank voller als vorher, und so würde ich das auch ausdrücken. Aber vielleicht behauptet Herr Lachenmann, das sei schlechtes Deutsch?
 
 

Kommentar von R. H., verfaßt am 06.10.2006 um 01.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5777

"In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht [...]" (Schiller an Goethe, 1793)

"Erlauben wir den Regelschmieden nicht, den wirklich bedachtsamen Schreibern unnötige Fesseln anzulegen." (Eduard Engel, 1922)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.10.2006 um 20.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5776

Zur Pluralbildung bei Fremdwörtern möchte ich darauf hinweisen, daß es in der neuen französischen Rechtschreibung in Teil 6 heißt: Die "entliehenen Wörter" formen ihren Plural auf die gleiche Weise wie die französischen Wörter und werden akzentuiert gemäß den Regeln, die auf die französischen Wörter angewandt werden. Beispiele: des matchs, des miss, révolver. Begründung: Der reguläre Plural, der schon beim größten Teil der Frankophonen üblich ist, verstärkt die Integration der entliehenen Wörter; das Hinzufügen des Akzents erlaubt das Vermeiden von Ausspracheunsicherheiten.
 
 

Kommentar von WL, verfaßt am 04.10.2006 um 15.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5766

Sehr schön auch folgendes Zitat aus der Trauerrede eines leitenden Angestellten am Grabe seines Arbeitgebers:

»Er war ein großzügiger, für uns Mitarbeiter immer ein freundliches Wort übriger Prinzipal.«

Diese erschütternde Grabrede wäre sicherlich »zur vollsten Zufriedenheit« des Verstorbenen gewesen. Schwupps! hat man immer wieder allerlei Blüten, wenn man es mit der Sprachlogik nicht allzu genau nimmt. Und manch eine schleicht sich in den Sprachgebrauch selbst derer ein, die meinen gutes Deutsch zu schreiben und zu sprechen. Aber »allerbestes Deutsch« ist derlei und auch das steifbeinige Arbeitszeugnisdeutsch doch wohl kaum!
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 04.10.2006 um 14.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5765

„Apropos anders“

Wieso gibt es eigentlich die Alternativschreibungen „anders denkend“ und „andersdenkend“, jedoch ausschließlich die Schreibung „anders gesinnt“?

Aus den neuen Wörterbüchern Duden S. 182 und Wahrig S. 170 werde ich nicht so recht schlau, und auch die Regeln K 57 bis K 59 wollen mir nicht in den Kopf.

Meine Frage: Zu welcher Wortart gehört dieses „anders“ eigentlich. Ist es ein Adjektiv, ein Partizip oder doch was ganz andres?
 
 

Kommentar von nos, verfaßt am 04.10.2006 um 14.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5764

:-)
Ich sehe das nicht anders wie kratzbaum und auch nicht anderster als Herr Lachenmann.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 04.10.2006 um 13.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5763

Dazu auch ergänzend im DUDEN (Richtiges und gutes Deutsch): Vergleichsformen. Es geht, wie Herr Stiene richtig sagt, um den relativierenden Gebrauch. Daraus ergibt sich allerbestes Deutsch.
 
 

Kommentar von Heinz Erich Stiene, verfaßt am 04.10.2006 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5762

Liebe Freunde, sollte diese seltsame Diskussion über die Steigerbarkeit gewisser Adjektive nicht bald ein Ende finden? Noch am vergangenen Sonntag kam in meinem privaten Kreis die Sprache auf einen Lehrer, der einem gymnasialen Achtkläßler die Komparation „tödlich, tödlicher, am tödlichsten“ rot angestrichen hatte. Ich schüttelte den Kopf über diesen Naseweis und verwies darauf, daß der affektivische oder auch relativierende Gebrauch solcher Steigerungsformen ganz geläufig und keineswegs schlechter Stil sei: „Ein volles Glas kann man nicht voller machen.“ Schwupps, schon hat man einen Komparativ! Und wenn jemand eine Aufgabe „zur vollsten Zufriedenheit“ erledigt, hat man schwupps! noch einen Superlativ dazu. Eine Zahnpasta beschert garantiert „noch weißere Zähne“, und das womöglich am "schwärzesten Tag" ihres Benutzers. Die Liste ließe sich um viele Beispiele verlängern.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 04.10.2006 um 12.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5760

Bunte Reihe

unvollständig - vollständiger - am vollständigsten
 
 

Kommentar von WL, verfaßt am 04.10.2006 um 11.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5759

Lieber Kratzbaum, ich habe ja in keinster Weise etwas gegen schlechtes Deutsch, wenn es der Wahrheitsfindung dient!
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.10.2006 um 10.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5758

Ist die Steigerung von optimal wirklich optimal?
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 04.10.2006 um 10.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5757

Was heißt schon schlechtes Deutsch? (Noch ein Stümper)

Gut, lieber Herr Lachenmann, dann bitte ich um eine entsprechende Formulierung, die den "Widersinn" vermeidet. - ....hat man doch das Gefühl größerer Vollständigkeit... (R. Musil)
Und ein älterer Herr ist jünger als ein alter. - Wenn irgendwo, dann zeigt sich hier die Freiheit und Lebendigkeit der Sprache.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 04.10.2006 um 09.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5756

Es hat schon etwas Widersinniges, aber jeder versteht, was gemeint ist. Manchmal hilft schlechtes Deutsch zur besseren Verständigung. Die optimalste Ausdrucksweise jedenfalls ist das nicht.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 04.10.2006 um 09.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5755

Falsch ist richtig (Beckmesser?)

Das Wort "vollständig" zu steigern, ist kinderleicht. Die Frage ist, ob es sinnvollerweise gesteigert weren kann. Die Kritiker denken wohl so: vollständig ist schon das Maximum, darüberhinaus kann es nicht gehen. Aber so werden der Komparativ und auch der Superlativ nicht gebraucht. Vollständiger bedeutet gerade noch nicht vollständig, und am vollständigsten genauso. Mit diesen Formen werden einfach verschiedene Grade der Annäherung bezeichnet. "Am vollständigsten ist der Sachverhalt in diesem Werk dargestellt" - das versteht jeder, und es hat nichts Widersinniges, oder, meine Herren?
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 04.10.2006 um 09.39 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5754

Auch große Dichter und Denker schreiben gelegentlich schlechtes Deutsch.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.10.2006 um 01.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5752

Auch Herder und Göthe haben vollständig gesteigert, bis zum Superlativ. Alles Stümper!
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 04.10.2006 um 01.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5751

Mir ist das "vollständiger" auch gleich aufgefallen.

Einen bereits geschriebenen längeren Text zur Sache überlasse ich dem digitalen Nirwana, die diesbezüglichen Fronten sind ja mittlerweile klar.

Daß Google die diversen Fehlschreibungen der gut deutschen Wendung "ladies/ladys and/und gentlemen/-man" ganz erheblich seltener findet als die korrekte Schreibung, kann jeder selbst verifizieren, daß die Reformer die Wörter "Baby" und "Lady" als Fremdwörter bezeichnen und verwunderlicherweise unter dem Rubrum "Spezielle Laut-zu-Buchstaben-Zuordnungen in Fremdwörtern" die deutsche Trennung dieser Fremdwörter ausdrücklich anordnen, auch.

Ich selbst bleibe weiter ungebildet und verharre in der mir zugeschriebenen Unprofessionalität, mit der ich anderen meine vermeintliche Englischkenntnis aufs Butterbrot schmieren will.

Das Wort "vollständig" zu steigern, bringe ich allerdings nicht fertig. Dafür muß man wohl Lektor sein. Oder Beckmesser.
 
 

Kommentar von Kommune Nr. 4/2005, verfaßt am 03.10.2006 um 14.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5743

. . . in ihrer ängstlichen Bedachtnahme auf alle möglichen Stati quo . . .

Balduin Winter: Vom Klempner [Latein?] lernen (siehe hier).
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 03.10.2006 um 13.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5742

Zu Herrn Achenbach: Alles ist gut, solange einer nicht den Plural "Stati" bildet (vgl. auch das entsprechende Kapitel im Fachsprachenbuch von Th. Ickler).
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 03.10.2006 um 13.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5741

„vollständiger“? Aber, Herr Wrase!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.10.2006 um 09.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5737

Für mich ist immer der tatsächliche Brauch entscheidend. Nur als Ergänzung will ich darauf hinweisen, daß das englische Lallwort "Baby" international verbreitet und überall mehr oder weniger integriert worden ist. Von "Lady" kann man das nicht sagen; es ist zwar weithin bekannt, bleibt aber ein Bezeichnungsexotismus und dient keineswegs als gewöhnliches Appellativum. Meinem Eindruck nach sind weder die monophthongische Aussprache noch die Pluralschreibung "Ladys" im Deutschen hinreichend verbreitet.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 03.10.2006 um 07.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5735

Zuerst dachte ich, Herr Markner hat sie ja wohl nicht mehr alle: Seit wann werden "Baby" und "Lady" vom selben Sprecher beim Dipththong unterschiedlich ausgesprochen, was soll denn das? Aber sein Beleg hat mich belehrt: Da ist etwas dran. Das wäre also ein weiterer Hinweis darauf, daß "Baby" vollständiger im Deutschen angekommen ist als "Lady". Entsprechend werden bei Lady also relativ mehr Plurale auf ies geschrieben als bei Baby; meiner Meinung nach aber nicht in erster Linie wegen dieser Differenzen bei der Aussprache.

Bei meiner Google-Recherche zu "Ladies und Gentlemen" ergab sich mit Hilfe des zusätzlichen Prüfworts "möchte", das die Ergebnisse auf deutsche Texte beschränken sollte:
Ladies und Gentlemen: 1460
Ladys und Gentlemen: 360
Deswegen habe ich für diese spezielle Kombination, die Herr Markner angeführt hatte, die Pluralschreibung auf -ies als dominant bezeichnet und ihm insoweit zugestimmt. Aus dem Befund bei dieser Grußformel aber abzuleiten, die englische Pluralschreibung sei bei Lady grundsätzlich angemessen, ist natürlich methodisch indiskutabel.

Was ich sagen wollte: Trotz feiner Unterschiede im Grad der Eindeutschung bei Baby und Lady gibt es im Prinzip zwei Sorten von geübten Schreibern. Die einen schreiben beide (!) Plurale auf -ies, genauso schreiben sie Hobbies usw. Die anderen schreiben beide (!) Plurale auf -ys, genauso Hobbys usw. Profis zählen zu den letzteren, etwa erfahrene Journalisten und natürlich Lektoren. Die Profis sind keineswegs in der Mehrzahl. Aber wenn jemand Babies, Hobbies und grundsätzlich Ladies schreibt, hat das nun mal einen unprofessionellen Anstrich. Natürlich werden das nur die Profis so empfinden, also die allerwenigsten. Trotzdem kann man aus diesem Grund jedenfalls von der Pluralschreibung Babies abraten, wenn es um vorbildliche Rechtschreibung geht.

Womöglich ist der Fall Lady aber unklarer, noch weiter im Englischen angesiedelt, als ich gedacht hätte. Professor Ickler hat versucht, die allgemein üblichen Schreibweisen festzuhalten. Bei Baby verzeichnet er wie der Duden (1991) den Plural Babys, bei Lady verzeichnet er Ladies, während der Duden (1991) angibt: Ladys, auch Ladies. Wo sind bei Professor Ickler die Ladys geblieben?

Also, bei Lady räume ich das Feld und ordne die Pluralschreibung den Zweifelsfällen zu. Aber bei Baby sollte man sich schon überlegen, ob man nicht denselben Maßstab wie Professor Ickler wählen sollte: professionelle Texte. Dann wird man den Plural Babys schreiben und natürlich auch weiterempfehlen.

Gerade gestern wurde ich von einem Auftraggeber um Rat gebeten. Für ein Pharmaunternehmen waren Werbematerialien entwickelt worden, in denen mehrmals Babies vorkamen. Ich korrigierte jeweils mit der Anweisung Babys. Die Rückfrage: Ob das denn unbedingt sein müsse? Man habe nun schon in den dazugehörigen Anzeigen Babies geschrieben, die Anzeigen seien bereits veröffentlicht. Der Pharmakunde wolle nun keinen Bruch in der Schreibung.

Ich sagte: "Das macht überhaupt nichts aus. Die meisten schreiben Babies, nur wenige kennen das Problem überhaupt. Und der Kunde ist König: Wenn er Babies haben will, soll er Babies bekommen. Wenn ich grundsätzlich zu einer Schreibung raten soll, dann natürlich zu Babys, das ist die professionelle Schreibweise. Aber hier geht es darum, jemandem die Sorge zu nehmen, daß er sich blamieren könnte. Das ist nicht der Fall, die Mehrheit ist jedenfalls auf seiner Seite." Anmerkung: Es handelte sich um ein kleines Unternehmen. Wenn es ein großer Konzern gewesen wäre, hätte ich mit stärker für meine Babys eingesetzt, damit nicht irgendwann die Rückfrage aus den Tiefen des Konzerns kommt, was das für ein unfähiger Lektor gewesen sei, der den Fehler Babies nicht bemerkt habe.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 03.10.2006 um 06.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5733

Die Aussprache entwickelt sich unter ähnlichen Bedingungen wie die Rechtschreibung. Unbewußtes Leitbild ist jeweils die Unanstößigkeit und Unauffälligkeit. Was auffällig ist, bestimmt die sprachliche Umgebung. Wer Baby ohne Diphthong ausspricht, spricht ganz normal und setzt sich nicht dem unangenehmen Verdacht aus, im Englischen ein Versager zu sein. Leedi hingegen klingt heute schon ein bißchen peinlich, so wie Tschentelmän. Vor dreißig, vierzig Jahren war das noch anders, wie man alten Synchronisierungen ablauschen kann. Hier vollzieht sich eine Desintegration (die Baby nur noch nicht erfaßt hat); vergleichbare Tendenzen lassen sich auch in der Orthographie beobachten (vom Frisör über den Friseur zum Coiffeur). Reine Privat- und Geschmackssache ist das alles nicht.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 03.10.2006 um 01.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5731

Diese ganze Diskussion über Babys/Babies hat mit Rechtschreibung herzlich wenig zu tun. Wie man mit Fremdwörtern umgeht, ist ein Geschmacks- und Stilfrage. Das gilt für die Aussprache genauso wie für die Flexion und die Schreibung.
Wie man ausspricht, schreibt oder die Mehrzahl und den Genitiv bildet, hängt davon ab, ob man ein Fremdwort als völlig eingedeutscht empfindet oder nicht. Das sieht der eine so, der andere anders. Ich lasse mir da vom Duden keine Vorschriften machen. Ich schreibe e-mail und nicht E-Mail, weil ich das Wort als ein englisches empfinde und eine Übertragung deutscher Schreibgewohnheiten auf Wörter anderer Sprachen als unpassend empfinde.
Natürlich hängt der persönliche Geschmack davon ab, ob und wie gut man die jeweilige Ursprungssprache kennt. Die Mehrzahl "Ukasse", die in den Amtlichen Regeln angeführt wird, ist für mich völlig indiskutabel. Ich nehme es aber niemandem übel, wenn er nichts dabei findet. Da ich nichts über Bantusprachen weiß, spreche ich ohne Hemmungen von Zebras, nach dem Motto "was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß".
Heutzutage ist allerdings eine gewisse Kenntnis des Englischen ja wohl Mindestvoraussetzung für die "Halbbildung". Deshalb konzentriert sich ja auch die Diskussion auf englische Fremdwörter. Daher wird wohl in der Regel bei nicht völlig integrierten englischen Fremdwörtern die ursprüngliche Mehrzahlform auch im Deutschen benutzt, so bei "gentlemen". Es ist eine gewissermaßen zufällige Tatsache, daß englische und deutsche Pluralform von Baby und Lady phonetisch (fast) identisch sind. Nur dadurch entsteht der Eindruck, daß es sich um eine Frage der Rechtschreibung handele.
Mit welchem Recht kann man denn behaupten, daß die Schreibung "Babies" ein Fehler sei? Es trifft zu, daß mein Duden (von 1961) nur die Mehrzahlformen Babys/Ladys (dafür aber die Variante Partys/Parties) kennt. Aber war das damals oder gar heute wirklich der eindeutig überwiegende Schreibgebrauch? Derselbe Duden kennt ja auch die Schreibung "Kautsch", die mir in freier Wildbahn noch nie untergekommen ist. Damals wie heute hat der Duden nun einmal eindeutschende Schreibungen gefördert. Er sprach damals auch nur von "Beistrich" und von "Mittelwort".
Damals wie heute behauptet der Duden auch, "live" sei wie "leif" auszusprechen. Leider entspricht das tatsächlich der deutschen Sprachwirklichkeit, so zuwider mir das persönlich auch ist.
Wie man gechatted/gechattet schreibt, hängt vielleicht auch davon ab, wie man es ausspricht. Ich fühle mich jedenfalls nicht verpflichtet, die deutsche Auslautverhärtung auch auf Fremdwörter anzuwenden.
Der Duden wirft sich nun mal gern als Lehrmeister der deutschen Sprache auf. So behauptet er kategorisch, daß es nur "downgeloadet" heißen könne, nicht aber "gedownloaded", "gedownloadet" oder "downgeloaded". Woher weiß der Duden das wohl?
Die "Halbgebildeten" belehrt der Duden auch noch triumphierend, daß "Status" in der Mehrzahl "Status" mit langem u sei. Das erweckt bei mir langvergessene Erinnerungen an gymnasialen Lateinunterricht. Ich habe eine solche Aussprache aber außerhalb der Schule noch nie gehört. In der deutschen Sprachwirklichkeit vermeidet man in diesem Fall einfach die Pluralbildung.
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 02.10.2006 um 16.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5712

Etwa nach 1:56 Minuten spricht die Mutter den Satz:

" ... Eine normale Herzfrequenz beim Baby, beim frühgeborenen Baby ...

Sie spricht das Wort "Baby" als "Behbi" aus, also so, wie viele Deutsche englische Wörter aussprechen. Ich kenne viele Leute, die das Wort "Lady" sinngemäß genauso sprechen.

Wörter aus dem Englischen, bei denen der durchschnittliche Deutsche
versucht, die Originalaussprache nachzuahmen, also beispielsweise
ein geschriebenes a als e ausspricht, bezeichne ich als nach wie vor englische. Wörter aus dem Englischen hingegen, bei denen sich die deutsche Schreibung bereits geändert hat (das betrifft beispielsweise die Wörter "Keks", "Streik" und "Schal"), bezeichne ich als deutsche.

Die Aufgabe einer originalsprachlichen Diphthongierung allein würde ich noch nicht als "Eindeutschung" bezeichnen, zumal nicht bei einem Sprecher, von dem unbekannt ist, wie er das Englische spricht.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 02.10.2006 um 03.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5703

Sicher gibt es Leute, die im Deutschen Baby mit Diphthong sprechen. Es gibt ja auch Leute, die den kleinen Finger spreizen, wenn sie die Tasse heben. Alle mal genauer hinhören, bitte! Zum Beispiel hier bei einer Westdeutschen (dauert aber etwas, bis das Wort fällt).
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 02.10.2006 um 02.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5702

| Ich bleibe dabei: Der Apostroph beim Genitiv-s (Peter's Schwester,
| des Tisch's), die Pluralschreibung die Babies und die
| Perfektschreibung gehosted usw., das ist dieselbe Baustelle:
| Anfänger sehen die Endungen so geschrieben (im Englischen
| oder von aller Welt nachgeahmt) und können nicht erkennen,
| daß das englische Schreibweisen sind, die in deutschen
| Kontexten nichts verloren haben.

Die dargestellten Schreibungen habe ich zu einer Zeit verinnerlicht, da der Normalschreiber schlichtweg schrieb und sich nicht dauernd ängstlich und unsicher im Duden versicherte. Erst vor kurzem ist mir aufgefallen, daß bereits die 19., vorreformatorische Auflage des Dudens allein die Schreibung "Babys" zuließ, beim Wort "Party" aber sowohl den englischen wie auch den deutschen Plural. Wie bereits geschrieben, sind für mich beides englische Ausdrücke, deren Plural ich solange auf die englische Weise bilde, wie ich diese Begriffe im täglichen Sprachgebrauch englisch ausgesprochen erlebe. Es wäre interessant zu erfahren, worauf R.M. seine Behauptung stützt, die Begriffe "Ladies" und "Babies" würden unterschiedlich ausgesprochen (das eine englisch, das andere deutsch).

Das gleiche gilt für die Behauptung, die Schreibung "Ladies und Gentlemen" sei "dominant". Auch hier fehlt der Beleg; eine kurze Googelei ergibt das Gegenteil.

Vom sächsischen Genitiv habe ich nicht angefangen und auch nicht von deutsch-englischen Mischbegriffen. Man mag deren Ausbreitung beklagen, in eigenen Texten mag man sie zurückdrängen, gänzlich vermeiden kann man sie nicht. Im Gegensatz zur Pluralbildung von englischen Wörtern auf -s, die im Amtlichen Regelwerk in §21 ausdrücklich behandelt ist, wird der sächsische Genitiv lediglich angerissen ("Gelegentlicher Gebrauch zur Verdeutlichung der Grundform eines Namens" §97E) und deutsch-englische Mischwörter überhaupt nicht erwähnt. Die drei genannten Dinge gehören somit nicht zur gleichen Baustelle.

Ich habe hier einen Vorschlag gemacht, wie man als Altschreiber mit den Vorgaben der Rechtschreibreform umgehen könnte, wenn man seinen Text möglichst unverhunzt in einem Neuschreibmedium wiedersehen möchte.

Eigentlich habe ich gehofft, daß daraus eine Diskussion entsteht, an deren Ende ein umfangreicheres und verfeinertes Konzept steht. Bedauerlicherweise verliert sich der Diskurs nun in einem Seitenweg.

Hier geht es eigentlich um Rechtschreibreform, nicht um Anglizismen.

 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.10.2006 um 01.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5701

Lady und Baby werden in aller Regel gleich ausgesprochen, im Deutschen meistens mit weniger Diphthong als im Englischen oder auch ohne Diphthong, aber im Prinzip gleich. Das scheint mir so selbstverständlich, daß ich darauf verzichte, die Ausspracheangaben im Duden nachzuschlagen.

Falls es zu einem minimalen Prozentsatz Leute gibt, die die beiden Wörter verschieden aussprechen, wäre das noch kein Grund dafür, daß sich die Sprachgemeinschaft insgesamt entschieden hätte, die Plurale verschieden zu schreiben.

Eine leicht unterschiedliche Verteilung der Schreibungen (das heißt, ein etwas höherer Anteil der Pluralschreibung auf ies bei Lady) dürfte (wenn es ihn gibt) darauf zurückgehen, daß Lady, warum auch immer, noch etwas mehr als "englisch" empfunden wird im Vergleich zu Baby. Das könnte durchaus sein, denn während Baby nun wirklich von allen als selbstverständliche Bezeichnung für ein Neugeborenes verwendet wird (wer sagt schon Neugeborenes oder Kleinkind?), ist Lady eine stilistisch markierte Alternative neben Ausdrücken wie Dame oder Fräulein. Lady soll oft etwas spezifisch englisch Anmutendes transportieren, was sich darin ausdrücken könnte, daß man bei der Schreibung des Plurals nicht so bereitwillig eindeutscht wie bei Baby, Pony oder Hobby.

Die Aussage, im Deutschen werde der Plural einfach durch Anhängen von s gebildet, gilt natürlich nicht für jene Wörter, die ganz frisch im Deutschen auftauchen und/oder eine sehr englische Anmutung haben (was die Aussprache oder die Schreibweise betreffen kann). Das könnte etwa für das Wort Authority gelten, bei dem vermutlich die Plurale zunächst überwiegend auf -ies geschrieben werden. Das ist aber banal: Die Eindeutschung ist ein Prozeß; wie lang er dauert oder wie weit er abgeschlossen ist, hängt vom einzelnen Wort ab.

Zu Herrn Achenbach: Noch einmal, was sollen diese Einwände? Die Rede ist hier von Pluralen, die auf -s gebildet werden, nicht von anderen. Ich ging auf das Beispiel Babys ein, das von Herrn Gerdes verwendet worden war. Ich verstehe Ihren Einwand als Hinweis darauf, daß auch Sie bisher Babies geschrieben haben. Ich verbiete Ihnen das übrigens nicht.

Also, an alle Freunde von Babies: Überlegen Sie sich doch mal, was passiert wäre, wenn die Rechtschreibreform diesen verbreiteten Fehler (ich nenne das jetzt mal so) zur neuen Norm erhoben hätte oder wenn sie Babies als Variante zugelassen hätte. Sie können sicher sein, daß diese Maßnahme auf dieselbe ausdauernde Kritik gestoßen wäre wie das Ansinnen, die Apostrophschreibung jedenfalls bei Uschi's Blumenladen für korrekt zu erklären. Man wäre sehr schnell zu dem Ergebnis gekommen, daß das nichts bringt außer der Frage, wie man denn nun besser schreiben soll: die Babys oder die Babies? Und es hätte geheißen, wir hätten doch mit Babys keine Probleme gehabt (wobei das nicht stimmt, der Fehler Babies ist wie gesagt sehr häufig), man solle uns mit solchen überflüssigen Variantenangeboten verschonen. Man hätte gesagt, das Ansinnen der Reformer sei unter dem Strich einfach lächerlich und lästig.

Mein Eindruck ist folgender: Niemand hat sich als Leser an der Schreibweise die Babys, die Hobbys usw. gestört. Viele schrieben aber selbst die Babies, die Hobbies, weil sie das im Englischunterricht so gelernt haben und nie reflektiert haben, ob im Deutschen eigentlich dieselbe Schreibweise angebracht ist. Sie kamen gar nicht auf die Idee, daß es "auch" die Schreibweise die Babys gibt, obwohl sie sie tausendmal gelesen haben. So ist das eben: Gute Rechtschreibung ist unauffällig, auch tausend richtige Schreibungen hinterlassen beim Leser weniger Spuren als eine einzige Prüfung im Englischunterricht. Da kann dann der Hinweis, die Babies sei nicht die geeignete Schreibung im Deutschen, verblüffend oder vielleicht auch peinlich wirken. Etwas mehr Souveränität würde nicht schaden. Auf mich wirkt es nicht überzeugend, wenn alle möglichen "Argumente" gegen die Schreibweise die Babys vorgebracht werden; es hinterläßt bei mir den Eindruck, daß die Betreffenden sich nur noch nicht bewußt gemacht haben, wie die übliche Schreibung in professionellen Texten aussieht. Es ist die Babys. Das wird man ja noch feststellen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn mich jemand auf etwas Interessantes hinweist, was mir bisher noch nicht aufgefallen ist.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 01.10.2006 um 23.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5700

Die feine Unterscheidung zwischen Ladies und Babys ergibt sich aus der unterschiedlichen Aussprache, die wiederum ein wichtiges Indiz für die Integration dieser Wörter in die deutsche Sprache ist. Ähnlich liegt die Sache bei Streß und Business. Hier jedoch hat der Duden vereinheitlichen wollen. Man kann über feine Unterschiede eben auch mit der Walze drübergehen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 01.10.2006 um 21.23 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5698

Was ist denn die deutsche Mehrzahl von Gentleman? Gentlemans oder Gentlemänner? Wäre die Mehrzahl Gentlemen auch ein Ausweis von Halbbildung?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 01.10.2006 um 09.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5697

Ich bleibe dabei: Der Apostroph beim Genitiv-s (Peter's Schwester, des Tisch's), die Pluralschreibung die Babies und die Perfektschreibung gehosted usw., das ist dieselbe Baustelle: Anfänger sehen die Endungen so geschrieben (im Englischen oder von aller Welt nachgeahmt) und können nicht erkennen, daß das englische Schreibweisen sind, die in deutschen Kontexten nichts verloren haben. Manche wollen sogar Bildung demonstrieren, wenn sie so schreiben. ("Ich habe Englisch gelernt und weiß, wie man das schreibt!") Was die ganzen Einwände sollen mit sonstigen Sprachen und Pluralen, die gar nicht mit -s gebildet werden, ist mir nicht klar. Auch die feine Unterscheidung zwischen Ladies und Babys erschließt sich mir nicht. Bei der dominanten Schreibweise Ladies und Gentlemen spielt sicherlich eine Rolle, daß das fast identisch mit lLadies and Gentlemen, also mit einem englischen Textstück. Natürlich kann man Babies schreiben, wenn man das für besser hält. Ich habe nur darauf hingewiesen, daß das in guten Texten unüblich ist, ebenso wie die ähnlichen Fälle Genitiv und Perfekt in englischer Schreibung. Mir schien bei dem Entwurf von Herrn Gerdes das Mißverständnis vorzuliegen: "Die Reform hat Babys gefordert, also schreibe ich Babies, das ist gute alte Rechtschreibung."
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 01.10.2006 um 07.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5696

Ja, ich habe das auch aus dem Faksimile. Aber vielleicht ist auch noch eine andere Erklärung möglich. Es sind ja im eigentlichen Sinne keine Soli, wie sie etwa in einer Oper oder einem Instrumentalkonzert vorkommen. (Wir dürfen annehmen, daß J.S.B. sicher gut genug Italienisch konnte, um hier nicht einfach einen Grammatikfehler zu machen).
 
 

Kommentar von Martin Valeske, verfaßt am 01.10.2006 um 06.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5695

Wie ich meiner Faksimileausgabe der Violinsonaten entnehme, wiederholt J.S.Bach bei jeder seiner sechs Sonaten die Besetzungsangabe "a Violino Solo senza Baßo". Das weist wahrscheinlich darauf hin, daß die Soli zunächst als Einzelstücke entstanden sind und erst später zum kompletten sechsteiligen opus zusammengefaßt worden sind. Vielleicht läßt sich der Singular damit erklären.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 30.09.2006 um 20.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5693

Mal eine dumme Frage: Auf dem eigenhändig geschriebenen Titelblatt der sechs Sonaten und Partiten für Solovioline von J.S.Bach steht
"Sei Solo à Violino senza Basso accompagnato". - Warum nicht Soli?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 30.09.2006 um 18.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5692

Herr Schubert hat recht. Natürlich fallen Latein und Englisch nicht in die gleiche Klasse wie die Bantusprachen. Warum sollten sie?
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 30.09.2006 um 18.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5690

Und Sie sagen wohl auch "Kosmetikums" als Plural? Ist das vielleicht nicht Zeugnis von Halbbildung?

Es gibt deutsche Wörter, Lehnwörter und Fremdwörter. Bei den Fremdwörtern, die erkennbar aus einer anderen Sprache stammen, sollte man schon ein bißchen Bildung (und Achtung) demonstrieren, indem man zeigt, daß man die Sprache, derer man sich da bedient, auch ein wenig kennt.

Deshalb sagt man ja auch "Inuit" und nicht "Inuks". Und z. B. Lei und Bani für die rumänischen Scheidemünzen, und nicht Leus und Bans.

Zebra ist ein mittlerweile im Deutschen sehr gebräuchliches und bestens eingeführtes Wort für ein gestreiftes, pferdähnliches Tier, man kann sogar sagen, das eine und einzige Wort in der deutschen Sprache für selbiges – deshalb Zebras. Konferenz ist ebenfalls hier schon sehr heimisch, also nicht Konferenziä bzw. Conferentiae, sondern Konferenzen. Gleiches gilt für Frequenz, Potenz, Kultur usw. Antidiuretikum ist aber kein deutsches Wort, und Baby, Lady oder maybe ebenfalls nicht. Und genau da ziehe ich eben die Grenze, fertig ab.
 
 

Kommentar von Peter Schubert, verfaßt am 30.09.2006 um 14.31 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5683

Konsequente Pluralbildung nach der Ursprungssprache führt dazu, dass die über 3000 Sprachen der Welt in Sprachen erster und zweiter Klasse aufgeteilt werden. Wie heißt denn die Mehrzahl von "Zebra"? Das Wort stammt aus einer Bantusprache, die hier kaum einer kennt. Wie heißt die Mehrzahl von "Rouleau"? Laut Duden "Rouleaus", auf Französisch, einer Sprache, die hier immer weniger verstehen, "rouleaux". Nur bei Englisch, von dem jeder ein bisschen versteht (wenn man allerdings mal einen braucht, der wirklich gut Englisch kann, muss man ziemlich lange suchen), soll man den Plural nach der Ursprungssprache bilden? Wie lautet die Mehrzahl von "Solo"? Wenn es um Musik geht, wohl "Soli", wenn es ums Kartenspiel geht, besser "Solos".

Herr Wrase hat recht. Englische Pluralformen im deutschen Kontext verraten Halbbildung. Ein Plural-s ist, jedenfalls in Norddeutschland, bei vielen Wörtern gutes Deutsch.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 30.09.2006 um 13.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5682

"Chatten" hat nur im Deutschen die aufs Internet eingegrenzte Bedeutung, im Englischen nicht.

"Keks" = "Cakes" ist ein Pluralwort, genauso wie "Koks". Deshalb hängt das s schon dran. Der Singular von Keks müßte folglich "Kek" = "Cake" lauten. Den Singular von Koks gibt es schon, es ist der Spitzname einen dunklen Erfrischungsgetränks.

Vielleicht machen diese Beispiele deutlich, daß die Probleme, um die es hier geht, allesamt hausgemacht sind und durch stärkeres Interesse an der jeweiligen Ursprungssprache leicht hätten vermieden werden können.

Das allerdings paßt kaum zu dem banausenhaften und stets etwas dümmlichen deutschen Weltbürgergetue.

Leute wie Herr Gerdes zeigen ihren Fremdsprachenverstand durch richtige Anwendung der ursprünglichen Pluralform (Deklinationsformen sind eine andere Baustelle), solange erkennbar ist, daß das Wort kein deutsches ist. Bei "Fenster", "Ziegel", "Nase" usw. ist der fremdsprachliche Ursprung soweit verwischt, daß das Wort ganz wie ein deutsches behandelt werden kann.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 30.09.2006 um 13.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5681

Im Unterschied zu Lady wird Baby gewöhnlich (nicht nur von älteren Leuten) eingedeutscht ausgesprochen. (Wer zitathaft Baby zu seiner Liebsten sagt, wird hingegen die englische Aussprache nachahmen. Vgl. Ladies und (!) Gentlemen, nicht Ladys und Gentlemans.)
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 30.09.2006 um 11.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5679

|| Pluralformen englischer Wörter auf "y" schreibe ich meist
|| originalsprachlich, also auf -ies. "Des Babys wunder Po"
|| ist allerdings kein Plural und schreibt sich auch im
|| Englischen so (allerdings mit Apostroph).

| Lieber Herr Gerdes, bei dem Zitierten möchte ich
| widersprechen und Ihnen raten, Ihre Praxis zu überdenken
| (bzw. ich rate, diesem Ratschlag von Herrn Gerdes nicht
| zu folgen).

Das Überdenken ist durchaus mein Panier, das unreflektierte Übernehmen schlauer Vorschläge allerdings weniger. Man sieht das beispielsweise an meiner Schreibung des Deutschen. Obwohl sie bekanntlich volllogisch ist, habe ich die Rechtschreibreform nur überdacht, nicht aber übernommen.

| Es macht unprofessionellen Eindruck, wenn jemand die
| Schreibweise bei Flexionsendungen aus dem Englischen
| übernimmt.

Das ist von Fall zu Fall verschieden. Wenn man ein Wort komplett fremdsprachlich ausspricht (im Falle "Baby" oder "Lady" ist das so) wüßte ich nicht, was gegen einen englischen Plural spricht.

| Dazu gehört der Apostroph vor dem Genitiv-s. Er wird,
| im Deutschen angewandt, weithin als Deppen-Apostroph
| bezeichnet,

Das mag sein, es ist aber eine andere Baustelle. Wenn auch ich Ihnen etwas raten darf, möchte ich anregen, beim Thema zu bleiben. Wenn ich des weiteren Ihre Aufmerksamkeit auf meine obige Schreibung lenken darf, werden Sie feststellen, daß ich den Genitiv des Wortes „Baby“ ohne Apostroph geschrieben habe.

| Ein weiteres Beispiel für das ungeeignete Nachäffen
| von englischer Flexionsschreibung: ich habe gechatted.
| Dabei wäre das sogar mit der deutschen Aussprachen vereinbar
| (Auslautverhärtung, vgl. Rad). Aber es sieht einfach
| ungebildet aus.

Auch das ist eine andere Baustelle. Aber dennoch: Ich bin nicht der Auffassung, daß die Schreibung "gechatted" (oder "gechattet") deutschen Ausspracheregeln entspricht. Wäre das tatsächlich ein deutsches Wort, würde man wohl "getschättet" schreiben. Soweit sind wir aber noch nicht. Das Wort steckt auf halbem Weg zwischen Deutsch und Englisch; die Vorsilbe ist deutsch, der Stamm ist englisch. Ich würde das Wort mit t am Ende schreiben, zur deutschen Vorsilbe also eine deutsche Endung verwenden. Lieber wäre mir, wenn man das Wort ersetzen oder ganz eindeutschen könnte. Dafür habe ich aber keine gute Lösung auf der Pfanne. Abwarten geht aber nicht, man braucht das Wort ja.

| Die Schreibweise von Flexionsendungen nach deutscher Sitte
| und Lehre ist bis auf wenige Ausnahmen selbstverständlich
| und hat deshalb auch nichts mit der Reform zu tun.

Den von mir angesprochenen Fall hat die Reform allerdings direkt genannt und geregelt.

| Wenn, dann hätte die Reform ihrem Ziel gemäß, Anfängerfehler
| zur Norm zu machen, die Babies zulassen oder vorschreiben
| müssen. Das ist nicht geschehen.

Diesen Schluß halte ich für unverständlich. Wer (noch) kein Englisch kann, dürfte dennoch bereits mit dem Wort "Baby" in Berührung gekommen sein. Ohne Englischkenntnis bildet man als Deutscher den Plural des Wortes auf -s, wie es die Reform nun auch vorschreibt. Erst im Englischunterricht lernt man, daß die Engländer in diesem speziellen Fall den Plural etwas anders bilden als sonst.

Das Wort "Keks" ist ein deutsches geworden, und die Sprachgemeinschaft hat ihm einen deutschen Plural verpaßt, auch wenn sich der olle Hermann Bahlsen darob noch schüttelte (Für ihn war es selbstverständlich, daß der Plural des Wortes "Keks" "Keks" zu lauten habe). Das Wort "Baby" bleibt für mich erstmal ein englisches. Wie sollte man es auch deutsch schreiben mit seinem Zwielaut? "Bejibi"? "Behibi"? "Beibi" geht jedenfalls nicht. Manche älteren Leute sprechen das Wort deutsch aus (also "Bahbi"), ich glaube allerdings nicht, daß sich diese Aussprache durchsetzen ließe. Wenn das der Fall wäre, wäre als Wortende ein i zu erwägen, der Plural lautete dann natürlich sinnvollerweise "Babis".

Ich bin eigentlich nicht der Auffassung, daß ich mangelnde Bildung oder Professionalität damit demonstriere, daß ich ein klar englisches Wort im Plural auf englische Weise schreibe. Es ist Ihnen natürlich unbenommen, gegenteiliger Ansicht zu sein. Ich bitte dennoch um Verständnis, daß ich aus den dargestellten Grunden bei meiner bisherigen Schreibung bleibe.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 30.09.2006 um 08.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5678

Gut, aber auch Sie schreiben sicher "Topoi" und nicht "Toposse" als Plural von "Topos" – und "Lexika" statt "Lexikone". Und auch Sie trennen Wörter nach dem griechischen oder lateinischen Stamm.

Also – warum dies und dann nicht auch bei englischen Wörtern?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 30.09.2006 um 04.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5676

Pluralformen englischer Wörter auf "y" schreibe ich meist originalsprachlich, also auf -ies. "Des Babys wunder Po" ist allerdings kein Plural und schreibt sich auch im Englischen so (allerdings mit Apostroph).

Lieber Herr Gerdes, bei dem Zitierten möchte ich widersprechen und Ihnen raten, Ihre Praxis zu überdenken (bzw. ich rate, diesem Ratschlag von Herrn Gerdes nicht zu folgen).

Es macht unprofessionellen Eindruck, wenn jemand die Schreibweise bei Flexionsendungen aus dem Englischen übernimmt. Dazu gehört der Apostroph vor dem Genitiv-s. Er wird, im Deutschen angewandt, weithin als Deppen-Apostroph bezeichnet, das heißt von vielen auch so empfunden. Wir Deutschen hängen einfach ein s an das Wort, die Engländer (Amerikaner usw.) machen es anders.

Genau dasselbe gilt nun für das Plural-s. Wir Deutschen hängen einfach ein s an das Wort, die Engländer machen es bei baby anders. Das hängt übrigens damit zusammen, daß im Englischen im Fall von baby usw. sich auch die Aussprache ändert: Der i-Laut wird sehr, sehr lang im Plural. Dem würde die Schreibweise babys nicht so gut gerecht werden wie die Schreibweise babies; vgl. etwa den Namen Gladys. Diese extreme Dehnung des i-Lautes im Vergleich zum Singular findet im Deutschen nicht statt. Bei uns wird sowohl in der Aussprache als auch auch in der Schrift einfach ein s angehängt. Wenn man auch auch bei die Babys usw. so verfährt, ergibt sich außerdem eine schöne Regelmäßigkeit zur sonstigen Pluralschreibung (die Martinis usw.): s anhängen, sonst nichts.

Ein weiteres Beispiel für das ungeeignete Nachäffen von englischer Flexionsschreibung: ich habe gechatted. Dabei wäre das sogar mit der deutschen Aussprachen vereinbar (Auslautverhärtung, vgl. Rad). Aber es sieht einfach ungebildet aus.

Die Schreibweise von Flexionsendungen nach deutscher Sitte und Lehre ist bis auf wenige Ausnahmen selbstverständlich und hat deshalb auch nichts mit der Reform zu tun. Wenn, dann hätte die Reform ihrem Ziel gemäß, Anfängerfehler zur Norm zu machen, die Babies zulassen oder vorschreiben müssen. Das ist nicht geschehen.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 30.09.2006 um 00.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5675

Sie haben sich wohl gemerkt, daß Herr Ickler zu den Harry-Potter-Fans gehört (siehe hier), nicht wahr, Ballistol?
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 29.09.2006 um 19.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5672

Ja, Herr Wagner, das habe ich mir gedacht (ohne je einen Band gelesen zu haben).
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 29.09.2006 um 17.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5666

Eine Figur aus der Reihe der Harry-Potter-Geschichten, tauchte erstmalig im 5. Band auf (siehe hier).
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 29.09.2006 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5665

Wer ist Dolores Umbridge?
 
 

Kommentar von Martin Gerdes, verfaßt am 29.09.2006 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5664

| Ja, Lieber "S. L.", so ist es genau (gerade eben wieder
| erlebt auf der Elternbeiratssitzung), die Lehrer haben
| meist keine wirkliche Ahnung von der Problematik und
| eignen sich - zum Selbstschutz - die Slogans der
| Reformer an ...

| Die heutige Stellungnahme der Schulleitung zum Thema
| 'Umgang mit der Rechtschreibreform' bestand aus drei Sätzen:
| 1. Die Reform ist nicht so schlecht wie ihr Ruf.
| 2. Wir wenden sie an, weil wir es müssen und
| 3. (mal wieder) es betrifft ohnehin nur 2% des Wortschatzes.

Außerdem sollte mittlerweile bekannt sein, daß die Erde eine Scheibe ist.

So ein Lehrer hats nicht leicht in der heutigen Zeit, wenn er durchsetzen muß, was ihm eigentlich zuwider ist, er aber klare entsprechende Order hat. So mancher ist wohl gerade dieses Zwiespalts wegen so wenig enthusiastisch.

| Meine Nachfrage, was denn 'Reform anwenden' bedeuten würde,
| wurde mit dem Hinweis auf die Fachkonferenzen erledigt, die das ja
| regeln würden.

"Keine Antwort ist auch eine Antwort."

| Dummerweise steht man als Befürworter einer vernünftigen
| Schreibweise dann mit leeren Händen da. Rückkehr zur
| klassischen Schreibung oder Aufgabe des ss sind an diesen
| Stellen nicht diskutabel. Also müßte man stattdessen mit
| konkreten Handreichungen zur Bewältigung der aktuellen
| Situation aufwarten können.

Ich habe mir vor längerem mal vorgenommen, einen Text dazu zu schreiben, bisher ist nichts daraus geworden.

Fange ich also an und setze ich das lang Gehegte in die Tat um:

Ich schreibe alt und bleibe dabei. Möchte ich allerdings einen meiner Texte gedruckt sehen, ist beim ersten "daß" "Schluss"; die nächste Instanz -- und es gibt hier stets eine über mir, rastet ein oder aus und verhunzt mir meinen Text. Erfahrungsgemäß vermeidet man die schlimmsten Verhunzungen, so man selbst das Kernholz und Herzblut der bässten Rechtschreibreform aller Zeiten beherzigt.


1. Also: Heyse, auch wenn es "Weh tut".

Verschiedene Reformgegner sind sogar geneigt, Heyse zu akzeptieren (aus welchen Gründen auch immer). Ich finde die Regelung schlecht, weil sie auf halbem Wege stehenbleibt: Sie bringt die Nachteile der Änderung mit sich (sss und die durch die Änderung an sich verursachte Verunsicherung), aber keinen Vorteil. Ein Vorteil wäre gewesen, wenn man das ß gleich ganz abgeschafft hätte. Damit wäre -- bei gleichen Nachteilen -- ein Sonderbuchstabe weggefallen, der international in groBem Masse verhunzt wird, auch wäre es ein Schritt hin zu mehr Einheitlichkeit gewesen. Denn die Schweizer werden das ß nicht wieder einführen (die grossen Umlaute mögen die Schweizer übrigens auch nicht, aus letztlich gleichen Gründen).

Man kann als Rechtschreibsicherer problemlos zwischen der alten und der neuen s-Regel hin- und herschalten; spätestens beim nochmaligen, prüfenden Durchlesen stimmt die Richtung.

Wenn man Texte verkaufen will oder muß, kommt man heutzutage (Nein! Nicht: heut zu Tage) um Heyse nicht herum; es ist allerdings durchaus möglich, daß ein Text in alter Schreibung NUR mit Heyse bereits akzeptiert wird (Man muß in diesem Fall allerdings mit den Kotauwörtern aufpassen).


2. Getrennt- und Zusammenschreibung

Man halte sich als Schreibkundiger an sein Gefühl (und schreibe daher einigermaßen nach dem bisherigen Usus). Gerade die neueste Subrevision deckt auch amtlich viel vom früher Üblichen, bisher Verbotenen. Als Lernender hilft einem das Betonungskriterium mehr als die bisherigen "neuen Regeln"; die Trivialregel "zusammen, wenn resultativ" ist einfach und führt meist zu "zulässigen" Formen (und wenn nicht, dann zu gut leserlichen -- ist das nicht auch ein Ziel?). Zu kurzatmigen Kinderschreibungen wie "hier zu Lande" sind die bewährten Formen noch "zulässig", also kann und sollte man sie auch verwenden.


3. Kotauwörter

Die Kotauwörter teilen sich in fakultative und obligatorische. Bei den fakultativen kann man -- so man will -- problemlos die bewährten Formen wählen und spart damit beispielsweise das Anspucken des Zuhörers beim Wort "selbstständig". Auch die "neu geschaffene" Ausnahme "aufwändig" ist damit weg. Mich stören beim Lesen "Potenziale" etc. Auch die sind fakultativ und dürfen vollamtlich durch das "Potentiale" ersetzt werden. Jedes Kind weiß, daß es "Spagetti" nur in der Schule gibt, nicht aber im Supermarkt. Auch fast alle Grafen (außer den richtigen, also den Ädelmännern) entsorgt man so, die Demografen, die Stenografen und natürlich auch die Ortografen. All die darf man zu Graphen machen (oder sie so lassen), ohne daß man gleich zum Kinderverderber wird.

Von den obligatorischen Kotauwörtern kommt nur das Wort "Tipp" häufig vor, das allerdings wurde intensiv durchgesetzt (auch in Zusammensetzungen wie "Cashtipp" und "Beautytipp"). Wenn man es nicht vermeiden kann, kommt man bei diesem nicht um die amtskompatible Schreibung herum. Gämsen, Stängel und andere überschwängliche Dinge sind selten; wenn man nicht um sie herumschreiben kann, kann man die herkömmliche Schreibung durchaus probieren und hoffen, daß kein fortschrittlicher Mensch den Text liest und petzt. Beim "Platzieren" könnte man "placieren" schreiben; beim "Nummerieren" aber lassen die Reformer keinen Ausweg. Der Duden führt sogar die Schreibung "nummerisch" auf.

Pluralformen englischer Wörter auf "y" schreibe ich meist originalsprachlich, also auf -ies. "Des Babys wunder Po" ist allerdings kein Plural und schreibt sich auch im Englischen so (allerdings mit Apostroph).


4. Bei der Trennung

tut mir die Trennung von s-t oft nicht weh, wohl aber Trennungen, die der Neutrivialregel "Trenne stets s-t" zufolge zu Trennungen führen, die dem Aufbau leicht durchgliederbarer Wörter zuwiderlaufen, etwa die Trennung "Ins-tanz". Meines Erachtens muß man die morphologische Trennung von seltenen Fremdwörtern nicht beherrschen; ich lebe auch mit einem "Psy-chi-a-ter". Die Trennungen "Res-taurant" und "Dis-tanz" halte ich aber für fehlerhaft, wenngleich sie den amtlichen Segen genießen. Ich bin kein Schullehrer und komme daher nicht in die Verlegenheit. Ein "Dis-tanz" dürfte ich nicht als Fehler rechnen; anstreichen und als ungünstig markieren würde ich solche Trennungen wahrscheinlich doch.


5. Die Unmäßige -- äh -- unmäßige Großschreibung

kann man zurückdrängen. Allein durch vermehrte Zusammenschreibung (siehe oben) sind viele Lese Hindernisse weg. Bei der Großschreibung von Adjektiven in festen Ausdrücken habe ich mich nie schwergetan, ich habe diesbezüglich nie eine große Schwierigkeit gesehen. Die Reformer sind hier vom einen Extrem ins andere gefallen; erst sollte praktisch jede Großschreibung weg, jetzt soll man Ausdrücke am besten (Besten) gleich beim zweiten Vorkommen großschreiben. Man kann Auswüchse als Kenner der Regel sehr zurückdrängen. Das wäre etwas geworden! Wir sind Papst, und der Heilige Vater ist klein! Ansonsten ist Caesar zwar non ulta grammaticos, der Papst aber möglicherweise sub reformatoribus. Benedikt XVI selbst schreibt zwar alt, die Deutsche Bischofskonferenz aber transkribiert (Hoppala! Fehlt da nicht ein s?) seine Verlautbarungen in Erstklässlerische. Die Kumiko beunruhigt das aber nicht, das wächst sich aus: Der nächste deutsche Papst schreibt sicherlich Heyse.

Wendungen wie "bei Weitem" darf man auch lesefreundlicher "bei weitem" schreiben, also sollte man das auch tun. Ob man sich bei "im Allgemeinen" und "im Übrigen" eine kleine staatsbürgerliche Unbotmäßigkeit genehmigt, muß jeder selbst wissen. Das "daß" kommt wohl nicht zurück, das "Allgemeine" und das "Übrige" könnten in 20 Jahren wieder angemessen klein sein.

Pronomina und unbestimmte Zahlwörter darf man nach wie vor auch kleinschreiben. Man sollte es tun, sonst bekommt Manches zuviel Gewicht.

Superlative schreibe man nach neuer Regel übrigens _klein_, obwohl bekanntlich ein Artikel dazugehört und davorsteht. "Am Besten" ist also ein Fall für den Rotstift. Ganz generell lohnt sich, wenn man nach Artikeln nach dem Bezugswort sucht, bevor man andere Wortarten zum Substantiv adelt. Auch der Satz "Der kurze Rock gefällt mir besser als der Lange" ist trotz seiner Häufigkeit im wilden Internet in der Schule Rotstiftes würdig.


6. Setzt mehr Kommas!

Besonders beim Infinitiv, dem erweiterten, und auch beim und. Ich zimmere oft lange Sätze und stelle die übliche Satzkonstruktion auf den Kopf. Wenn ich ein solches Kunstwerk hinterher lese, fehlt mir oft eine kleine Pause. Und dort setze ich dann ein Komma, auch gegen die geschriebene, alte oder neue Regel. Lieber noch als ein Komma ist mir ein Gedankenstrich. Heutige Leute können oder wollen keine lange Sätze mehr lesen; ein Komma ist ein Trittstein, ein Gedankenstrich eine Parkbank -- also gönne ich meinem Leser gelegentlich mal ein Plätzchen zum Ausruhen in der Bleiwüste. Eigentlich hat ja die Mutter aller Agenturmeldungen, die dpa, gelobt, beim Kommaausrupfen nicht mitzumachen und jegliche Schulkommaregel links liegen zu lassen. Allein, man hat sich nicht daran gehalten. Logisch aber auch: Das Drücken der Kommataste kostet Zeit in den Redaktionsstuben und unterbleibt daher mehr als nur bisweilen. Und weil das ein schlechtes Gewissen verursacht, freut man sich über die selten vorkommende direkte Rede: Die kriegt nämlich nun ein Komma extra, nach seiner Erfinderin "Baudusch"-Komma genannt. "Da staunt der Laie!", denkt der Kenner. Das Baudusch-Komma kennen die Kinder (zumindest die, die lesen). In Kinderbüchern ist direkte Rede nämlich häufig.

Vor einigen Jahren hat die FAZ mal probiert, einen Mittelweg zu finden. Man hat versucht, die BRaZ (die bässte Rechtschreibreform aller Zeiten) zu entschärfen, vielleicht so, wie ich es oben versucht habe. Man kam zum Resultat, daß das für die Zeitung nicht funktioniert, die Hausorthographie wäre zu kompliziert geworden. Ich bin gespannt, wie der zweite derartige Versuch aussieht; ich rechne mit ihm zum Jahreswechsel.

Der obige Text ist ein erster Entwurf; einfach so heruntergeschrieben in der letzten halben Stunde. Vielleicht baut einer ihn noch aus, vielleicht baue ich ihn selbst noch aus. Eine Reihe von Anregungen dürfte er schon jetzt enthalten. Vollständig ist er sicher nicht.

PS: Hinweis am Rande: Der obige Text spiegelt die Auffassung seines Verfassers wider und kann ggf. unmarkierte ironische Bestandteile enthalten.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2006 um 16.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5663

Neulich bin ich bei einer Vortragsveranstaltung wieder einmal gefragt worden, was man denn nun tun solle, wenn man zum Beispiel als Lehrer dienstlich auf die Reformschreibung verpflichtet ist. Da ich von niemandem verlange, daß er sich zum Martyrium hergibt (bei Ministerinnen wie Dolores Umbridge keine abwegige Vorstellung), habe ich den üblichen Rat gegeben: ss und sonst nichts! Damit ist keine Hinnahme des ss verbunden, aber man kann es notgedrungen mitmachen, ohne in seiner Ehre allzu sehr verletzt zu sein. Den ganzen Rest kann man vergessen, und notfalls hilft der Hinweis, man habe weiter nichts verstanden. Schließlich noch: Es kann nicht sein, daß alle unsere bedeutenden Schiftsteller falsch schreiben.
Verachtenswert wird es erst, wenn man – es soll vorkommen – als Lehrer anfängt nachzuschlagen, wie denn nun "bloßlegen" ganz genau geschrieben werden muß, und dann die Schüler damit quält.

Nachtrag: Mir ist klar, daß mein Ratschlag mißverstanden werden könnte. Insbesondere könnte eine große Zeitung meinen, sie würde ihre Verachtung für die Kultusminister hinreichend zum Ausdruck bringen, wenn sie ss mitmachte und sonst nichts. Oh nein! Ihr Zeitungsleute seid nicht in der elenden Position von Lehrern, die sich von Frau Ministerin Umbridge abwatschen lassen müssen! Im Gegenteil, ihr seid es, die von Rechts wegen die Watschen auszuteilen haben.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 29.09.2006 um 16.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5661

Zur Erinnerung: Gegen das erstinstanzliche Urteil vom 9. Juni 2005 (siehe hier und dortige Kommentare) wurde am 13. September 2005 Berufung zugelassen (siehe hier), die Begründung dazu ist nach wie vor lesenswert (»Leitsatz: Herkömmliche Schreibweisen dürfen im Schulunterricht solange nicht als "falsch" bezeichnet werden, wie sich reformierte Schreibweisen nicht allgemein durchgesetzt haben.«); für Auszüge verweise ich auf einen Kommentar von Herrn Jochems (siehe hier).
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 29.09.2006 um 15.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5660

Auf jeden Fall ist in der Berufung der Schülerin Ahrens vor dem Verwaltungsgericht Hannover noch nicht entschieden. Bekanntlich hat das OVG in Lüneburg die Berufung zugelassen. Dies stellt einen wichtigen Etappensieg dar. Überhaupt kann man durchaus noch Hoffnung in die Rechtsprechung setzen, da ja weniger denn je eine allgemein verbindliche Orthographie praktiziert wird. Die Chance liegt im Chaos...
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 29.09.2006 um 12.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5658

Gerichte? Gibt es denn noch laufende Verfahren oder sind welche geplant? Und wenn ja, mit welchen Konsequenzen im Falle eines günstigen Ausgangs? Wissen Sie da von etwas?
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 29.09.2006 um 10.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5657

Ich denke auch, daß es nicht Aufgabe der Gegner und Kritiker sein kann, die schwer beschädigte deutsche Orthographie (=Sprache) in Ordnung zu bringen. Prof. Ickler und andere haben unermüdlich und mit hohem, selbstlosem Einsatz alle Widersprüche und Fehler des Machwerks aufgezeigt. Trotzdem ist der marode Zug immer weitergefahren, zwar bis zur Unkenntlichkeit entstellt, ratternd und rumpelnd - aber eben doch. Was bleibt uns zu tun? Wir können nur immer wieder das Nichtfunktionieren des Regelwerks anhand der täglich massenhaft ins Auge fallenden Fehler demonstrieren. Man darf annehmen, daß es noch eine große Zahl nicht gänzlich sprachamputierter Leute, auch und gerade in einflußreicher Position, gibt, denen der jetzige Zustand nicht gleichgültig sein kann. Die Erkenntnis, daß die deutsche Einheitsorthographie zerstört ist, dürfte weitverbreitet sein. Entscheidend wird sein, ob ein Weg von der Erkenntnis zum Handeln führen wird. - Und da sind ja auch noch die Gerichte...
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 29.09.2006 um 07.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5655

So wünschenswert das scheinen mag, es würde doch dahin führen, daß plötzlich RSR-Gegner an Lösungen arbeiten, die RSR erträglich zu machen. Es kann von Prof. Ickler kaum erwartet werden, daß ausgerechnet er jetzt noch die Herzlungenmaschine für die wandelnde Reformleiche bereitstellt.

Ich denke, daß man unsere Strategie als ein tätiges Mitansehen des großen Kollaps bezeichnen kann, der sich ohnehin schon abzeichnet. Durch Dokumentation und Information setzen wir überall kleine Keile, die sich ausdehnen und Brocken aus dem Fels sprengen. Wir leben jetzt orthographisch in Zeiten, die sich mit denen des ganz späten römischen Reichs vergleichen lassen. Gestern mußte ich die offizielle Internetseite einer Industriefirma lesen, auf der "wer" mit ä geschrieben war und viel ähnliches.

Aus dem Schutt heraus wird eine Rückbesinnung auf einstige Ordnung erfolgen.
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 29.09.2006 um 00.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5651

Ja, Lieber "S. L.", so ist es genau (gerade eben wieder erlebt auf der Elternbeiratssitzung), die Lehrer haben meist keine wirkliche Ahnung von der Problematik und eignen sich - zum Selbstschutz - die Slogans der Reformer an: "Nur 2% des Wortschatzes sind betroffen". Damit ist der Punkt letztlich als nicht diskussionswürdig, da quantitativ unerheblich, abgefertigt.
Die heutige Stellungnahme der Schulleitung zum Thema 'Umgang mit der Rechtschreibreform' bestand aus drei Sätzen: 1. Die Reform ist nicht so schlecht wie ihr Ruf. 2. Wir wenden sie an, weil wir es müssen und 3. (mal wieder) es betrifft ohnehin nur 2% des Wortschatzes.

Meine Nachfrage, was denn 'Reform anwenden' bedeuten würde, ob Wahrig oder Duden, welche Varianten zählen würden (nicht beim Korrigieren, da läßt man ohnehin alles zu und ist als Lehrer dankbar, daß man nicht so viel anstreichen muß, sondern beim Lehren, also was wird letztlich beigebracht), diese Nachfrage wurde mit dem Hinweis auf die Fachkonferenzen erledigt, die das ja regeln würden.

Die Problematik der Situation nach der letzten Änderung der Reform, die Abweichung der Wörterbücher, der Affront des Duden gegen Zehtmaier, nichts von diesen Dingen - so scheint mir - ist den Deutschlehrern bekannt und bewußt. Man macht halt irgendwie mit und glaubt, das war es jetzt wirklich.

Dummerweise steht man als Befürworter einer vernünftigen Schreibweise dann mit leeren Händen da. Rückkehr zur klassischen Schreibung oder Aufgabe des ss sind an diesen Stellen nicht diskutabel. Also müßte man stattdessen mit konkreten Handreichungen zur Bewältigung der aktuellen Situation aufwarten können.

Genau das war es, was ich in meinem ersten Beitrag hier als wünschenswert bezeichnen wollte. Die akribischen Analysen und Dokumentationen von Herrn Prof. Ickler sind zwar allesamt wertvoll und erhellend. Aber sie dienen letztlich nur der Bestätigung unserer Position, die wir ohnehin schon eingenommen haben.

Wieviel nützlicher wäre es, etwas in der Hand zu haben, das zu einer realistischen Auseinandersetzung mit den Mitmachern befähigte. Also eine Auseinandersetzung, die nicht an Maximalforderungen scheitert, sondern bei der sinnvolle Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie auch 'Reformmitmacher' unter Ausnutzung des Spielraums eine erträgliche Schreibweise anstreben können.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.09.2006 um 17.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5648

Auch schon oft besprochen, aber doch immer wieder für ein Kopfschütteln gut:

Duden 2006 führt als Varianten an: "zueinander passen" und "zueinanderpassen" und empfiehlt das zweite. Aber diese Frage stellt sich gar nicht, weil schon der ausdrücklich gesetzte unterschiedliche Akzent zeigt, daß es sich um verschiedene Ausdrücke und nicht um verschiedene Schreibweisen desselben Ausdrucks handelt. Ähnlich in sehr vielen Fällen. Im alten Duden war das noch richtiger dargestellt. Übrigens ist auch der ausschließlich angesetzte Anfangsakzent auf "zueinander" fragwürdig; der Haupteintrag "zueinander" ist richtigerweise mit Akzent auf der dritten Silbe versehen. Weder 1991 noch 2006 gab es einen Hauptakzent auf "zu-", der zwar möglich, aber doch eher markiert (emphatisch) ist. "Aneinander" ist ohnehin anders behandelt. In Wirklichkeit kommt es auf den zusätzlichen Betonungsgipfel auf dem Verb an. Darum war ja auch die zehn Jahre lang vorgeschriebene Getrenntschreibung so irreführend. So heißt es noch in der Dudengrammatik von 2005: "In den heutigen romanischen Sprachen haben sich der Gebrauch [der Pronomina] vor Substantiven und der selbstständige Gebrauch auseinander entwickelt." Gemeint war "auseinanderentwickelt", in verschiedene Richtungen. Das muß nun alles neu gedruckt werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.09.2006 um 17.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5647

Das neue Durcheinander bei der s-Schreibung, schon so oft diskutiert, ist in der Tat ein bißchen überraschend. Der Grundgedanke ist ja einfach darzustellen, und man versteht alles in drei Sekunden. Warum die Anwendung dann nicht klappen will, versteht man nur, wenn man die Störfaktoren hinzunimmt. Ich will sie nicht noch einmal nennen, wir wissen ja mittlerweile mehr als genug darüber. Es gibt kaum noch ein Buch, in dem nicht die früher beinahe unbekannte Verwechslung (in Büchern! nicht bei Erstkläßlern) ein paarmal vorkäme. Am renommierten Dornseiff in der Neuausgabe im hochangesehenen Verlag de Gruyter habe ich es ja schon gezeigt. In Kinderbüchern geht es drunter und drüber:
"Ich schrieb, das ich glaubte zu wissen, wo Christoph sei."
"Keiner denkt daran, das es Dinge gibt ..."
(Irina Korschunow: Die Sache mit Christoph. dtv 2001)
"Sie hatte dieses geheimnisvolle Funkeln in den Augen, dass die Männer verrückt machte." (Thomas Jeier: Hilferuf aus dem Internet. Arena Verlag Würzburg 2000)
Usw., ich habe längst aufgehört, Belege zu sammeln.

In Wirklichkeit muß man natürlich die traditionelle s-Schreibung nicht kennen, um die neue zu beherrschen, aber in manchen Handreichungen wird es so dargestellt, d. h. die Darstellung nimmt ausdrücklich Bezug auf das bisherige ß, das es nun zu ersetzen gelte.
 
 

Kommentar von Schubert, verfaßt am 28.09.2006 um 16.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5646

Lieber S.L.,

nein, diesen Zeichensalat gebe ich nicht ein. Lässt sich die Fundstelle leichter finden? Vielleicht können Sie den Inhalt sogar mit eigenen Worten wiedergeben.

P.S.: Wollen wir nicht lieber beim "Sie" bleiben? Wir kennen uns doch gar nicht.
 
 

Kommentar von S.L., verfaßt am 28.09.2006 um 16.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5643

Lieber Schubert,

bitte lies einmal hier.
 
 

Kommentar von Schubert, verfaßt am 28.09.2006 um 15.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5642

Zum Beitrag des Anonymus S.L. von 10.32 Uhr.

"Um die neue s-Schreibung anzuwenden, muß man wissen, wo vor der Reform ein ß stand."

Nein, muss man nicht. Man muss allerdings wissen, in welchem Stamm ein ß steht (er weißt die Wand) oder ein s steht (er weist den Weg). Das war vor der Reform genau so. Wenn es nur darum ginge, ss und ß zu unterscheiden, wäre die Differenzierung bei Adelung und Heyse gleichermaßen leicht.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.09.2006 um 15.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5641

Gestern...

sagte mein Lateinlehrer (jung, gebildet und "stockkonservativ"), als er ein Komma in Erwägung zog (Von Trauer bewegt[,] beschloß er...): "Jetzt ist ja alles egal. Am besten setzt der Schüler ans Ende seiner Klausur 20 Kommas und er Lehrer verteilt sie dann über den Text."
 
 

Kommentar von S. L., verfaßt am 28.09.2006 um 10.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5639

Lieber Herr Schardt,

viele Lehrer haben meiner Meinung nach von der Reform keine Ahnung und plappern als Untertanen nur das nach, was die Obrigkeit ihnen vorgibt. Wenn Sie einen Lehrer einmal auf Glatteis führen wollen, dann lassen Sie ihn doch einmal die neue s-Schreibung erklären.

Sie werden hören: "Nach kurzem Vokal steht ss, ist doch ganz einfach."

Natürlich stimmt das nicht ganz, denn Lisste, Kentniss und Kisste sind ja auch nach der Reform falsch.

Der AOL Verlag gibt auf www.neue-rechtschreibung.de (wohl unfreiwillig) zu:

"Nach kurzem Vokal immer ss statt ß: messen, Schloss, gerissen, Riss, küsst..."

Um die neue s-Schreibung anzuwenden, muß man also wissen, wo vor der Reform ein ß gestanden hat. Damit die die Neuregelung meiner Meinung nach nicht praktikabel.

Viele Grüße

S.L.
 
 

Kommentar von Yutaka Nakayama, verfaßt am 28.09.2006 um 08.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5633

Schon das Vorhandensein dieser Homepage ist konstruktiv, informativ und ermutigend.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.09.2006 um 05.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5631

Weniger Dampfablassen als Dokumentation, aber das lasse ich lieber auf sich beruhen.
Ja, so ähnlich rate ich persönlich manchen Lehrern, aber ich finde es noch zu früh, einen allgemeinen Rat zur glimpflichen Bewältigung der Lage zu erteilen. Lächerlich macht sich jemand sicher nicht, wenn er auf der klassischen Schreibweise beharrt, und wir rechnen ja noch mit Musterprozessen und Gerichtsurteilen. Immerhin hat ein Gericht schon festgestellt, daß die gegenwärtig gültige Schreibweise nicht mehr eindeutig zu ermitteln ist. Die Fehlerhaftigkeit der Wörterbücher wird nach und nach immer klarer herausgearbeitet (dazu demnächst noch mehr im Tagebuch). Niemand kennt sich mehr aus. In dieser Situation den Lehrern vorzugaukeln, es gebe einen leidlich gangbaren Weg der ehrenvollen Unterwerfung, halte ich, wie gesagt, nicht für richtig.
Lehrer, die einen Ausweg suchen, sollten sich an die zuständigen Kultusministerien wenden (und die Antworten hier mitteilen), nicht ausgerechnet an mich oder andere Reformkritiker. Warum sollten wir etwas Konstruktives gegen die mutwillige Destruktion setzen, die wir nicht verschuldet haben? Aber so geht es ja leider allzu oft: Die Regierenden richten einen Schaden an, und die Bürger in ihrem Verantwortungsgefühl reparieren die größten Schäden auf eigene Kosten. Eltern können davon ein besonderes Lied singen.
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 27.09.2006 um 21.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=641#5630

Lieber Herr Professor Ickler,
danke erst einmal für diesen und alle anderen Detailanalysen und Beiträge. Ich lese sie - wie auch einige Ihrer Bücher - immer mit großem Interesse.

In der letzten Zeit habe ich leider das Gefühl, daß die Tendenz dieser Homepage in Richtung Dampfablassen abdriftet, ohne daß dabei noch viel Konstruktives entspringt.

Ein konstruktiver Beitrag, den ich sehr begrüßen würde, wäre eine Handreichung für Schulen, wie man sich im aktuellen Chaos sinnvoll verhalten kann.
Als Elternbeirat z.B. kann ich in den Elternabenden zwar meine Meinung zum besten geben. Das ergibt dann auch mal eine kontroverse Diskussion (nicht mit den Eltern, die wollen nicht viel davon wissen, aber mit den Lehrern, die sich gerne die Slogans der Reformer aneignen), aber letztlich kommt nichts dabei heraus.
Denn meine Position ist nicht in realistische Handlungsanweisungen übersetzbar. Rückkehr zur klassischen Schreibung? Damit gibt man sich der Lächerlichkeit preis. Tolerierung der klassischen Schreibung? Ist eigentlich auch kein Thema, da die Schüler ja alle neu schreiben (oder es glauben). Also bliebe nur eine differenzierte Behandlung der Rechtschreibfragen unter Auswertung der letzten Ratskorrekturen und dessen, was Duden und Wahrig draus gemacht haben. Die ss-Frage müßte ausgeklammert bleiben, denn da sehe ich zur Zeit den allerwenigsten Änderungswillen.

Solch eine "differenzierte Behandlung" ist aber nicht dekbar, ohne daß sie in den Grundlagen und Details schriftlich fixiert ist. So eine Art "Mini-Ickler für Zwangsreformierte mit tendenzieller Einsicht".
Tenor dieses fiktiven Werks: "Schreibt das scharfe s wie ihr wollt, aber nutzt in allen anderen Fragen den Spielraum, den das Chaos ja bietet, und strebt die vernünftigst-möglichen Schreibweisen an. Dieses Buch gibt eine Handreichung dafür."

Aber vielleicht habe Sie ja so etwas bereits in Arbeit und ich renne offene Türen ein.
 
 

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